Der Kampf geht weiter
Widerstand gegen Mafia und Korruption. Mit e. Vorw. zur dt. Ausg.
Das neue Buch des Autors von "Gomorrha"!
Roberto Saviano zeichnet ein alarmierendes Bild seiner Heimat Italien. Er schildert Struktur und Geschichte der 'Ndrangheta, jener Mafia-Organisation, die sich auch in Deutschland ausgebreitet...
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Produktinformationen zu „Der Kampf geht weiter “
Das neue Buch des Autors von "Gomorrha"!
Roberto Saviano zeichnet ein alarmierendes Bild seiner Heimat Italien. Er schildert Struktur und Geschichte der 'Ndrangheta, jener Mafia-Organisation, die sich auch in Deutschland ausgebreitet hat. Saviano ruft zum Widerstand gegen Unrecht und Korruption auf.
Klappentext zu „Der Kampf geht weiter “
Der gefeierte Autor von "Gomorrha" zeichnet in seinem neuen Buch ein alarmierendes Bild seiner Heimat Italien. Er schildert Struktur und Geschichte der 'Ndrangheta, jener Organisation der Mafia, die sich auch in Deutschland ausgebreitet hat, er beschreibt das seit 16 Jahren andauernde Müllproblem in Neapel, und er berichtet, wie zeitgleich die politische Auseinandersetzung zur privaten Schlammschlacht verkommt. Solange der Rechtsstaat ausgehöhlt wird, wird sich die Kultur des Verbrechens immer weiter durchsetzen, beklagt Saviano. Er ruft zum Widerstand gegen Unrecht, Korruption und die Beschädigung der Demokratie auf. Mit diesem Buch ist Saviano zum Gewissen einer ganzen Nation geworden.
Lese-Probe zu „Der Kampf geht weiter “
Der Kampf geht weiter von Roberto SavianoVorwort zur deutschen Ausgabe
Wie könnte man Italien nicht lieben? [...1 Ich glaube, jeder Mensch hat mehr als nur eine Heimat; eine persönliche, ihm nähere, und noch eine: Italien.
Henryk Sienkiewicz
Italien, wo das Recht entstanden ist, zählt zu den unzivilisiertesten Ländern der Welt, da ihm jegliches Rechtsempfinden fehlt. Wer von uns fühlt sich als Staatsbürger? Wer achtet den Staat? Wer hat eine deutliche Vorstellung von dem Respekt, den jedes Individuum, welcher Konfession auch immer, dem Staat und damit sich selber schuldet?
Curzio Malaparte
Es betrifft euch
... mehr
Von Deutschland aus auf Italien zu blicken, zu versuchen, Italien mit den Augen jenes europäischen Landes zu sehen, das uns vielleicht mehr liebt als jedes andere, war in diesen Jahren sehr hilfreich für mich.
Von Deutschland aus betrachtet, ist Italien zwar ein gebeuteltes Land, doch weil es eine gewisse Leichtigkeit besitzt, ist es trotzdem glücklich. Das Klima, die Mühelosigkeit, mit der man dort scheinbar sofort mit allen in Kontakt kommt, die italienische Küche, das eigentlich kosmopolitische Element des Landes. Und dann das Licht: Alles erscheint sehr einladend. Viele Deutsche denken beim Stichwort Italien an die Tempel von Paestum, die Kirchen von Florenz und die Paläste Venedigs. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Italien ist seit langem ein unglückliches Land. Unglücklich, weil es sein eigenes Potential nicht mehr erkennt; weil es einer alten Dame ähnelt, der das Leben Schönheit und erfolgreiche Kinder geschenkt hat, die aber jetzt, dem Tod nahe, keine Ansprüche mehr stellt.
Seit Jahren versuche ich zu zeigen, wie wichtig es wäre, dass die europäischen Länder einander endlich genauer unter die Lupe nähmen, um aus den Erfahrungen der anderen zu lernen. Man hat die Verschiedenheiten untersucht, die unüberbrückbaren Differenzen, aber man konnte oder wollte sich nicht die Zeit nehmen, die Schnittmengen, die Gemeinsamkeiten, den identischen genetischen Code zu erkennen, die notwendige Allianz - der einzige Weg, um Europa von einer bloßen Währungsunion zu einer echten Gemeinschaft, einem neuen vielgestaltigen Staat zu machen.
Italien sollte Deutschland als ein Beispiel für gelungene Integration betrachten, ein Land, das seinen Wohlstand und seine demokratischen Errungenschaften auch den italienischen, türkischen, kurdischen und slawischen Einwanderern verdankt, die zum Wirtschaftswachstum beigetragen haben.
