Die Radikalität des Alters
Einsichten einer Psychoanalytikerin. Vorw. v. Alice Schwarzer
Mit über neunzig Jahren wendet sich Margarete Mitscherlich, die Grande Dame der deutschen Psychoanalysedie unermüdliche Aufklärerin, mit grosser Entschiedenheit nochmals den grossen Fragen ihres Lebens zu: Dem Vergessen und Verdrängen und der Unfähigkeit der...
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Produktinformationen zu „Die Radikalität des Alters “
Klappentext zu „Die Radikalität des Alters “
Mit über neunzig Jahren wendet sich Margarete Mitscherlich, die Grande Dame der deutschen Psychoanalysedie unermüdliche Aufklärerin, mit grosser Entschiedenheit nochmals den grossen Fragen ihres Lebens zu: Dem Vergessen und Verdrängen und der Unfähigkeit der Deutschen zu trauern; der Emanzipation im weitesten Sinne, also der Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien, aber auch im engeren Sinne der Emanzipation der Frau und ihrer Stellung in der Gesellschaft; den Geschlechterrollen, männlichen und weiblichen Werten.Zugleich reflektiert Margarete Mitscherlich das Älter- und Altwerden und beschreibt mit grosser Offenheit, wie es ihre Sicht auf die Dinge prägt. In einem sehr persönlichen Stück beschreibt sie schliesslich mit dem geschulten Blick der Psychoanalytikerin ihr Leben und Lebenswerk. Ein bewegendes Zeugnis lebendiger Zeitgeschichte.
Lese-Probe zu „Die Radikalität des Alters “
Die Radikalität des Alters von Margarete MitscherlichLebenswerk und Lebenssinn
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Was ist Lebenswerk? Ich bin 93 Jahre alt. Was hat diese Jahre beeindruckt, beeinflusst, was scheint mir, von heute aus gesehen, wesentlich für den Gang oder Lauf meines bisherigen Lebens gewesen zu sein? Ich möchte versuchen, Erkenntnisse über mich, mein Denken und Handeln, meine Welt, meine Geschichte zu gewinnen und wiederzugeben, was ich als Wahrheit in und um mich herum zu erkennen glaubte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mein »Lebenswerk« sich mit Emanzipation im weitesten Sinn beschäftigt, das heißt mit der Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien, die in meinem Leben zur mörderischen Begeisterung für einen Verbrecherstaat und über lange Zeit zu einer neuen Variante der Entwertung der Frau und ihrer Stellung in der Gesellschaft führten. Ist »Lebenswerk« gleich Lebenssinn, oder ergibt sich »Lebenswerk« aus dem, was man als den Sinn seines Lebens ansieht? Keine so leicht zu beantwortende Frage, da im Laufe der Zeit Lebenssinn und Lebenswerk sich verändern, sich gegenseitig beeinflussen und von Zufall und »Schicksal« nicht verschont bleiben.
»Lebenswerk« und »Lebenssinn«: Damit ist unmittelbar auch die Frage der Ethik angesprochen. Aber was ist Ethik heute? Wer bestimmt, was »gut«, was »böse« ist? Gibt es sie noch, die für alle gültigen Werte und Normen oder die von allen geteilte Lehre vom »richtigen Leben«? Müssen wir uns nicht eher mit der »traurigen Wissenschaft« zufriedengeben, mit den »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, wie sie uns Adorno als »Minima Moralia« nahegebracht hat?1 Als ich vor einiger Zeit gefragt wurde, ob die Psychoanalyse nicht dazu neige, den Menschen die Verantwortung für ihr Handeln abzunehmen, indem diese sich auf Freuds »Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause« berufen könnten, wandte ich ein, dass gerade die Psychoanalyse vom informierten Zeitgenossen verlange, sich die unbewussten Dimensionen seiner Triebwelt, wie sie in seinen Wünschen, Affekten, Phantasien offenbar werden und sein Handeln beeinflussen, bewusst zu machen, um so eine begründete Verantwortung für sein Verhalten übernehmen zu können.
Ich bin weder Philosophin noch Historikerin und werde mich deshalb darauf beschränken, anhand autobiographischer Daten diese Wechselwirkung zwischen Leben, Lebenssinn und Lebenswerk zu veranschaulichen und psychoanalytisch zu verstehen. »Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht«, so Freud. Also war ich krank, denn darüber, was mein Leben für einen Sinn haben könnte, habe ich schon früh nachgedacht. Oder war ich nur ein Kind meiner Zeit und Kultur, die verlangten, dass man seinem Leben eine Bedeutung gab? Jedenfalls mit etwa sechs, sieben oder acht Jahren meinte ich, es darin erkannt zu haben, dass ich meine Mutter glücklich machen sollte. Nicht, dass meine Mutter besonders viel Unglück ausstrahlte, aber ich glaubte doch früh zu erkennen, dass die Heirat mit meinem Vater für sie ein Akt der Resignation gewesen war, dass die »große Liebe« ihrer Vergangenheit angehörte. Das mag auch durchaus so gewesen sein, obwohl mir mittlerweile klar ist, dass der Wunsch, seine Mutter glücklich zu machen, von vielen meiner Analysandinnen geteilt wird, ihr Leben und ihr Verhalten nicht unwesentlich prägt und von Deutungen des mütterlichen Seelenlebens abhängt, die mehr eigenen Phantasien entnommen sind als der Realität. Jedenfalls störte es mein seelisches Gleichgewicht erheblich, wenn ich meine Mutter traurig wähnte.
Mein Vater, ein denkbar verlässlicher, etwas zur Depression neigender Mann, war ihr sehr zugetan, sah vielleicht in ihr durchaus das, was ich als »große Liebe« ansah, wenn er überhaupt geneigt war, in diesen Kategorien zu denken. Jedenfalls hatte er, bevor sie in sein Leben trat, ein ziemlich freudloses Leben als Witwer mit drei Kindern geführt, so zumindest sah ich es oder wollte es so sehen. Dass sein wie mein Leben erst mit ihr begann, schien mir selbstverständlich.
Wie dem auch sei: Für mich war es eine Lebensaufgabe, meine Mutter glücklich zu machen, was mir in gewisser Weise sogar gelungen zu sein scheint. Das ist sicherlich ein Glücksfall, den ich hochzuschätzen gelernt habe, denn gerade der fehlte manchen meiner Analysandinnen, die an demselben »Symptom« litten, aber keine Chance hatten oder sich die Chance verdarben, ihre »Mutter glücklich zu machen«.
