Fünf Deutschland und ein Leben
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Fritz Sterns Erinnerungen sind weise, entschieden im Urteil, subtil. Sie sind vor allem das Werk eines leidenschaftlichen Bürgers und Demokraten. Fünf Deutschland und ein Leben legt grandios Zeugnis ab von der Überzeugung, dass die Geschichte uns eine Lehrmeisterin sein kann für ein moralisches Leben als Bürger und als Mensch. Die "deutsche Frage" wirft ihren Schatten auf die moderne Welt: Wie war es möglich, dass eine so zivilisierte Nation für das schrecklichste Verbrechen des 20. Jahrhunderts verantwortlich wurde? In diesem Buch, einer einzigartigen Verbindung aus Erinnerung und Geschichtsschreibung, betrachtet der grosse Historiker und Friedenspreisträger Fritz Stern die Frage durch das Prisma seines eigenen Lebens. Er verwebt historische Meistererzählung, scharfsinnige Analysen und dramatische Episoden seiner Lebensgeschichte zu einem unvergesslichen Portrait jener fünf Deutschland, die er selbst miterlebt hat: Weimar, das "Dritte Reich", Bundesrepublik und DDR, das vereinigte Deutschland nach 1989. Seine Freundschaften mit deutschen Intellektuellen und Politikern haben ihm besonders tiefe Einblicke in die Grundlegung der liberalen Demokratie eröffnet. Doch Stern zeigt auch, dass die unruhige deutsche Geschichte politische Lektionen für die Bürger überall bereithält - vor allem für solche, die der Gefahr der Tyrannei entgegentreten wollen.
"Ein weises und tief bewegendes Buch der Erinnerung, zugleich ein brillanter Führer durch Deutschland in den letzten 75 Jahren."
Louis Begley
Fünf Deutschland und ein Leben von Fritz Stern
LESEPROBE
Dienachfolgenden Hohen Kommissare Amerikas in Bonn, John J. McCloy und James Conant, hatten stets entschlossen demokratischeEntwicklungen in Westdeutschland gefördert, und allmählich änderten sich die Ansichtender Westdeutschen über die Vereinigten Staaten; sie gaben alte Stereotype übereinfältige Cowboy-Besatzer auf und sahen in den Amerikanern eher Vertretereiner vorbildlichen Gesellschaft, von der eine neue Generation von Deutschenetwas lernen konnte. Das Bildungswesen sollte beim Aufbau der Demokratie einezentrale Rolle spielen. Ein zeichensetzendes Ereigniswar dann die Gründung der Freien Universität Berlin im Dezember 1948 eine direkteReaktion darauf, dass einige Wissenschaftler aus derim sowjetischen Sektor gelegenen Berliner Universität verbannt worden waren.Gleichzeitig rebellierten Studenten und Lehrer aus dem Osten gegen diekommunistische Gleichschaltung, zogen nach West-Berlin und schufen mitamerikanischer Hilfe die Freie Universität. Der grosse alte Mann der deutschenGeschichte, Friedrich Meinecke, inzwischen achtzig, wurde bewogen, ihr ersterRektor zu werden, und der damalige Präsident von Columbia, Dwight D.Eisenhower, erklärte sich fast umgehend damit einverstanden, dass Columbia die neue Institution «adoptierte».
Neumannwurde zum eigentlichen Architekten der amerikanischen Hilfe für die FU und derengen Beziehungen zwischen den beiden Universitäten. Die Freie Universitäterhielt Unterstützung von der Stadt (West-) Berlin und vom Amt des HohenKommissars, aber Neumann drängte auch die Ford Foundation,sie zu unterstützen; Ford stiftete über eine Million Dollar für eineBibliothek, einen grossen Hörsaal und eine Mensa, die besonders für jeneStudenten gedacht war, die unter beträchtlichem persönlichem Risiko täglich ausOst-Berlin herüberkamen; ihr Anteil betrug etwa 40 Prozent. Neumann bewog Fordausserdem, ein akademisches Austauschprogramm zu schaffen, so dass Columbia-Professoren in Berlin und Berliner Professorenin Columbia lehren konnten. Die erhebliche Investition der Ford Foundation war Ausfluss derErkenntnis, dass der Kalte Krieg auch im Bereich derKultur geführt werden musste.
