Gierige Bestie
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Gierige Bestie von Thomas Müller
LESEPROBE
zurück in seine Wohnung zu bringen, obwohl einPolizist bereits
anwesend war. Er analysierte die Situation, dieBedürfnisse seines
Gegenübers und unter dem Vorwand, dass man sichgestritten
habe, war er in der Lage, das Auge des Gesetzes soweit wieder zu
schliessen, dass er sein Opfer zurück in die Wohnungbrachte, wo
er es schliesslich tötete.
Ein seltsamer Umstand, der mir plötzlich durch denKopf
ging. Denn war nicht Ello Dox derjenige, der mir eineFrage
stellte, obwohl er die Antwort schon darauf wusste?Antizipierte
er dadurch nicht, dass ich automatisch lügen musste,ausser wenn
ich ihm schlichtweg den Auftrag ins Gesicht knallteund ihm mitteilte,
ich sei hier, um die Daten zu sichern und sie in dieHände
der Justiz zurückzubringen? Der ganze Auftritt, seineersten Aussagen
und die nunmehr dargelegte Frage waren ein einzigerTest.
"Um von Ihnen zu lernen, Herr Dox, ich bin hier, umeinfach nur
von Ihnen zu lernen. Sie glauben, dass ich im Kapitel46 übertrieben
habe? Das habe ich nicht. Kapitel 46 ist das billigeVorspiel
von Dingen, die tagtäglich im Leben passieren.Menschen, die verzweifelt
am Arbeitsplatz auf und ab gehen und sich nicht mehr
identifizieren können. Frauen, die um vier Uhr in derFrüh mit kleinen
Kindern, die schlafend auf ihrem Schoss liegen,dutzende,
manchmal hunderte Kilometer fahren müssen, um eineneue Arbeit
zu suchen, und weil sie niemanden haben, müssen sieihre Kinder
bereits um drei Uhr in der Früh aufwecken, um sie dortin die
Schule zu bringen. Männer, die ihre Familie nicht mehrernähren
können, und Kinder, die wochenlang beim Abendgebetnach ihrem
Vater fragen. Vielleicht manchmal für immer, weil erdie Schande
nicht mehr ertragen hat, keine Arbeit zu finden. Ichmöchte, Herr
Dox, einfach nur lernen. Von Menschen, die glauben,mit dem
Zünder der Atombombe in der Hand auf dem Hügelstehend, so
allmächtig zu sein, um über andere Menschen zu richtenund zu urteilen.
Das ist der einzige Grund, warum ich hier bin."
Ich blickte kurz zu den Französischen Alpen hinüber undwar
kurzzeitig geneigt, noch einen Schritt weiter zugehen. Mich einfach
umzudrehen, dass erschien mir dann aber doch zuriskant.
Ich verhehle nicht, dass er mir zu diesem Zeitpunktkurz extrem
auf die Nerven ging, mit seinen Spielchen, seinerManipulation
und Antizipation, indem er, einer chinesischen Geishagleich, mit
dem Wissen um seine widerrechtlich erlangten Daten wiemit
einem Fächer sich ständig frische Luft und damit Machtzufächelte.
Trotzdem, meine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.Ich
sprach nicht anklagend, sondern leise. Die Pausenwaren wohl
gewählt und Wortwahl und Metapher präzise undschneidend.
Ich wusste, dass das Vorausgehen seiner Frau, die dieGeburt seines
zweiten Kindes nicht überlebt hatte, zwar nicht dieUrsache,
aber die endgültig auslösende Katastrophe war. Ichwusste, dass
er noch verzweifelt versucht hatte, in der Firma durchwochenlange,
fast permanente Anwesenheit seine Identifizierungwieder
zu finden und dass sein erstes Kind sehr lange beimAbendgebet
auf ihn verzichten musste. Ich wusste einiges, abernicht alles. Das
Spiel war riskant, aber nicht hoffnungslos. Aber ichhatte mich
nun einmal entschlossen, das Gespräch zu suchen, alsomusste ich
es auch führen. Ich wollte hier, heute und jetzt nichtverhandeln.
Ich wollte sprechen. Ich wollte kommunizieren in einergeraden,
direkten, klaren und sauberen Art und Weise. Ichwollte keine
Desinformationen und keine Lügen. Ich wollte mit ihmauf eine
gleiche Ebene, um zu verstehen, was er getan hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl,dass
sich seine Augen etwas vergrössert hatten und er anseiner Zigarette
etwas hastiger zog. Aber er blieb standhaft undbeantwortete
mein kleines Plädoyer mit einer Gegenfrage, die, wiemir
schien, schon etwas tiefer zum eigentlichen Motivvordrang.