Ich hatte also Glück - aber warum? Ich denke, die Theorie der Psychoanalytikerin Melanie Klein, nach der das Kleinkind im ersten Lebensjahr verfolgenden und destruktiven Phantasien (paranoid-schizoide Phase) ausgesetzt ist, um mit wachsender Beziehungsfähigkeit zur emotionalen, mitmenschlichen Umgebung Schuldgefühle und Wiedergutmachungsbedürfnisse zu entwickeln (depressive Phase), würde folgende Antwort anbieten: Das Verhältnis Mutter und Tochter habe sich bei mir so gestaltet, dass ich in die depressive Phase eintreten und die früheste Phase mit ihren Verfolgungsphantasien so weit überwinden konnte, dass ich Schuldgefühle zu empfinden lernte und der unbewusste Wunsch nach Wiedergutmachung dieser für das erste Lebensjahr typischen aggressiven Phantasien immer stärker wurde. Es dauert ja manches Jahr, bis ein Kind zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden lernt. Wenn es sich um Phantasien handelt, die unbewusst sind und bleiben, mag deren Wirkung auf Charakter und Verhalten sich jedoch über ein ganzes Leben erstrecken. Bei mir überwog das Urvertrauen wohl bald die destruktiven Phantasien, die als Abwehr und Ausdruck der völligen Hilflosigkeit des Kleinkindes anzusehen sind, wie auch die Neigung, die nie ganz überwunden wird, sein eigenes Innenleben auf den anderen zu projizieren und zu glauben, dessen Innenleben (projektive Identifikation) zu kennen und beeinflussen zu können.
In meiner frühen Kindheit war meine Mutter die Einzige, bei der ich mich vollkommen aufgehoben fühlte, in deren Gegenwart ich mich meinen Gedanken, meinen Phantasien unbefangen zuwenden konnte, ohne dass ich Angst entwickeln musste, die äußere Welt dabei zu verlieren. Geben und Nehmen, so schien es mir, hielten sich im Gleichgewicht je nach Alter und Bedürfnissen von Mutter und Tochter - das aber vermissten viele meiner Analysandinnen, die glaubten, ihre Mutter nie zufriedenstellen zu können; dementsprechend gelang es ihnen nur selten, selbst glücklich und entspannt zu sein. Bewusst litten sie oft wenig unter Schuldgefühlen, in ihrem Charakter und Verhalten zeigten diese sich jedoch umso deutlicher. Ihre aggressiven Phantasien projizierten sie auf die Mutter, und sie neigten dazu, in ihren Liebes- und Freundschaftsbeziehungen ein Gefühl der Unzufriedenheit zu vermitteln: »Das Glas war nie halb voll, immer halb leer.« Sie waren wie ich zeitweilig »Tomboys«, das heißt Mädchen, die durch ihr Verhalten zeigen, dass sie lieber ein Junge gewesen wären. Für Freud entsprechen diese Wünsche der »phallischen Phase« kindlicher Entwicklung, in der das Mädchen als Mann die Mutter glücklich machen möchte - und das klappt selten oder nie. Meine Analysandinnen gingen im späteren Leben oft lesbische Beziehungen ein, die nicht weniger konfliktreich waren als das Verhältnis zur Mutter. Ich wählte einen anderen Weg, nicht ich war der Mann, der meine Mutter glücklich machen sollte, ich suchte ihn für mich aus, um ihn meiner Mutter zu übergeben. Ich werde darauf zurückkommen.
Die Atmosphäre der sicheren Distanz und die »Raum« ermöglichende Beziehung zu meiner Mutter erlaubten es mir, mich meinen Gefühlen und Phantasien hinzugeben, ohne allzu große Angst zu haben, meine Mutter könne mir innerlich verlorengehen. Ich las alles, was mir in die Finger kam, damit entfernte ich mich eher von meiner Mutter, was mich aber offensichtlich nicht bedrückte, denn Lesen war eine Sucht, die mir die Mutter erlaubte, mein Spitzname im Quartett mit den drei besten Freundinnen war »Leseratte«.
Ich war in der »Glückshaube« geboren, und offensichtlich erlebte ich mich bis zu meiner relativ früh einsetzenden Pubertät immer noch in einer schützenden Haube geborgen. Mein Vater, ein von seiner Arbeit oft überforderter Landarzt, war mir eher fremd. Wenn ich mit ihm allein war, fühlte ich mich unfrei, beklommen und wenig geneigt, Persönliches mit ihm zu besprechen. Also mein Lebenssinn war, meine Mutter glücklich zu machen, und ich war mir auf naive Weise sicher, dass sie das auch akzeptierte. Bin ich deswegen Psychotherapeutin geworden, wollte ich sie oder mich heilen oder später meine Mitmenschen glücklich machen? Oder spielte etwas anderes dabei die wesentliche Rolle, etwas, das ich nicht wahrhaben wollte, nämlich die Unfähigkeit, einen »Dritten« neben mir zu dulden? Verleugnete ich dessen Existenz im Seelenleben meiner Mutter? Zumindest war ich fest davon überzeugt, dass weder mein Vater noch mein Bruder ernstzunehmende Rivalen im Kampf um die Liebe meiner Mutter waren. Nur einen gab es: den verstorbenen Verlobten, dessen Bild auf ihrem Schreibtisch stand und den sie oft erwähnte. Diesen zu erobern oder ihn als Rivalen bei meiner Mutter aus der Welt zu schaffen hat manche meiner Lebensentscheidungen beeinflusst.
Das war also meine Art, mit dem seit Freud so berühmten Ödipuskomplex umzugehen.
Wie zu erwarten war, änderte sich die Beziehung zu meiner Mutter während meiner Pubertät, wenn auch nicht grundsätzlich, so doch im Sinne dessen, dass sie nicht mehr alleiniger Mittelpunkt meines Lebens war. Neben ihr gab es andere und anderes, was durchaus in ihrem Sinne war. Meine Freundinnen wurden auch die ihren, was mich weit mehr befriedigte, als dass es mich eifersüchtig machte.