Umgekehrt könnte Deutschland Italien als Spiegelbild für eine gefährliche Entwicklung sehen. Denn die Schwierigkeiten, die prekären Verhältnisse, die das Recht untergraben, sind ein Krebsgeschwür, das nicht an den Landesgrenzen haltmacht, sondern sie überschreitet und sich immer weiter ausbreitet.
Was heute in Italien geschieht - die gescheiterte Politik der Regierung Berlusconi und ihre Unfähigkeit, den kriminellen Organisationen trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Einhalt zu gebieten -, betrifft Deutschland sehr viel mehr, als man denkt. Und den Kampf gegen die weitere Ausbreitung der Mafia führt an vorderster Front die unbescholtene italienische Gemeinschaft jenseits der Alpen.
»Deutschland war für uns ein Territorium für den Drogenhandel«, sagt der Camorra-Boss Maurizio Prestieri. Er ist angeklagt, mehr als dreißig Morde in Auftrag gegeben zu haben, und arbeitet jetzt als Kronzeuge mit der Justiz zusammen. Ich treffe ihn im Schutz der Carabinieri- Kaserne. »Deutschland«, erzählt er mir, »war für uns schon immer ein optimaler Waffenmarkt. Ich erinnere mich noch gut an eine irrwitzige Episode in Düsseldorf.« »Wann war das?«, frage ich. »Nach 2002. Zwei meiner Leute fuhren nach Düsseldorf, um eine Bazooka zu kaufen. Wir wollten für eine Fehde gerüstet sein oder die Bazooka zusammen mit anderen Waffen in Afrika weiterverkaufen, sobald dort ein neuer Konflikt ausbricht.« Seine Leute, so versichert mir Prestieri, kannten Deutschland schon seit Jahren und fühlten sich dort wie zu Hause. »Nachdem sie sich mit ihren Kontaktmännern getroffen hatten, einem Türken und einem Slawen, fuhren sie aufs Land, um die Waffe auszuprobieren. Wie man sie benutzt, wollten sie nicht wissen: Wir sind Neapolitaner, sagten sie, uns braucht man nichts beizubringen.« Sie trauten ihren Kontaktmännern nicht und wollten die Waffe ausprobieren. Sie fuhren also aufs Land. »Der Erste legte sich die Bazooka auf die Schulter und versuchte zu schießen, aber sie funktionierte nicht. Dann probierte es der andere, nichts zu machen. Sie drehten die Waffe hin und her, hantierten am Abzug herum, und plötzlich ging ein Schuss los.« Aber nicht nach vorne. »Sie hatten die Waffe verkehrt herum gehalten, und die Granate war nach hinten losgegangen und schlug in das Häuschen eines älteren Ehepaars ein.« Zum Glück waren die beiden gerade nicht da. »Sonst hätte es ein Blutbad gegeben. Als meine Leute sahen, was passiert war, fuhren sie schnell weg. Aber das Sensationelle war, dass die beiden Alten eine Strafanzeige wegen illegalen Sprengstoffbesitzes erhielten.«
So etwas war nur deshalb möglich, weil die Deutschen keine Vorstellung davon hatten, wie stark die unterschiedlichen Organisationen der Mafia in ihrem Land präsent waren. Für die Bosse ist Deutschland vor allem deshalb so komfortabel, weil die Behörden nur sehr zaghaft gegen sie vorgehen. Auch die Abhörmethoden sind behutsamer. Telefonmitschnitte sind durch gesetzliche Hürden stark eingeschränkt, denn das Gespenst des Überwachungsstaats ist noch lebendig, die Methoden der Gestapo und der Stasi sind immer noch in Erinnerung. Und davon profitieren die Bosse genauso wie von der Tatsache, dass es weder den Straftatbestand der externen Beteiligung an einer mafiaartigen Vereinigung noch überhaupt den einer mafiaartigen Vereinigung gibt.
Für eine realistischere Einschätzung dieses Phänomens war das Blutbad von Duisburg das Jahr null, der Wendepunkt. Es geschah ohne Vorwarnung: Nur das Blut eines solchen Gemetzels konnte Deutschland aus seinem Dornröschenschlaf wachrütteln.
Jetzt wurde die enorme Macht der organisierten Kriminalität deutlich, in diesem Fall der kalabresischen, deren Stärke es bisher gewesen war, sich nach außen hin als schwach und rückständig zu präsentieren. Über der 'Ndrangheta lag jahrzehntelang der Mantel des Schweigens, in und außerhalb Italiens. Sie wurde als die arme Verwandte von Mafia und Camorra wahrgenommen, die auf Film und Literatur keinerlei Faszinationskraft ausübte. Aus diesem Grund blieben die mit der 'Ndrangheta verbundenen Ereignisse auf die Lokalnachrichten beschränkt, in noch viel stärkerem Maß als bei der Camorra. Ohne das Blutbad von Duisburg am 15. August 2007 wären heute nach wie vor nur wenige in der Lage, die Geschehnisse zu begreifen und zu interpretieren.