"Und wissen Sie, was mir am meisten auf die Nervengegangen
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ist?" Jetzt starrte er mich ungläubig an. Ich musstealles auf eine
Karte setzen. "Die Uhr, oder vielmehr das Uhrband. Dasbeständige
leise Klopfen, was im Laufe der Zeit bei Ihnenwahrscheinlich
wie das gigantische Dröhnen einer hünenhaftenKirchenglocke
gewirkt haben muss. Was Sie wahrscheinlich irgendwanneinmal
so taub gemacht hat wie Quasimodo, der es nur aufgrundder
Tatsache, weil er nicht mehr hörte, ausgehalten hatte,die Glocke
von Notre-Dame zu läuten. Die Uhr von petit homme,also vom
kleinen Mann, wie wir ihn taufen könnten, der einmalbehauptete,
ihr Chef gewesen zu sein."
Wie ein Rumpelstilzchen warf er seine Zigarettenkippeauf
den Boden, sodass die Funken konzentrisch in alleRichtungen
stoben. Geradezu hektisch, nervös riss er aus seinemdunkelgrünen
Parker eine neue Schachtel heraus und fetzte sie auf.Den
Klappverschluss der Marlboro-Schachtel öffnete ernicht, er riss
ihn herunter. Brutal zog er eines der Tabakstäbchenheraus und
vollbrachte, dem Entfesselungskünstler Harry Houdinigleich, ein
wahres Meisterwerk an gleichzeitiger Koordination.Zeige- und
Mittelfinger der rechten Hand umklammerten dieZigarette, wobei
sich die Innenseite seiner Handfläche krampfhaft umsein
Kinn schloss. In der linken hielt er mit dem kleinenFinger und
dem Ringfinger die aufgerissene Zigarettenschachtelund versuchte
mit den drei anderen Fingern sein Feuerzeug zuentflammen.
Ständig drehte er sich mit dem Kopf hin und her, ummit
seinen wallenden Haaren die stossartigen Luftbewegungendes
Windes, der beständig vom Genfer See her kommendRichtung
Frankreich strich, zu mildern oder gänzlich zustoppen. Schliesslich
gelang es ihm, seiner mit Tabak gefüllten Papierhülleein glühendes
Köpfchen zu verpassen, warf sein Haar in den Nacken,
rückte seine Brille zurecht, zog so unnatürlich anseiner Zigarette,
dass ich das Gefühl hatte, dass sich seine Wangen, wiedie Körnchen
einer Sanduhr, trichterförmig nach innen bogen, wobeier
mir qualmend entgegenkrächzte: "Woher wissen Sie das?"
Die Frage kam schnell, zu schnell für seinevorhergehende
Lockerheit. Es war eine Mischung aus Neugierde,Interesse, ja ich
würde sogar sagen Respekt und Achtung mir gegenüber.Kurz
und mit einem leichten Unterton der Überheblichkeitentgegnete
ich ihm: "Bei dem Wenigen, was ich bis jetzt von Ihnenkennen
gelernt habe, wäre es zu erwarten, dass Ihnen das ammeisten auf
die Nerven gegangen ist. Mich hat es jedenfalls extremirritiert,
obwohl ich nur sehr kurzzeitig Gast in dieserInstitution war, in
der Sie jahrelang die elektronischen Geschickegeleitet und auch
umgesetzt haben." Und fast nahtlos ergänzte er denSatz: "Bis zu
dem Zeitpunkt, als sich einiges zu ändern begann." Nunnützte
ich seine Bemerkung, um etwas Ruhe in das Gespräch zubringen.
Ich wandte mich ab, lehnte mich mit beiden Unterarmenauf das
rautenförmige Eisengitter und tastete mit meinem Blickden immer
dunkler werdenden See ab. Vielleicht in der Hoffnung,dass
aus der fast unheimlichen Tiefe der nunmehrentscheidende Satz
auftauchen würde, wie ein kleines Luftbläschen, dassich, aus zig
Metern Tiefe den Druckverhältnissen im Wasserentsprechend,
immer weiter ausdehnt und grösser wird, wie ein kleinerFallschirm,
zunächst sehr langsam und dann immer schnellerwerdend,
den Weg nach oben bahnt.
"Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas auszureden. Ichbin auch
nicht hier, um von Ihnen etwas zu verlangen. Ich binausschliesslich
hier, um etwas zu verstehen. Ich würde gerne von IhnenAntworten
hören, auf Fragen, die nur Sie mir beantworten können,
und ich möchte ein paar Stunden oder vielleicht Tagemeines Lebens
mit Ihnen gemeinsam gehen, weil es für mich schönerist,
einen Menschen zu verstehen, als über ihn zu richten",zitierte ich
abschliessend Stefan Zweig.