Mit 14, 15, 16 Jahren steht man vor der Aufgabe, erwachsen zu werden, Lebensweg und Lebenssinn richten sich darauf ein, für sich selbst verantwortlich zu sein. Die Abhängigkeiten von Menschen in der äußeren Welt wie von deren Bedeutung in der inneren sind langsam, aber sicher von anderer, bisher unbekannter Natur. Die große weite Welt öffnet sich uns, wir gehen mit gespannter Erwartung der Zukunft entgegen, schüchtern erst, je mehr man von der Welt zu wissen glaubt und je mehr man sich mit wachsender Erfahrung darüber klar wird, wie wenig man von ihr weiß bzw. dass man nur sieht, was man weiß oder glaubt zu wissen. Angst und Unkenntnis der eigenen Gefühlswelt stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Je weniger wir mit unseren Gefühlen verstehend umgehen können, umso ängstlicher sind wir und umso geringer ist die Neigung, uns dem Unbekannten zu öffnen, neugierig auf das »Nicht-Identische« zu sein oder es überhaupt wahrnehmen zu wollen. Die ödipale Stufe der Entwicklung zu erreichen, das Verbot seiner inzestuösen Wünsche zu verinnerlichen, ein Über-Ich auszubilden und mit Hilfe dieser psychischen Struktur der symbiotischen Beziehung zur Mutter zu entfliehen wird auch als Tor zur Welt bezeichnet, in der der andere als anderer wahrgenommen und die Vielfältigkeit des Lebens erkannt wird.
Mit dem Verlassen des Elternhauses - ich war kaum 15 Jahre alt -, mit dem Eintritt in eine neue Schule in der »Großstadt« Flensburg, mit der größeren Unabhängigkeit von Familie und Eltern, mit der Erfahrung eines zuerst überwältigenden, dann nachlassenden Heimwehs, der Aufnahme neuer Eindrücke änderte sich auch der »Sinn meines Lebens«. Ich begann darüber nachzudenken, was das eigentlich heißt: Du willst deine Mutter glücklich machen. Dahinter steckte doch die altmodische Vorstellung, Glück sei Liebe und dieses durch Heirat mit dem »richtigen« Mann zu erreichen. Dieses Glück hatte ja meine Mutter - so meinte ich - sowieso verpasst, weswegen ja für mich wenig Aussicht bestand, dass dieser mein »Lebenssinn« erfüllt werden könnte. Das waren so gelegentlich auftauchende Gedanken, und ich trat in die zweite Phase meines »Lebenssinnes« ein. Ich war hungrig auf Welt und Wissen, dann kamen die Verliebtheiten mit 16 oder 17 Jahren, die gemeinsam beredete Sache mit meinen Freundinnen waren, aber der Mutter eher verschwiegen wurden, und die ich mit ziemlicher Wucht seelischer Natur hinter mir ließ, als ich mich in meine Deutschlehrerin verliebte. Diese öffnete mir und meinen besten Freundinnen die weite Welt der Literatur, in der man mit ganz anderen Schicksalen und Lebensweisen als den eigenen konfrontiert wird. Sie förderte unsere Fähigkeit, kritisch zu denken, Gefühle mit Gedanken zu verbinden, mit anderen Worten: aus Erfahrung zu lernen. Und sie öffnete uns auch die Augen dafür, wie primitiv die Ideologie des ›Dritten Reiches‹ war und dass es in Deutschland Menschen gab, die die Entwicklung zum ungehemmten »Nationalsozialismus« distanziert und illusionsfrei wahrnahmen. Im Grenzland Nordschleswig (Sönderjylland) war eine solche Haltung in der deutschen Minderheit kaum zu finden. Wie meist in Grenzgebieten zweier Nationen, wo jeder der Rivalen sein überlegenes Wertgefühl zu verteidigen sucht, vernebelt der Nationalismus kritische Sicht oder Einsicht.
Wünsche, zu einem anderen Teil des Selbst, meines Lebens vorzustoßen, wurden bei mir wach, die anderswo angesiedelt waren als den »richtigen Mann« zu finden, eine Familie zu gründen mit dem glücklichen Ende »and they lived happily ever after«. Das schien mir wie vielen meiner Generation kitschig und spießig zu sein, wir wussten zu viel, um an dauerhaftes eheliches Glück glauben zu können. Wir wollten einen Weg darüber hinaus, der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft einschloss und offen blieb bis ans Lebensende. Es war klar, außer dem traditionellen frauenspezifischen Streben nach Glück im Sinne von Ehe und Familie gab es andere wahrhaftigere, spannendere Ziele. Aber das war natürlich auch eine Wiederholung früher Lebenseinstellungen, in einer neuen Lebensphase zog ich die Frau dem Mann vor.
Die Liebe zu meiner Lehrerin, der Wunsch, in ihr mein Vorbild zu sehen, war auch eine Wiederholung früher Lebenseinstellungen; in einer neuen Lebensphase war es wiederum eine Frau - meiner Mutter nicht ganz unähnlich -, die ich den Männern vorzog.
Meine erotische Zuwendung zum anderen Geschlecht beeinflusste die Wahl meiner Lehrerin als Vorbild und Liebesobjekt allerdings nicht, was auch bedeutete, dass ich gleichzeitig auf Vatersuche war. Ich suchte ihn in diesem oder jenem Lehrer, im Vater meiner Freundin, in deren Familie ich in den letzten beiden Jahren meiner Schulzeit als Ersatz für die aus dem Haus gegangene Tochter aufgenommen wurde. Er war bis 1937 Polizeipräsident. In seinem Haus fand man viele der bereits verbotenen Bücher, wie z. B. Freuds oder Brechts Schriften. Er war der Sohn eines preußischen Generals, seine Mutter ließ sich mit »Exzellenz« anreden und die Hand küssen, worüber er sich lustig machte. Er war also ein kritischer und überlegener Mensch und entsprach meiner Vatersuche. Wiederum änderte sich mein alter Lebenssinn: meine Mutter glücklich zu machen, ohne dass ich mir bewusst darüber im Klaren war. Brauchte ich diesen »Sinn«, um meinem Leben Struktur zu geben bzw. ein Gefühl für Zeit zu entwickeln, damit das Leben mir nicht wie Sand durch die Finger floss? Kultur ohne Struktur hat keinen Boden. Aber wollte ich sie überhaupt noch glücklich machen, wie konnte das denn aussehen, war das nicht nur naiv?
Bewusst und Unbewusst sind zweierlei seelische Bereiche, die einander fremd sind; das bewusste Ich wird von seinen der Verdrängung anheimgefallenen Triebimpulsen weitgehend beherrscht, ohne seinen Gegner auch nur wahrzunehmen. Das Ich ist nach Freud bekanntlich nicht Herr im eigenen Haus. Davon wusste ich, bevor ich selber eine Analyse begann und mich in diesem Fach ausbilden ließ, nicht allzu viel.