Bis 1954hatte sich die wirtschaftliche und politische Stellung der Bundesrepublik beträchtlichgefestigt. Adenauers Herrschaft, als «Kanzlerdemokratie » bezeichnet, verhalfBonn zu einer Stabilität, die Weimar nie besessen hatte. Er drang entschlossenauf dieWestintegration und bemühte sich danebengeschickt um die moralische Rehabilitierung seines Landes: 1952 schloss er mit dem israelischen Ministerpräsidenten DavidBen- Gurion ein Wiedergutmachungsabkommen, aus dem imLaufe der nächsten zwölf Jahre Reparationen in Höhe von drei Milliarden Mark andas jüdische Volk fliessen sollten; Israel finanzierte damit seinen dringendstenmilitärischen Bedarf. Die Vereinigten Staaten und Adenauer sannen unterdessen aufeine Form, in der deutsche Soldaten zur Verteidigung Westeuropas beitragenkönnten. Man diskutierte über verschiedene Pläne für eine EuropäischeVerteidigungsgemeinschaft unter Einbeziehung Westdeutschlands - sie bestimmtensogar die internationale Tagesordnung.
Um derdrohenden Entwicklung zuvorzukommen, unterbreitete Stalin 1952 einen aufsehenerregenden Plan für ein geeintes Deutschland, das neutralund frei von allen Besatzungstruppen sein sollte, eine Art Vakuum in der MitteEuropas. Nach kurzer, aber intensiver Diskussion verwarfen die Westmächte,darin energisch von Adenauer unterstützt, diesen in letzter Minute von denSowjets unternommenen Versuch, die weitere Integration Westdeutschlands in denWesten zu blockieren. Damit wurde die faktische Teilung des Landes besiegelt.Die westdeutschen Wahlen von 1953 zeigten, dassAdenauer über einen soliden Rückhalt verfügte, aber auch die Sozialdemokratengewannen leicht hinzu.
DieVereinigten Staaten, auf Adenauer angewiesen, machten ihm Zugeständnisse, vorallem in der Form, dass Industrielle, die dasNürnberger Gericht wegen Kriegsverbrechen zu langjährigen Haftstrafen verurteilhatte, vorzeitig entlassen wurden. Westdeutschland erreichte, dass die Alliierten von ihrer (schon mit erheblichen Mängelnbehafteten) Politik der Entnazifizierung abkamen und eine Politik deroffiziellen Nachsicht duldeten. Hatten unter der Herrschaft der Alliierten zumBeispiel 53 000 Beamte als Nazis ihre Stellen verloren, so waren inzwischenalle bis auf 1071 wieder im Dienst. Richter und Professoren kehrten auf ihrePosten zurück, und Adenauer akzeptierte sogar prominente ehemalige Nazis inseiner ministeriellen Entourage. Kritiker sprachen verächtlich von einer«Restauration». Das ostdeutsche Regime stellte Bonn mit ausgesprochenemVergnügen als ein Nest von Nazis und «Revanchisten» hin. Rückblickend würde ichsagen, dass Adenauer eine unzulässige personelleKontinuität in Kauf nahm, um eine grundlegend neue westliche Orientierung inder westdeutschen Politik voranzutreiben. Auch er verfolgte natürlich seine kleinlichenpolitischen Interessen, aber seine Haltung war auch Ausdruck seines Misstrauens in die Reife des eigenen Volkes - Säuberung hinoder her.
Neumann ludmich ein, mit ihm gemeinsam im Sommersemester 1954 an der Freien Universität zulehren, und ich ergriff begeistert die Gelegenheit zu einer weiteren Reise nachEuropa. Die Überfahrt erfolgte wieder auf einem französischen Schiff, der Liberté. (Zuvor war sie ein berühmter deutscher Dampfergewesen, die Europa, die im Zuge der Reparationen von den Franzosen übernommen,umgetauft und aller Hinweise auf ihre deutsche Herkunft entledigt worden war.)Ich korrigierte während der Fahrt Prüfungshefte und warf sie nach der Benotungeines nach dem anderen über Bord, eine Geste, die irgendwie meiner Freudeentsprach, auf dem Schiff zu sein; Jahre später bemerkte mein Sohn, er habemich nie so glücklich erlebt wie auf dieser Atlantiküberquerung. An Borderfuhren wir von der einstimmigen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Brownv. Board of Education, mit der die Rassentrennung inden Schulen für verfassungswidrig erklärt wurde. Ein grossartiges Geschenk füreinen, der den Deutschen in Kürze die Vorzüge der amerikanischen Demokratie erklärensollte!