Doch auf einmal hatte die Vorstellung, die Mafia sei Ausdruck einer ungeordneten Welt, ihre Gültigkeit verloren. Denn die italienische Mafia besteht aus Organisationen, die strengen Regeln unterworfen sind. Das Bild des anarchischen, lautstark agierenden Italieners ist ein Klischee, ein Mythos, es entspricht nicht der Wahrheit. Denn diese Männer, oft so übergewichtig wie die Charaktere aus der Fernsehserie Die Sopranos, verfügen in Wirklichkeit über eine Macht, die durch strenge Disziplin, strikte Regeln und Opferbereitschaft gekennzeichnet ist. Die Macht eines Bosses speist sich seit jeher aus seiner Bereitschaft, sich zu opfern. Genau das ermöglichte es den Kalabresen, in Deutschland so stark zu werden, wo es nie eine autochthone Mafia gab. Viele Deutsche arbeiten zwar mit der italienischen Mafia zusammen, aber es gelingt ihnen nicht, eine eigene Mafiaorganisation zu gründen, weil ihnen der kulturelle, familiäre und religiöse Rückhalt fehlt. Welchen Sinn könnte es für einen Deutschen haben, zehn Jahre lang in einem unterirdischen Bunker versteckt zu leben? Für jemanden, der nicht aus einer so hoffnungslosen Gegend stammt, ist ein solches Opfer völlig sinnlos. In Norditalien und im restlichen Europa kann man sich für ein Leben in Würde entscheiden, man braucht keine lebenslange Freiheitsstrafe in Kauf zu nehmen. Ein Jugendlicher aus Platì dagegen ist oft - zum Glück jedoch nicht immer - überzeugt, dass er, wenn er im Leben überhaupt irgendetwas erreichen will, Mitglied der 'Ndrangheta werden und in Betracht ziehen muss, zu morden und ermordet zu werden. Lehnt er diesen Weg ab, kann er Bauarbeiter werden, aber nur an einem Ort weit entfernt von seiner Heimat.
Die 'Ndrangheta ist ein wirtschaftliches System, das auf archaischen Regeln, Aufnahmeritualen und auf dem Blutspakt beruht - in Italien genauso wie in Deutschland, wo sie mehr als zwanzig Jahre lang ungestört agieren konnte. Es ist kein Geheimnis, dass nach dem Fall der Berliner Mauer die Mafiaorganisationen Italiens die ersten waren, die in Ostdeutschland investierten, während die Westdeutschen zur ehemaligen DDR nur sehr langsam ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelten. Es ist kein Geheimnis, dass sich die Mafia in Deutschland im Baugewerbe, im produzierenden Sektor und im Schmuggel gefälschter Markenkleidung engagiert. Doch wer hätte vor dem Blutbad von Duisburg geglaubt, dass die 'Ndrangheta in Deutschland dieselben Aufnahmerituale mit denselben Modalitäten durchführt wie alljährlich im Aspromonte? All das ist nicht die Folge einer Invasion krimineller Zellen, die über die Alpen gekommen sind und sich in Deutschland eingenistet haben. Die Grenzen verlaufen heute ganz anders. Wenn die Mafiaorganisationen in Deutschland erfolgreich sind, dann deshalb, weil die deutsche Wirtschaft und Politik, ja die deutsche Kultur von dieser Allianz profitieren. Diese Organisationen sind keine Invasionstruppen, keine Blutsauger. Wer sie als eine ferne Gefahr außerhalb der Grenzen des eigenen Landes abtut, will lediglich die Wähler beschwichtigen, indem er ihnen die Wahrheit vorenthält. Und diese Wahrheit lautet, dass Europa ein einziges großes zusammenhängendes Territorium ist, ein gemeinsamer Raum, und dass die Probleme in einem europäischen Land die Probleme aller sind - nicht aufgrund eines abstrakten moralischen Solidaritätsprinzips, sondern weil alle Länder denselben Gefahren ausgesetzt sind: Die Bereitschaft, kriminell zu agieren, um wirtschaftliche Gewinne zu machen, ist groß. Außerdem werden in der aktuellen Wirtschaftskrise und unter den Bedingungen eines unlauteren Wettbewerbs die staatsbürgerlichen Rechte zunehmend beschnitten. Das betrifft auch die Deutschen. Das betrifft auch Deutschland.