Ich verband mich mit einem Mann, der an Tuberkulose litt, darin ähnlich der »großen Liebe« im Leben meiner Mutter, der Verlobte, der kurz vor der Hochzeit mit ihr an ebendieser Krankheit sterben musste. Diesen kranken jungen Mann, meinen Freund, schickte ich zu ihr, damit sie ihm helfen sollte, wieder gesünder zu werden. Das endete in einer ziemlichen Katastrophe, ich entfloh dieser Verbindung, meine Mutter aber war noch eine ganze Zeit mit einem seelisch sehr gestörten Menschen konfrontiert, der ihr das Leben ziemlich schwer machte. Mein Versuch, meine Mutter glücklich zu machen, war offensichtlich gescheitert. Es war gewissermaßen der unbewusste Versuch, ihre Liebeswahl zu wiederholen oder auch, ihr den Verlobten in eigener Machtvollkommenheit zurückzugeben, eine Rückkehr in die Vergangenheit, die nicht durch das »Schicksal« ihren Abschluss finden sollte, sondern durch eigenen Willen, um dadurch ihre Trauer endgültig zu beenden.
Irgendwie hatte ich den »Verlobten« meiner Mutter als hintergründige Vaterfigur oder Geliebten satt - aber wie diesen »Geist« los werden? Es gab noch einen zweiten Geist in der Familiengeschichte meiner Mutter: ihren Vater. Sie war erst sechs Jahre alt, als er starb. Er war Kürschner und Pelzhändler gewesen. Im Keller ihres Elternhauses hatte sie oft ein Familienwappen derer von Leopoldstein bewundert, und es hieß, die Familie Leopold sei adligen Ursprungs und stamme aus Österreich. Nähere Untersuchungen machten es eher wahrscheinlich, dass die jüdische Herkunft des Vaters verborgen werden sollte.
Wollte ich meine Mutter überhaupt noch glücklich machen? Ich glaube schon, obwohl - sei es mir bewusst oder unbewusst - mittlerweile Glück wie Unglück ganz andere Inhalte bekommen hatten; das galt auch für meine Mutter. Mir schien, um glücklich zu sein, sollte sie sich mit ihrer Seele auseinandersetzen, an ihren Erinnerungen arbeiten, sich über sich und »ihre Wahrheit« so viel wie möglich Gedanken machen, sie war ja eine intelligente, warmherzige, begabte, gebildete Frau. Mit anderen Worten: Für sie sollte der Weg zum Glück den gleichen kritischen Inhalt haben, wie es mittlerweile für mich der Fall war - nämlich die Psychoanalyse, die zu immer neuen und nie endenden Erkenntnissen über die Wahrheiten der eigenen und fremden Seele führte und damit auch zur genauen Wahrnehmung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält - oder auch nicht zusammenhält.
Der Ursprung meines Wunsches, meine Mutter glücklich zu machen - so glaubte ich mittlerweile -, war in dem Bedürfnis zu suchen, sie von der Trauer um ihren verstorbenen Verlobten zu befreien, die ihr nie ganz erlaubt hatte, im Hier und Jetzt zu leben. Die »Unfähigkeit zu trauern« war bei ihr - wie bei so vielen ihrer Zeitgenossen - allzu lange mit einer Unfähigkeit verbunden, Idealisierungen aufzugeben und sich der realen Gegenwart zuzuwenden. Zweifellos war sie ein liebes- und leidensfähiger Mensch. Mit anderen Worten, sie ließ weder ihre Kinder noch ihren Mann oder Freunde ins Leere laufen, wenn sie ihre Gefühle offen zeigten und bei ihr Verständnis suchten, wie das bei einer bestimmten Art von Trauerkranken, von mir als Hoffnungskranke bezeichnet, der Fall ist, die niemals die Hoffnung aufgeben, den Geliebten zurückzugewinnen und sonst für nichts und niemand wirkliches Interesse aufbringen. So war meine Mutter gewiss nicht. Dennoch litt ich als Kind immer wieder unter ihren traurigen Augen - dann schien sie mir fern und unerreichbar, wofür ich mir die Schuld gab. Was der Beschreibung der Psychoanalytikers André Green nahekommt, der das Phänomen einer durch ihre Trauer abwesenden Mutter oder einer ähnlich bedeutsamen Person mit dem Begriff der »toten Mutter« bezeichnet. Das Wesen des traumatisierten Menschen, dessen Trauer unverarbeitet blieb, ist der psychische Stillstand.
Die verschiedenen Abschnitte meines Lebens, die ich in Bezug auf die Entwicklung meines »Lebenssinnes« bisher darzustellen versuchte, erstreckten sich über folgende Zeitgeschichte: 1917 gegen Ende des Ersten Weltkrieges an der dänisch-deutschen Grenze geboren, erinnere ich mich noch an Zeiten, in denen ich aus Kartoffeln und Rüben auf meinem Teller einen Garten mit Gemüsebeeten machte, weil ich keine Lust hatte, Kartoffeln und Rüben zu essen. Daraus ergibt sich natürlich, dass wirklicher Hunger bei uns nicht zu Hause war. 1920 erfolgte dann die Abstimmung, die dazu führte, dass der Teil Schleswigs, in dem ich geboren war, Dänemark zugeschlagen wurde - zur Begeisterung meines Vaters, der aus national-dänischer Familie stammte, die seit dem verlorenen deutsch-dänischen Krieg 1866 für die Wiedervereinigung, »Genforening«, mit Dänemark gekämpft hatte. Kummer bei meiner Mutter, die aus Lübeck stammte und - wenn auch gemäßigt - doch eine nationalgesinnte Deutsche und Bismarck-Verehrerin war. Der Begriff »Wiedervereinigung« galt also für die Dänen und nicht für die deutsche Minderheit. Sie war nicht zu vergleichen mit der zweiten »Wiedervereinigung«, die ich erlebte, die zwischen Ost- und Westdeutschen 1989. Der Unterschied war eklatant. 1920 musste sich eine Minderheit nach rechtmäßiger Wahl diesem Ergebnis fügen - es blieb der nationale Unterschied in der Familie oder im Lande und nicht der einer Entfremdung von Angehörigen gleicher Nationalität, wie es nach Ende der ersten Euphorie bei der deutschen Wiedervereinigung der Fall war, als sich gemeinsam Besiegte quasi als Gewinner und Verlierer fühlten und nicht als ein wiedervereintes Ganzes.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Was ist Lebenswerk? Ich bin 93 Jahre alt. Was hat diese Jahre beeindruckt, beeinflusst, was scheint mir, von heute aus gesehen, wesentlich für den Gang oder Lauf meines bisherigen Lebens gewesen zu sein? Ich möchte versuchen, Erkenntnisse über mich, mein Denken und Handeln, meine Welt, meine Geschichte zu gewinnen und wiederzugeben, was ich als Wahrheit in und um mich herum zu erkennen glaubte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mein »Lebenswerk« sich mit Emanzipation im weitesten Sinn beschäftigt, das heißt mit der Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien, die in meinem Leben zur mörderischen Begeisterung für einen Verbrecherstaat und über lange Zeit zu einer neuen Variante der Entwertung der Frau und ihrer Stellung in der Gesellschaft führten. Ist »Lebenswerk« gleich Lebenssinn, oder ergibt sich »Lebenswerk« aus dem, was man als den Sinn seines Lebens ansieht? Keine so leicht zu beantwortende Frage, da im Laufe der Zeit Lebenssinn und Lebenswerk sich verändern, sich gegenseitig beeinflussen und von Zufall und »Schicksal« nicht verschont bleiben.