Nach einemkurzen, freudigen Zwischenaufenthalt in Paris fuhren wir mit dem Zug nachFrankfurt, wo sich das amerikanische Hauptquartier befand. Da ich Gastprofessoran der Freien Universität war, hatte man uns mit amtlichen Reisepapieren desHohen Kommissars für Deutschland (HICOG) versehen, ausgestellt auf englisch und russisch, für den täglichen Militärzug vonFrankfurt nach Berlin. Wir waren einen Tag früher angekommen als geplant, undso galten sie erst am nächsten Abend. Ich eilte ins Hauptquartier - es war dasehemalige IG Farben-Hochhaus, gebaut von Hans Poelzig und im Hinblick auf einespätere Nutzung durch die Alliierten vor Bombenangriffen verschont -, wo einfreundlicher Captain Brown uns in eineMilitärunterkunft einquartierte und Dollars in Besatzungsgeld umtauschte;Transaktionen, die mehr auf Gefälligkeit als auf den Vorschriften beruhten.* Ertauschte mehr, als ich brauchte, und informierte mich über die sowjetischeBedrohung, gegen die die Vereinigten Staaten grosse Waffendepots angelegt hatten,aus denen notfalls die Deutschen bewaffnet werden sollten; griffen die Sowjetstatsächlich an, würde man uns zweiundsiebzig Stunden vorher benachrichtigen!
Dienächtliche Zugfahrt nach Berlin war denkwürdig. Nach den sowjetischen Vorschriftenmussten auf ostdeutschem Territorium, das noch immer vonsowjetischen Truppen «beschützt» wurde, die Rollos heruntergezogen werden. BeiMorgengrauen erspähte ich durch einen Schlitz einen sowjetischen Soldaten, dermit umgehängtem Gewehr dort in der Mitte Europas stand: Was für einemerkwürdige Erscheinung! Irgendwann am frühen Vormittag machte der Zugunplanmässig für längere Zeit Halt; neugierig, schoben wir vorsichtig die Rolloshoch: Wir hielten auf einem Nebengleis im Bahnhof Magdeburg, rund achtzigKilometer von Berlin entfernt. Gegenüber wartete eine grosse Menge Pendler aufihren Zug; sie winkten meiner dreijährigen Tochter zu, und als der Zug sichwieder in Bewegung setzte, rief sie: «Bye, bye!» Die Ostdeutschen antwortetenunisono. Eine harmlose Art, amerikanischen Einfluss zuverbreiten (oder sich über die sowjetische Herrschaft lustig zu machen?). Einunwiderstehliches Spiel. Die Freie Universität hatte uns Unterkunft in einer Dahlemer Villa besorgt, nicht weit von denverstreut liegenden Gebäuden, in denen die Universität untergebracht war. Dergrüne Stadtteil Dahlem war zugleich das Zentrum der amerikanischen Präsenz inWest-Berlin, eine Art Klein- Amerika, mitsamt Kasernen, Soldatenunterkünftenund dem Kernstück, Truman Hall, mit dem Kino und den Läden. CaptainBrown hatte bereits die Kulturabteilung von HICOG über unser Kommen informiert,und ich hatte von Anfang an ein enges Verhältnis zu ihnen. Psychologisch war esfür mich lebenswichtig, in einem Land, das einst mein Land gewesen war, esjetzt aber nicht mehr war, den Rückhalt meiner amerikanischen Identität zubesitzen.
Ich kam mitsehr gemischten Gefühlen nach Berlin. Beherrschend war das Gefühl derFremdheit: Ich hatte nie in Berlin gelebt, und schon als Kind kannte ich Londonund Paris besser. Ich musste mich in vielerlei Hinsichtneu orientieren, besonders was die Menschen betraf, die mir begegneten, sei esunsere Vermieterin mit ihrem Oberschicht-Snobismus, seien es andere Berliner,die ich traf. Ich war durchaus misstrauisch und aufvorauseilende Weise feindselig: Was hatte mein Gegenüber zehn Jahre vorher getan?War er oder sie Nazi gewesen, oder noch Schlimmeres? Auf der Fahrt nach Berlinhatte ich Paul Roubiczek kennengelernt,einen in Cambridge lebenden tschechischen Philosophen, der jetzt ebenfalls ander Freien Universität lehrte, und er hatte mir zu dem Thema eine herrliche Anekdoteerzählt. 1946, als der Bahnverkehr in der britischen Besatzungszone wieder inGang gekommen war, betrat ein britischer Offizier ein Abteil, in dem bereitsdrei Deutsche sassen. Er wandte sich an den ersten Deutschen mit der Frage:«Waren Sie Mitglied der Nationalsozialistischen Partei?» Ärgerlich entgegneteder Deutsche, natürlich sei er nicht Mitglied gewesen; im Grunde hatte kaumjemand dazugehört, und an allem, was geschehen war, waren einzig ein paar Leutean der Spitze schuld. Nach einer Weile richtete der Offizier dieselbe Frage anden zweiten Deutschen, der noch wütender erwiderte, schon die Frage sei eineBeleidigung für ihn. ()
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Übersetzung:Friedrich Griese
- Autor: Fritz Stern
- 2007, Nachdruck, 675 Seiten, 27 Abbildungen, Masse: 15 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzer: Friedrich Griese
- Verlag: Beck
- ISBN-10: 3406558119
- ISBN-13: 9783406558115
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