Die Zensur
Die hier erzählten Geschichten sind das Ergebnis meiner schriftstellerischen Arbeit für eine Fernsehsendung. Eine Sendung, von der ich nie gedacht hätte, sie könne so viel Anstoß erregen, dass das staatliche Fernsehen Rai die zweite Staffel stoppt. Vieni via con me, Komm mit mir mit, so der Name der Sendung, wird 2012 zwar fortgesetzt, aber auf einem privaten Fernsehkanal, weil die Rai trotz des großen Erfolgs, trotz der unerwartet hohen Gewinne und obwohl es ein öffentlich-rechtliches Unternehmen ist, das Qualität anbieten und schwarze Zahlen schreiben muss, beschlossen hat, Vieni via con me zu ignorieren, zu streichen, abzusetzen - nicht nur vom Sendeprogramm der Rai, sondern auch von den internen Besprechungen. Italien ist heute ein trauriges Land, und seine Misere spiegelt sich auch in unserem Fernsehprogramm, das einzig und allein der Ablenkung dient: entweder durch seichte Unterhaltung oder durch Zank, Gebrüll, Streit zwischen Politikern oder Familienangehörigen. Es ist heute ganz normal, dass sich in politischen Sendungen oder in Talkshows der Ministerpräsident zuschalten lässt und dazwischenruft, der Moderator habe gelogen, oder ankündigt, ein bestimmter Fußballspieler des AC Mailand werde nicht verkauft. Das Fernsehen will uns heute weismachen, dass die Politik des Landes mit einer jener zahlreichen Reality Shows vergleichbar ist, die in den öffentlich-rechtlichen und den privaten Sendern gezeigt werden: eine etwas trashige Reality Show, die keine wirtschaftlichen und sozialen Probleme kennt, sondern bestenfalls Familientragödien: einen Onkel, der seine Nichte umbringt; einen Sohn, der wegen einer Erbschaft seine Mutter ersticht; eine hässliche Cousine, die aus Eifersucht ihre hübsche Cousine tötet. Und mit all dem kann man die Zuschauer unterhalten. Man will uns einreden, dass in nächster Nähe Gefahren lauern, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen, man diskutiert nicht über die Finanzströme, über die Entscheidungen der Regierung, über einen Reichtum, der immer mehr auf kriminellen Machenschaften und immer weniger auf Leistung und Talent beruht.
Und in diesem Fernsehen sind wir aufgetreten.
Im Oktober 2010 war ich in Berlin, als ich erfuhr, dass man unsere Sendung einen Monat vor dem Start sabotierte. Die Direktion der Rai hatte die Programminhalte gelesen, und sie hatten ihr nicht gefallen. Von der Berliner Volksbühne aus, wo ich mit einem Monolog aus meinem Buch Die Schönheit und die Hölle auftrat, erläuterte ich den Italienern, was da gerade passierte: vor den Fernsehkameras von Annozero, einer weiteren erfolgreichen Fernsehsendung, die in jenem Jahr gleichfalls der Zensur zum Opfer fallen sollte. Und wenn ich nicht Position bezogen hätte, wenn ich nicht diese Ermutigung durch das deutsche Publikum gespürt hätte, würde ich jetzt nicht diese Worte schreiben und ihr könntet sie nicht lesen.
Damals, auf der Bühne in Berlin, sagte ich, wie sehr ich mich freuen würde, wenn eines Tages mit derselben Empathie und derselben Bereitschaft zur Unterstützung, die John F. Kennedy 1963 in Deutschland demonstriert hatte, ein Deutscher mit Blick auf Italien sagen könnte: »Ich bin ein Italiener« - und damit den Italienern die Botschaft übermittelte: »Ich werde euch nicht allein lassen, euer Schicksal ist mein Schicksal.«
...
Übersetzung: Friederike Hausmann und Rita Seuß
© Carl Hanser Verlag, München
Von Deutschland aus auf Italien zu blicken, zu versuchen, Italien mit den Augen jenes europäischen Landes zu sehen, das uns vielleicht mehr liebt als jedes andere, war in diesen Jahren sehr hilfreich für mich.