»Lebenswerk« und »Lebenssinn«: Damit ist unmittelbar auch die Frage der Ethik angesprochen. Aber was ist Ethik heute? Wer bestimmt, was »gut«, was »böse« ist? Gibt es sie noch, die für alle gültigen Werte und Normen oder die von allen geteilte Lehre vom »richtigen Leben«? Müssen wir uns nicht eher mit der »traurigen Wissenschaft« zufriedengeben, mit den »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, wie sie uns Adorno als »Minima Moralia« nahegebracht hat?1 Als ich vor einiger Zeit gefragt wurde, ob die Psychoanalyse nicht dazu neige, den Menschen die Verantwortung für ihr Handeln abzunehmen, indem diese sich auf Freuds »Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause« berufen könnten, wandte ich ein, dass gerade die Psychoanalyse vom informierten Zeitgenossen verlange, sich die unbewussten Dimensionen seiner Triebwelt, wie sie in seinen Wünschen, Affekten, Phantasien offenbar werden und sein Handeln beeinflussen, bewusst zu machen, um so eine begründete Verantwortung für sein Verhalten übernehmen zu können.
Ich bin weder Philosophin noch Historikerin und werde mich deshalb darauf beschränken, anhand autobiographischer Daten diese Wechselwirkung zwischen Leben, Lebenssinn und Lebenswerk zu veranschaulichen und psychoanalytisch zu verstehen. »Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht«, so Freud. Also war ich krank, denn darüber, was mein Leben für einen Sinn haben könnte, habe ich schon früh nachgedacht. Oder war ich nur ein Kind meiner Zeit und Kultur, die verlangten, dass man seinem Leben eine Bedeutung gab? Jedenfalls mit etwa sechs, sieben oder acht Jahren meinte ich, es darin erkannt zu haben, dass ich meine Mutter glücklich machen sollte. Nicht, dass meine Mutter besonders viel Unglück ausstrahlte, aber ich glaubte doch früh zu erkennen, dass die Heirat mit meinem Vater für sie ein Akt der Resignation gewesen war, dass die »große Liebe« ihrer Vergangenheit angehörte. Das mag auch durchaus so gewesen sein, obwohl mir mittlerweile klar ist, dass der Wunsch, seine Mutter glücklich zu machen, von vielen meiner Analysandinnen geteilt wird, ihr Leben und ihr Verhalten nicht unwesentlich prägt und von Deutungen des mütterlichen Seelenlebens abhängt, die mehr eigenen Phantasien entnommen sind als der Realität. Jedenfalls störte es mein seelisches Gleichgewicht erheblich, wenn ich meine Mutter traurig wähnte.
Mein Vater, ein denkbar verlässlicher, etwas zur Depression neigender Mann, war ihr sehr zugetan, sah vielleicht in ihr durchaus das, was ich als »große Liebe« ansah, wenn er überhaupt geneigt war, in diesen Kategorien zu denken. Jedenfalls hatte er, bevor sie in sein Leben trat, ein ziemlich freudloses Leben als Witwer mit drei Kindern geführt, so zumindest sah ich es oder wollte es so sehen. Dass sein wie mein Leben erst mit ihr begann, schien mir selbstverständlich.
Wie dem auch sei: Für mich war es eine Lebensaufgabe, meine Mutter glücklich zu machen, was mir in gewisser Weise sogar gelungen zu sein scheint. Das ist sicherlich ein Glücksfall, den ich hochzuschätzen gelernt habe, denn gerade der fehlte manchen meiner Analysandinnen, die an demselben »Symptom« litten, aber keine Chance hatten oder sich die Chance verdarben, ihre »Mutter glücklich zu machen«.
Ich hatte also Glück - aber warum? Ich denke, die Theorie der Psychoanalytikerin Melanie Klein, nach der das Kleinkind im ersten Lebensjahr verfolgenden und destruktiven Phantasien (paranoid-schizoide Phase) ausgesetzt ist, um mit wachsender Beziehungsfähigkeit zur emotionalen, mitmenschlichen Umgebung Schuldgefühle und Wiedergutmachungsbedürfnisse zu entwickeln (depressive Phase), würde folgende Antwort anbieten: Das Verhältnis Mutter und Tochter habe sich bei mir so gestaltet, dass ich in die depressive Phase eintreten und die früheste Phase mit ihren Verfolgungsphantasien so weit überwinden konnte, dass ich Schuldgefühle zu empfinden lernte und der unbewusste Wunsch nach Wiedergutmachung dieser für das erste Lebensjahr typischen aggressiven Phantasien immer stärker wurde. Es dauert ja manches Jahr, bis ein Kind zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden lernt. Wenn es sich um Phantasien handelt, die unbewusst sind und bleiben, mag deren Wirkung auf Charakter und Verhalten sich jedoch über ein ganzes Leben erstrecken. Bei mir überwog das Urvertrauen wohl bald die destruktiven Phantasien, die als Abwehr und Ausdruck der völligen Hilflosigkeit des Kleinkindes anzusehen sind, wie auch die Neigung, die nie ganz überwunden wird, sein eigenes Innenleben auf den anderen zu projizieren und zu glauben, dessen Innenleben (projektive Identifikation) zu kennen und beeinflussen zu können.