Von Deutschland aus betrachtet, ist Italien zwar ein gebeuteltes Land, doch weil es eine gewisse Leichtigkeit besitzt, ist es trotzdem glücklich. Das Klima, die Mühelosigkeit, mit der man dort scheinbar sofort mit allen in Kontakt kommt, die italienische Küche, das eigentlich kosmopolitische Element des Landes. Und dann das Licht: Alles erscheint sehr einladend. Viele Deutsche denken beim Stichwort Italien an die Tempel von Paestum, die Kirchen von Florenz und die Paläste Venedigs. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Italien ist seit langem ein unglückliches Land. Unglücklich, weil es sein eigenes Potential nicht mehr erkennt; weil es einer alten Dame ähnelt, der das Leben Schönheit und erfolgreiche Kinder geschenkt hat, die aber jetzt, dem Tod nahe, keine Ansprüche mehr stellt.
Seit Jahren versuche ich zu zeigen, wie wichtig es wäre, dass die europäischen Länder einander endlich genauer unter die Lupe nähmen, um aus den Erfahrungen der anderen zu lernen. Man hat die Verschiedenheiten untersucht, die unüberbrückbaren Differenzen, aber man konnte oder wollte sich nicht die Zeit nehmen, die Schnittmengen, die Gemeinsamkeiten, den identischen genetischen Code zu erkennen, die notwendige Allianz - der einzige Weg, um Europa von einer bloßen Währungsunion zu einer echten Gemeinschaft, einem neuen vielgestaltigen Staat zu machen.
Italien sollte Deutschland als ein Beispiel für gelungene Integration betrachten, ein Land, das seinen Wohlstand und seine demokratischen Errungenschaften auch den italienischen, türkischen, kurdischen und slawischen Einwanderern verdankt, die zum Wirtschaftswachstum beigetragen haben.
Umgekehrt könnte Deutschland Italien als Spiegelbild für eine gefährliche Entwicklung sehen. Denn die Schwierigkeiten, die prekären Verhältnisse, die das Recht untergraben, sind ein Krebsgeschwür, das nicht an den Landesgrenzen haltmacht, sondern sie überschreitet und sich immer weiter ausbreitet.
Was heute in Italien geschieht - die gescheiterte Politik der Regierung Berlusconi und ihre Unfähigkeit, den kriminellen Organisationen trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Einhalt zu gebieten -, betrifft Deutschland sehr viel mehr, als man denkt. Und den Kampf gegen die weitere Ausbreitung der Mafia führt an vorderster Front die unbescholtene italienische Gemeinschaft jenseits der Alpen.
»Deutschland war für uns ein Territorium für den Drogenhandel«, sagt der Camorra-Boss Maurizio Prestieri. Er ist angeklagt, mehr als dreißig Morde in Auftrag gegeben zu haben, und arbeitet jetzt als Kronzeuge mit der Justiz zusammen. Ich treffe ihn im Schutz der Carabinieri- Kaserne. »Deutschland«, erzählt er mir, »war für uns schon immer ein optimaler Waffenmarkt. Ich erinnere mich noch gut an eine irrwitzige Episode in Düsseldorf.« »Wann war das?«, frage ich. »Nach 2002. Zwei meiner Leute fuhren nach Düsseldorf, um eine Bazooka zu kaufen. Wir wollten für eine Fehde gerüstet sein oder die Bazooka zusammen mit anderen Waffen in Afrika weiterverkaufen, sobald dort ein neuer Konflikt ausbricht.« Seine Leute, so versichert mir Prestieri, kannten Deutschland schon seit Jahren und fühlten sich dort wie zu Hause. »Nachdem sie sich mit ihren Kontaktmännern getroffen hatten, einem Türken und einem Slawen, fuhren sie aufs Land, um die Waffe auszuprobieren. Wie man sie benutzt, wollten sie nicht wissen: Wir sind Neapolitaner, sagten sie, uns braucht man nichts beizubringen.« Sie trauten ihren Kontaktmännern nicht und wollten die Waffe ausprobieren. Sie fuhren also aufs Land. »Der Erste legte sich die Bazooka auf die Schulter und versuchte zu schießen, aber sie funktionierte nicht. Dann probierte es der andere, nichts zu machen. Sie drehten die Waffe hin und her, hantierten am Abzug herum, und plötzlich ging ein Schuss los.« Aber nicht nach vorne. »Sie hatten die Waffe verkehrt herum gehalten, und die Granate war nach hinten losgegangen und schlug in das Häuschen eines älteren Ehepaars ein.« Zum Glück waren die beiden gerade nicht da. »Sonst hätte es ein Blutbad gegeben. Als meine Leute sahen, was passiert war, fuhren sie schnell weg. Aber das Sensationelle war, dass die beiden Alten eine Strafanzeige wegen illegalen Sprengstoffbesitzes erhielten.«
So etwas war nur deshalb möglich, weil die Deutschen keine Vorstellung davon hatten, wie stark die unterschiedlichen Organisationen der Mafia in ihrem Land präsent waren. Für die Bosse ist Deutschland vor allem deshalb so komfortabel, weil die Behörden nur sehr zaghaft gegen sie vorgehen. Auch die Abhörmethoden sind behutsamer. Telefonmitschnitte sind durch gesetzliche Hürden stark eingeschränkt, denn das Gespenst des Überwachungsstaats ist noch lebendig, die Methoden der Gestapo und der Stasi sind immer noch in Erinnerung. Und davon profitieren die Bosse genauso wie von der Tatsache, dass es weder den Straftatbestand der externen Beteiligung an einer mafiaartigen Vereinigung noch überhaupt den einer mafiaartigen Vereinigung gibt.
Für eine realistischere Einschätzung dieses Phänomens war das Blutbad von Duisburg das Jahr null, der Wendepunkt. Es geschah ohne Vorwarnung: Nur das Blut eines solchen Gemetzels konnte Deutschland aus seinem Dornröschenschlaf wachrütteln.
Jetzt wurde die enorme Macht der organisierten Kriminalität deutlich, in diesem Fall der kalabresischen, deren Stärke es bisher gewesen war, sich nach außen hin als schwach und rückständig zu präsentieren. Über der 'Ndrangheta lag jahrzehntelang der Mantel des Schweigens, in und außerhalb Italiens. Sie wurde als die arme Verwandte von Mafia und Camorra wahrgenommen, die auf Film und Literatur keinerlei Faszinationskraft ausübte. Aus diesem Grund blieben die mit der 'Ndrangheta verbundenen Ereignisse auf die Lokalnachrichten beschränkt, in noch viel stärkerem Maß als bei der Camorra. Ohne das Blutbad von Duisburg am 15. August 2007 wären heute nach wie vor nur wenige in der Lage, die Geschehnisse zu begreifen und zu interpretieren.
Doch auf einmal hatte die Vorstellung, die Mafia sei Ausdruck einer ungeordneten Welt, ihre Gültigkeit verloren. Denn die italienische Mafia besteht aus Organisationen, die strengen Regeln unterworfen sind. Das Bild des anarchischen, lautstark agierenden Italieners ist ein Klischee, ein Mythos, es entspricht nicht der Wahrheit. Denn diese Männer, oft so übergewichtig wie die Charaktere aus der Fernsehserie Die Sopranos, verfügen in Wirklichkeit über eine Macht, die durch strenge Disziplin, strikte Regeln und Opferbereitschaft gekennzeichnet ist. Die Macht eines Bosses speist sich seit jeher aus seiner Bereitschaft, sich zu opfern. Genau das ermöglichte es den Kalabresen, in Deutschland so stark zu werden, wo es nie eine autochthone Mafia gab. Viele Deutsche arbeiten zwar mit der italienischen Mafia zusammen, aber es gelingt ihnen nicht, eine eigene Mafiaorganisation zu gründen, weil ihnen der kulturelle, familiäre und religiöse Rückhalt fehlt. Welchen Sinn könnte es für einen Deutschen haben, zehn Jahre lang in einem unterirdischen Bunker versteckt zu leben? Für jemanden, der nicht aus einer so hoffnungslosen Gegend stammt, ist ein solches Opfer völlig sinnlos. In Norditalien und im restlichen Europa kann man sich für ein Leben in Würde entscheiden, man braucht keine lebenslange Freiheitsstrafe in Kauf zu nehmen. Ein Jugendlicher aus Platì dagegen ist oft - zum Glück jedoch nicht immer - überzeugt, dass er, wenn er im Leben überhaupt irgendetwas erreichen will, Mitglied der 'Ndrangheta werden und in Betracht ziehen muss, zu morden und ermordet zu werden. Lehnt er diesen Weg ab, kann er Bauarbeiter werden, aber nur an einem Ort weit entfernt von seiner Heimat.