In meiner frühen Kindheit war meine Mutter die Einzige, bei der ich mich vollkommen aufgehoben fühlte, in deren Gegenwart ich mich meinen Gedanken, meinen Phantasien unbefangen zuwenden konnte, ohne dass ich Angst entwickeln musste, die äußere Welt dabei zu verlieren. Geben und Nehmen, so schien es mir, hielten sich im Gleichgewicht je nach Alter und Bedürfnissen von Mutter und Tochter - das aber vermissten viele meiner Analysandinnen, die glaubten, ihre Mutter nie zufriedenstellen zu können; dementsprechend gelang es ihnen nur selten, selbst glücklich und entspannt zu sein. Bewusst litten sie oft wenig unter Schuldgefühlen, in ihrem Charakter und Verhalten zeigten diese sich jedoch umso deutlicher. Ihre aggressiven Phantasien projizierten sie auf die Mutter, und sie neigten dazu, in ihren Liebes- und Freundschaftsbeziehungen ein Gefühl der Unzufriedenheit zu vermitteln: »Das Glas war nie halb voll, immer halb leer.« Sie waren wie ich zeitweilig »Tomboys«, das heißt Mädchen, die durch ihr Verhalten zeigen, dass sie lieber ein Junge gewesen wären. Für Freud entsprechen diese Wünsche der »phallischen Phase« kindlicher Entwicklung, in der das Mädchen als Mann die Mutter glücklich machen möchte - und das klappt selten oder nie. Meine Analysandinnen gingen im späteren Leben oft lesbische Beziehungen ein, die nicht weniger konfliktreich waren als das Verhältnis zur Mutter. Ich wählte einen anderen Weg, nicht ich war der Mann, der meine Mutter glücklich machen sollte, ich suchte ihn für mich aus, um ihn meiner Mutter zu übergeben. Ich werde darauf zurückkommen.
Die Atmosphäre der sicheren Distanz und die »Raum« ermöglichende Beziehung zu meiner Mutter erlaubten es mir, mich meinen Gefühlen und Phantasien hinzugeben, ohne allzu große Angst zu haben, meine Mutter könne mir innerlich verlorengehen. Ich las alles, was mir in die Finger kam, damit entfernte ich mich eher von meiner Mutter, was mich aber offensichtlich nicht bedrückte, denn Lesen war eine Sucht, die mir die Mutter erlaubte, mein Spitzname im Quartett mit den drei besten Freundinnen war »Leseratte«.
Ich war in der »Glückshaube« geboren, und offensichtlich erlebte ich mich bis zu meiner relativ früh einsetzenden Pubertät immer noch in einer schützenden Haube geborgen. Mein Vater, ein von seiner Arbeit oft überforderter Landarzt, war mir eher fremd. Wenn ich mit ihm allein war, fühlte ich mich unfrei, beklommen und wenig geneigt, Persönliches mit ihm zu besprechen. Also mein Lebenssinn war, meine Mutter glücklich zu machen, und ich war mir auf naive Weise sicher, dass sie das auch akzeptierte. Bin ich deswegen Psychotherapeutin geworden, wollte ich sie oder mich heilen oder später meine Mitmenschen glücklich machen? Oder spielte etwas anderes dabei die wesentliche Rolle, etwas, das ich nicht wahrhaben wollte, nämlich die Unfähigkeit, einen »Dritten« neben mir zu dulden? Verleugnete ich dessen Existenz im Seelenleben meiner Mutter? Zumindest war ich fest davon überzeugt, dass weder mein Vater noch mein Bruder ernstzunehmende Rivalen im Kampf um die Liebe meiner Mutter waren. Nur einen gab es: den verstorbenen Verlobten, dessen Bild auf ihrem Schreibtisch stand und den sie oft erwähnte. Diesen zu erobern oder ihn als Rivalen bei meiner Mutter aus der Welt zu schaffen hat manche meiner Lebensentscheidungen beeinflusst.
Das war also meine Art, mit dem seit Freud so berühmten Ödipuskomplex umzugehen.
Wie zu erwarten war, änderte sich die Beziehung zu meiner Mutter während meiner Pubertät, wenn auch nicht grundsätzlich, so doch im Sinne dessen, dass sie nicht mehr alleiniger Mittelpunkt meines Lebens war. Neben ihr gab es andere und anderes, was durchaus in ihrem Sinne war. Meine Freundinnen wurden auch die ihren, was mich weit mehr befriedigte, als dass es mich eifersüchtig machte.
Mit 14, 15, 16 Jahren steht man vor der Aufgabe, erwachsen zu werden, Lebensweg und Lebenssinn richten sich darauf ein, für sich selbst verantwortlich zu sein. Die Abhängigkeiten von Menschen in der äußeren Welt wie von deren Bedeutung in der inneren sind langsam, aber sicher von anderer, bisher unbekannter Natur. Die große weite Welt öffnet sich uns, wir gehen mit gespannter Erwartung der Zukunft entgegen, schüchtern erst, je mehr man von der Welt zu wissen glaubt und je mehr man sich mit wachsender Erfahrung darüber klar wird, wie wenig man von ihr weiß bzw. dass man nur sieht, was man weiß oder glaubt zu wissen. Angst und Unkenntnis der eigenen Gefühlswelt stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Je weniger wir mit unseren Gefühlen verstehend umgehen können, umso ängstlicher sind wir und umso geringer ist die Neigung, uns dem Unbekannten zu öffnen, neugierig auf das »Nicht-Identische« zu sein oder es überhaupt wahrnehmen zu wollen. Die ödipale Stufe der Entwicklung zu erreichen, das Verbot seiner inzestuösen Wünsche zu verinnerlichen, ein Über-Ich auszubilden und mit Hilfe dieser psychischen Struktur der symbiotischen Beziehung zur Mutter zu entfliehen wird auch als Tor zur Welt bezeichnet, in der der andere als anderer wahrgenommen und die Vielfältigkeit des Lebens erkannt wird.