Die 'Ndrangheta ist ein wirtschaftliches System, das auf archaischen Regeln, Aufnahmeritualen und auf dem Blutspakt beruht - in Italien genauso wie in Deutschland, wo sie mehr als zwanzig Jahre lang ungestört agieren konnte. Es ist kein Geheimnis, dass nach dem Fall der Berliner Mauer die Mafiaorganisationen Italiens die ersten waren, die in Ostdeutschland investierten, während die Westdeutschen zur ehemaligen DDR nur sehr langsam ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelten. Es ist kein Geheimnis, dass sich die Mafia in Deutschland im Baugewerbe, im produzierenden Sektor und im Schmuggel gefälschter Markenkleidung engagiert. Doch wer hätte vor dem Blutbad von Duisburg geglaubt, dass die 'Ndrangheta in Deutschland dieselben Aufnahmerituale mit denselben Modalitäten durchführt wie alljährlich im Aspromonte? All das ist nicht die Folge einer Invasion krimineller Zellen, die über die Alpen gekommen sind und sich in Deutschland eingenistet haben. Die Grenzen verlaufen heute ganz anders. Wenn die Mafiaorganisationen in Deutschland erfolgreich sind, dann deshalb, weil die deutsche Wirtschaft und Politik, ja die deutsche Kultur von dieser Allianz profitieren. Diese Organisationen sind keine Invasionstruppen, keine Blutsauger. Wer sie als eine ferne Gefahr außerhalb der Grenzen des eigenen Landes abtut, will lediglich die Wähler beschwichtigen, indem er ihnen die Wahrheit vorenthält. Und diese Wahrheit lautet, dass Europa ein einziges großes zusammenhängendes Territorium ist, ein gemeinsamer Raum, und dass die Probleme in einem europäischen Land die Probleme aller sind - nicht aufgrund eines abstrakten moralischen Solidaritätsprinzips, sondern weil alle Länder denselben Gefahren ausgesetzt sind: Die Bereitschaft, kriminell zu agieren, um wirtschaftliche Gewinne zu machen, ist groß. Außerdem werden in der aktuellen Wirtschaftskrise und unter den Bedingungen eines unlauteren Wettbewerbs die staatsbürgerlichen Rechte zunehmend beschnitten. Das betrifft auch die Deutschen. Das betrifft auch Deutschland.
Die Zensur
Die hier erzählten Geschichten sind das Ergebnis meiner schriftstellerischen Arbeit für eine Fernsehsendung. Eine Sendung, von der ich nie gedacht hätte, sie könne so viel Anstoß erregen, dass das staatliche Fernsehen Rai die zweite Staffel stoppt. Vieni via con me, Komm mit mir mit, so der Name der Sendung, wird 2012 zwar fortgesetzt, aber auf einem privaten Fernsehkanal, weil die Rai trotz des großen Erfolgs, trotz der unerwartet hohen Gewinne und obwohl es ein öffentlich-rechtliches Unternehmen ist, das Qualität anbieten und schwarze Zahlen schreiben muss, beschlossen hat, Vieni via con me zu ignorieren, zu streichen, abzusetzen - nicht nur vom Sendeprogramm der Rai, sondern auch von den internen Besprechungen. Italien ist heute ein trauriges Land, und seine Misere spiegelt sich auch in unserem Fernsehprogramm, das einzig und allein der Ablenkung dient: entweder durch seichte Unterhaltung oder durch Zank, Gebrüll, Streit zwischen Politikern oder Familienangehörigen. Es ist heute ganz normal, dass sich in politischen Sendungen oder in Talkshows der Ministerpräsident zuschalten lässt und dazwischenruft, der Moderator habe gelogen, oder ankündigt, ein bestimmter Fußballspieler des AC Mailand werde nicht verkauft. Das Fernsehen will uns heute weismachen, dass die Politik des Landes mit einer jener zahlreichen Reality Shows vergleichbar ist, die in den öffentlich-rechtlichen und den privaten Sendern gezeigt werden: eine etwas trashige Reality Show, die keine wirtschaftlichen und sozialen Probleme kennt, sondern bestenfalls Familientragödien: einen Onkel, der seine Nichte umbringt; einen Sohn, der wegen einer Erbschaft seine Mutter ersticht; eine hässliche Cousine, die aus Eifersucht ihre hübsche Cousine tötet. Und mit all dem kann man die Zuschauer unterhalten. Man will uns einreden, dass in nächster Nähe Gefahren lauern, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen, man diskutiert nicht über die Finanzströme, über die Entscheidungen der Regierung, über einen Reichtum, der immer mehr auf kriminellen Machenschaften und immer weniger auf Leistung und Talent beruht.
Und in diesem Fernsehen sind wir aufgetreten.
Im Oktober 2010 war ich in Berlin, als ich erfuhr, dass man unsere Sendung einen Monat vor dem Start sabotierte. Die Direktion der Rai hatte die Programminhalte gelesen, und sie hatten ihr nicht gefallen. Von der Berliner Volksbühne aus, wo ich mit einem Monolog aus meinem Buch Die Schönheit und die Hölle auftrat, erläuterte ich den Italienern, was da gerade passierte: vor den Fernsehkameras von Annozero, einer weiteren erfolgreichen Fernsehsendung, die in jenem Jahr gleichfalls der Zensur zum Opfer fallen sollte. Und wenn ich nicht Position bezogen hätte, wenn ich nicht diese Ermutigung durch das deutsche Publikum gespürt hätte, würde ich jetzt nicht diese Worte schreiben und ihr könntet sie nicht lesen.
Damals, auf der Bühne in Berlin, sagte ich, wie sehr ich mich freuen würde, wenn eines Tages mit derselben Empathie und derselben Bereitschaft zur Unterstützung, die John F. Kennedy 1963 in Deutschland demonstriert hatte, ein Deutscher mit Blick auf Italien sagen könnte: »Ich bin ein Italiener« - und damit den Italienern die Botschaft übermittelte: »Ich werde euch nicht allein lassen, euer Schicksal ist mein Schicksal.«
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Übersetzung: Friederike Hausmann und Rita Seuß
© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Roberto Saviano
Roberto Saviano, 1979 in Neapel geboren, arbeitete nach dem Studium der Philosophie als Journalist. Gomorrha kam rasch nach Erscheinen auf die italienische Bestsellerliste und machte ihn schlagartig berühmt. Nach wiederholten Morddrohungen von Seiten der Camorra steht Saviano permanent unter Personenschutz und lebt seit vielen Jahren im Untergrund. Bei Hanser erschienen Gomorrha (Reise in das Reich der Camorra, 2007), Das Gegenteil von Tod (2009), Der Kampf geht weiter (Widerstand gegen Mafia und Korruption, 2012), ZeroZeroZero (Wie Kokain die Welt beherrscht, 2014), Super Santos (Hanser Box, 2014), Der Clan der Kinder (Roman, 2018) und Die Lebenshungrigen (Roman, 2019). 2009 erhielt Saviano den Geschwister-Scholl-Preis, 2012 den Olof-Palme-Preis für seinen publizistischen Einsatz gegen organisiertes Verbrechen und Korruption und 2016 den M100 Media Award. Er schrieb am Drehbuch zum Film "Paranza - Der Clan der Kinder" mit, das auf der Berlinale 2019 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Roberto Saviano
- 2012, 4. Aufl., 174 Seiten, Masse: 13,2 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Friederike Hausmann, Rita Seuss
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446238816
- ISBN-13: 9783446238817
- Erscheinungsdatum: 01.02.2012
Rezension zu „Der Kampf geht weiter “
"Saviano rüttelt den Leser auf durch den drastischen Einblick in die Funktionsweisen der Mafia und der anderen süditalienischen Verbrecherorganisationen. (...) Selbstbehauptung ist möglich - das ist die Quintessenz von Savianos Credo. Dem Blick in die Abgründe der italienischen Gesellschaft hält er ermutigende Beispiele von kleinen, konkreten (Teil-)Siegen über mafiöse Kriminalität und Menschenverachtung entgegen." Christiane Liermann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.2012"Mit einfachen, mitunter pathetischen Gesten appelliert Saviano an das staatsbürgerliche Gewissen seiner Leser. (...) Sein Verdienst ist nicht hoch genug einzuschätzen. Der Schriftsteller, der immer noch unter Begleitschutz lebt, ist längst eine Ikone." Maike Albath, Die Welt, 10.03.2012
"Mit seiner Reportagensammlung über den italienischen Horror führt Saviano seinen mutigen Kampf gegen Mafia und Korruption weiter." Arnaldo Benini, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 29.04.2012
"Der Text ist journalistische Recherche, Anklageschrift und Manifest zur Ermutigung von Zivilcourage in einem." Christiane Liermann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.12
Pressezitat
"Saviano rüttelt den Leser auf durch den drastischen Einblick in die Funktionsweisen der Mafia und der anderen süditalienischen Verbrecherorganisationen. (...) Selbstbehauptung ist möglich - das ist die Quintessenz von Savianos Credo. Dem Blick in die Abgründe der italienischen Gesellschaft hält er ermutigende Beispiele von kleinen, konkreten (Teil-)Siegen über mafiöse Kriminalität und Menschenverachtung entgegen." Christiane Liermann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.2012"Mit einfachen, mitunter pathetischen Gesten appelliert Saviano an das staatsbürgerliche Gewissen seiner Leser. (...) Sein Verdienst ist nicht hoch genug einzuschätzen. Der Schriftsteller, der immer noch unter Begleitschutz lebt, ist längst eine Ikone." Maike Albath, Die Welt, 10.03.2012
"Mit seiner Reportagensammlung über den italienischen Horror führt Saviano seinen mutigen Kampf gegen Mafia und Korruption weiter." Arnaldo Benini, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 29.04.2012
"Der Text ist journalistische Recherche, Anklageschrift und Manifest zur Ermutigung von Zivilcourage in einem." Christiane Liermann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.12
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