Mit dem Verlassen des Elternhauses - ich war kaum 15 Jahre alt -, mit dem Eintritt in eine neue Schule in der »Großstadt« Flensburg, mit der größeren Unabhängigkeit von Familie und Eltern, mit der Erfahrung eines zuerst überwältigenden, dann nachlassenden Heimwehs, der Aufnahme neuer Eindrücke änderte sich auch der »Sinn meines Lebens«. Ich begann darüber nachzudenken, was das eigentlich heißt: Du willst deine Mutter glücklich machen. Dahinter steckte doch die altmodische Vorstellung, Glück sei Liebe und dieses durch Heirat mit dem »richtigen« Mann zu erreichen. Dieses Glück hatte ja meine Mutter - so meinte ich - sowieso verpasst, weswegen ja für mich wenig Aussicht bestand, dass dieser mein »Lebenssinn« erfüllt werden könnte. Das waren so gelegentlich auftauchende Gedanken, und ich trat in die zweite Phase meines »Lebenssinnes« ein. Ich war hungrig auf Welt und Wissen, dann kamen die Verliebtheiten mit 16 oder 17 Jahren, die gemeinsam beredete Sache mit meinen Freundinnen waren, aber der Mutter eher verschwiegen wurden, und die ich mit ziemlicher Wucht seelischer Natur hinter mir ließ, als ich mich in meine Deutschlehrerin verliebte. Diese öffnete mir und meinen besten Freundinnen die weite Welt der Literatur, in der man mit ganz anderen Schicksalen und Lebensweisen als den eigenen konfrontiert wird. Sie förderte unsere Fähigkeit, kritisch zu denken, Gefühle mit Gedanken zu verbinden, mit anderen Worten: aus Erfahrung zu lernen. Und sie öffnete uns auch die Augen dafür, wie primitiv die Ideologie des ›Dritten Reiches‹ war und dass es in Deutschland Menschen gab, die die Entwicklung zum ungehemmten »Nationalsozialismus« distanziert und illusionsfrei wahrnahmen. Im Grenzland Nordschleswig (Sönderjylland) war eine solche Haltung in der deutschen Minderheit kaum zu finden. Wie meist in Grenzgebieten zweier Nationen, wo jeder der Rivalen sein überlegenes Wertgefühl zu verteidigen sucht, vernebelt der Nationalismus kritische Sicht oder Einsicht.
Wünsche, zu einem anderen Teil des Selbst, meines Lebens vorzustoßen, wurden bei mir wach, die anderswo angesiedelt waren als den »richtigen Mann« zu finden, eine Familie zu gründen mit dem glücklichen Ende »and they lived happily ever after«. Das schien mir wie vielen meiner Generation kitschig und spießig zu sein, wir wussten zu viel, um an dauerhaftes eheliches Glück glauben zu können. Wir wollten einen Weg darüber hinaus, der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft einschloss und offen blieb bis ans Lebensende. Es war klar, außer dem traditionellen frauenspezifischen Streben nach Glück im Sinne von Ehe und Familie gab es andere wahrhaftigere, spannendere Ziele. Aber das war natürlich auch eine Wiederholung früher Lebenseinstellungen, in einer neuen Lebensphase zog ich die Frau dem Mann vor.
Die Liebe zu meiner Lehrerin, der Wunsch, in ihr mein Vorbild zu sehen, war auch eine Wiederholung früher Lebenseinstellungen; in einer neuen Lebensphase war es wiederum eine Frau - meiner Mutter nicht ganz unähnlich -, die ich den Männern vorzog.
Meine erotische Zuwendung zum anderen Geschlecht beeinflusste die Wahl meiner Lehrerin als Vorbild und Liebesobjekt allerdings nicht, was auch bedeutete, dass ich gleichzeitig auf Vatersuche war. Ich suchte ihn in diesem oder jenem Lehrer, im Vater meiner Freundin, in deren Familie ich in den letzten beiden Jahren meiner Schulzeit als Ersatz für die aus dem Haus gegangene Tochter aufgenommen wurde. Er war bis 1937 Polizeipräsident. In seinem Haus fand man viele der bereits verbotenen Bücher, wie z. B. Freuds oder Brechts Schriften. Er war der Sohn eines preußischen Generals, seine Mutter ließ sich mit »Exzellenz« anreden und die Hand küssen, worüber er sich lustig machte. Er war also ein kritischer und überlegener Mensch und entsprach meiner Vatersuche. Wiederum änderte sich mein alter Lebenssinn: meine Mutter glücklich zu machen, ohne dass ich mir bewusst darüber im Klaren war. Brauchte ich diesen »Sinn«, um meinem Leben Struktur zu geben bzw. ein Gefühl für Zeit zu entwickeln, damit das Leben mir nicht wie Sand durch die Finger floss? Kultur ohne Struktur hat keinen Boden. Aber wollte ich sie überhaupt noch glücklich machen, wie konnte das denn aussehen, war das nicht nur naiv?
Bewusst und Unbewusst sind zweierlei seelische Bereiche, die einander fremd sind; das bewusste Ich wird von seinen der Verdrängung anheimgefallenen Triebimpulsen weitgehend beherrscht, ohne seinen Gegner auch nur wahrzunehmen. Das Ich ist nach Freud bekanntlich nicht Herr im eigenen Haus. Davon wusste ich, bevor ich selber eine Analyse begann und mich in diesem Fach ausbilden ließ, nicht allzu viel.
Ich verband mich mit einem Mann, der an Tuberkulose litt, darin ähnlich der »großen Liebe« im Leben meiner Mutter, der Verlobte, der kurz vor der Hochzeit mit ihr an ebendieser Krankheit sterben musste. Diesen kranken jungen Mann, meinen Freund, schickte ich zu ihr, damit sie ihm helfen sollte, wieder gesünder zu werden. Das endete in einer ziemlichen Katastrophe, ich entfloh dieser Verbindung, meine Mutter aber war noch eine ganze Zeit mit einem seelisch sehr gestörten Menschen konfrontiert, der ihr das Leben ziemlich schwer machte. Mein Versuch, meine Mutter glücklich zu machen, war offensichtlich gescheitert. Es war gewissermaßen der unbewusste Versuch, ihre Liebeswahl zu wiederholen oder auch, ihr den Verlobten in eigener Machtvollkommenheit zurückzugeben, eine Rückkehr in die Vergangenheit, die nicht durch das »Schicksal« ihren Abschluss finden sollte, sondern durch eigenen Willen, um dadurch ihre Trauer endgültig zu beenden.
Irgendwie hatte ich den »Verlobten« meiner Mutter als hintergründige Vaterfigur oder Geliebten satt - aber wie diesen »Geist« los werden? Es gab noch einen zweiten Geist in der Familiengeschichte meiner Mutter: ihren Vater. Sie war erst sechs Jahre alt, als er starb. Er war Kürschner und Pelzhändler gewesen. Im Keller ihres Elternhauses hatte sie oft ein Familienwappen derer von Leopoldstein bewundert, und es hieß, die Familie Leopold sei adligen Ursprungs und stamme aus Österreich. Nähere Untersuchungen machten es eher wahrscheinlich, dass die jüdische Herkunft des Vaters verborgen werden sollte.
Wollte ich meine Mutter überhaupt noch glücklich machen? Ich glaube schon, obwohl - sei es mir bewusst oder unbewusst - mittlerweile Glück wie Unglück ganz andere Inhalte bekommen hatten; das galt auch für meine Mutter. Mir schien, um glücklich zu sein, sollte sie sich mit ihrer Seele auseinandersetzen, an ihren Erinnerungen arbeiten, sich über sich und »ihre Wahrheit« so viel wie möglich Gedanken machen, sie war ja eine intelligente, warmherzige, begabte, gebildete Frau. Mit anderen Worten: Für sie sollte der Weg zum Glück den gleichen kritischen Inhalt haben, wie es mittlerweile für mich der Fall war - nämlich die Psychoanalyse, die zu immer neuen und nie endenden Erkenntnissen über die Wahrheiten der eigenen und fremden Seele führte und damit auch zur genauen Wahrnehmung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält - oder auch nicht zusammenhält.
Der Ursprung meines Wunsches, meine Mutter glücklich zu machen - so glaubte ich mittlerweile -, war in dem Bedürfnis zu suchen, sie von der Trauer um ihren verstorbenen Verlobten zu befreien, die ihr nie ganz erlaubt hatte, im Hier und Jetzt zu leben. Die »Unfähigkeit zu trauern« war bei ihr - wie bei so vielen ihrer Zeitgenossen - allzu lange mit einer Unfähigkeit verbunden, Idealisierungen aufzugeben und sich der realen Gegenwart zuzuwenden. Zweifellos war sie ein liebes- und leidensfähiger Mensch. Mit anderen Worten, sie ließ weder ihre Kinder noch ihren Mann oder Freunde ins Leere laufen, wenn sie ihre Gefühle offen zeigten und bei ihr Verständnis suchten, wie das bei einer bestimmten Art von Trauerkranken, von mir als Hoffnungskranke bezeichnet, der Fall ist, die niemals die Hoffnung aufgeben, den Geliebten zurückzugewinnen und sonst für nichts und niemand wirkliches Interesse aufbringen. So war meine Mutter gewiss nicht. Dennoch litt ich als Kind immer wieder unter ihren traurigen Augen - dann schien sie mir fern und unerreichbar, wofür ich mir die Schuld gab. Was der Beschreibung der Psychoanalytikers André Green nahekommt, der das Phänomen einer durch ihre Trauer abwesenden Mutter oder einer ähnlich bedeutsamen Person mit dem Begriff der »toten Mutter« bezeichnet. Das Wesen des traumatisierten Menschen, dessen Trauer unverarbeitet blieb, ist der psychische Stillstand.
Die verschiedenen Abschnitte meines Lebens, die ich in Bezug auf die Entwicklung meines »Lebenssinnes« bisher darzustellen versuchte, erstreckten sich über folgende Zeitgeschichte: 1917 gegen Ende des Ersten Weltkrieges an der dänisch-deutschen Grenze geboren, erinnere ich mich noch an Zeiten, in denen ich aus Kartoffeln und Rüben auf meinem Teller einen Garten mit Gemüsebeeten machte, weil ich keine Lust hatte, Kartoffeln und Rüben zu essen. Daraus ergibt sich natürlich, dass wirklicher Hunger bei uns nicht zu Hause war. 1920 erfolgte dann die Abstimmung, die dazu führte, dass der Teil Schleswigs, in dem ich geboren war, Dänemark zugeschlagen wurde - zur Begeisterung meines Vaters, der aus national-dänischer Familie stammte, die seit dem verlorenen deutsch-dänischen Krieg 1866 für die Wiedervereinigung, »Genforening«, mit Dänemark gekämpft hatte. Kummer bei meiner Mutter, die aus Lübeck stammte und - wenn auch gemäßigt - doch eine nationalgesinnte Deutsche und Bismarck-Verehrerin war. Der Begriff »Wiedervereinigung« galt also für die Dänen und nicht für die deutsche Minderheit. Sie war nicht zu vergleichen mit der zweiten »Wiedervereinigung«, die ich erlebte, die zwischen Ost- und Westdeutschen 1989. Der Unterschied war eklatant. 1920 musste sich eine Minderheit nach rechtmäßiger Wahl diesem Ergebnis fügen - es blieb der nationale Unterschied in der Familie oder im Lande und nicht der einer Entfremdung von Angehörigen gleicher Nationalität, wie es nach Ende der ersten Euphorie bei der deutschen Wiedervereinigung der Fall war, als sich gemeinsam Besiegte quasi als Gewinner und Verlierer fühlten und nicht als ein wiedervereintes Ganzes.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Autoren-Porträt von Margarete Mitscherlich
Mitscherlich-Nielsen, MargareteMargarete Mitscherlich-Nielsen, geb. 1917 in Dänemark, war Psychoanalytikerin, Medizinerin und Autorin zahlreicher Bücher. Die Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin studierte Medizin und Literatur in München und Heidelberg und wurde 1950 in Tübingen zum Dr. med. promoviert. 1947 traf sie in der Schweiz den Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908-1982), den sie 1955 heiratete. Gemeinsam bemühten sie sich nach dem Krieg um die Wiederbelebung der Psychoanalyse in Deutschland. 1960 war sie Mitbegründerin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, wo sie fortan vorrangig arbeitete, und fungierte viele Jahre als Herausgeberin der Zeitschrift 'Psyche'. Gemeinsam mit ihrem Mann veröffentlichte Margarete Mitscherlich 1967 das bahnbrechende Buch 'Die Unfähigkeit zu trauern'. Es folgten u.a. 'Die friedfertige Frau' (1985), 'Die Zukunft ist weiblich' (1987) und 'Über die Mühsal der Emanzipation' (1990). Margarete Mitscherlich ist 2012 in Frankfurt am Main verstorben.Literaturpreise:In Anerkennung ihres wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Engagements für die Emanzipation und Chancengleichheit von Frauen erhielt Margarete Mitscherlich 2005 den Tony Sender-Preis der Stadt Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Margarete Mitscherlich
- 2011, 5. Auflage, 270 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359618956X
- ISBN-13: 9783596189564
- Erscheinungsdatum: 08.09.2011
Pressezitat
Margarete Mitscherlich ist alt und gescheit und kein bisschen allwissend geworden. Deutschlandradio Kultur 201011
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