Erstaunt blickte er mich an, zog an seiner Zigaretteund
meinte: "Aber die Daten gebe ich nicht her. Niemals!"
Dieser Satz war der einzige, den ich mit einerabsoluten Sicherheit
erwartet hatte. Auf ihn war ich auch vorbereitet.Immer
und immer wieder hatte ich mir die Frage gestellt, wasich sagen
würde, wenn er das Heiligste, was er jetzt besass,nicht hergeben
wollte. Was für mich zwischenzeitlich mehr alsnachvollziehbar
war. Es war - man konnte es drehen und wenden, wie manwollte
- schlussendlich das Einzige, was er noch besass. Eswar, bildlich
gesprochen, der letzte weisse Fleck auf seinerpersönlichen Landkarte.
Es war das Niemandsland für jeden anderen, seineigenes
emotionelles Refugium. Es war wie das vergilbte Bildfür den Soldaten
im Schützengraben, der letzte Brief seiner Geliebten,den
wohl jeder im Kriege hundert und hunderte Male gelesenhatte.
Den Inhalt bereits auswendig kannte, aber den er jedesMal wieder
zusammenfaltete und wie einen ganz persönlichenheiligen
Schatz in seiner Brusttasche versteckte. Weil inseinem Fall alles
einem persönlichen Motiv entsprang und keinemmateriellen. Ich
hatte es aber auch immer und immer wieder erlebt, dassTäter
exorbitante Summen in solchen Fällen verlangten. Was ElloDox
nie tat. Aber auch in jenen Fällen waren sehr häufigpersönliche
Kränkungen, Demütigungen und emotionelle, extrembelastende
Situationen die Ursache dafür gewesen. Manche glaubtendurch
die Übergabe von prall gefüllten Reisetaschen mitbedrucktem
Spezialpapier aus irgendwelchen Nationalbanken, sichdie Kränkungen
und Demütigungen abgelten zu lassen. Es war in den
meisten Fällen nur der verzweifelte Versuch, aus dersubjektiven
Sicht die Verursacher zu demütigen.
Auf Demütigung mit Rache zu reagieren, was in denmeisten
Fällen auch misslang. Juristisch gesehen nötigte Ello Dox- ja
man konnte ihn sogar als Erpresser bezeichnen.Psychologisch gesehen
war er einfach nur verzweifelt. Aber so wie in denmeisten
Fällen Recht nicht in Gerechtigkeit mündet, ist diejuristische und
psychologische Betrachtungsweise von derartigen Fällenbei der
ersten Betrachtung meist nicht kompatibel.
" ein klarer Auftrag: Daten sichern oder vernichtenund
Ello Dox der Justiz zuführen!"
"Ich weiss, und ich sage es Ihnen ganz ehrlich, ichwill sie auch
gar nicht haben und schon gar nicht will ich wissen,um was für
Daten es sich überhaupt handelt. Ich will sie nichtsehen. Ich will
nicht wissen, wo sie sind und ich will sie schon garnicht besitzen.
Sie würden mein Leben, lieber Dox, viel zu sehrbelasten."
Ich weiss nicht, wie oft ich diese Passage geübt hatte.In Tonlage,
mit allen dramaturgischen Pausen, mit ernstem,wütendem,
zornigem und gelassenem Gesichtsausdruck. Ich probteund übte
es immer und immer wieder, in der festen Überzeugung,dass er
unter der Last der Daten in all den Wochen und Monatenseiner
Flucht mit Sicherheit schon manchmal zu ächzen und zustöhnen
begann. Vielleicht sogar schon einmal in der Nachtschweissgebadet
aufgeschreckt, möglicherweise schon einmal daranzerbrochen
war, und zwar wegen eines einzigen Umstandes: Er waralleine.
In den Stunden der Ungewissheit und der Verzweiflung,den
langen Nächten des Grübelns und der Hoffnung, denverregneten
Sonntagen auf der Flucht, an denen er mit Sicherheitan die schönen
Stunden seines Lebens dachte, konnte er nur mit sichselbst
Schach spielen. Er konnte sich niemandem anvertrauen.Er
konnte nichts mit niemandem teilen und die Macht derVerantwortung
oder auch die Verantwortung der Macht haben schon
manch grosse Persönlichkeit in ihrer Einsamkeit in dieKnie gezwungen.
"Nein, ich will sie gar nicht haben, Dox. Aber Siekennen
meine Deals, wenn Sie mein Buch gelesen haben. ,Quidpro quo.
Ich bekomme etwas anderes von Ihnen, nämlich IhrWissen, Ihre
Kenntnisse über die Zusammenhänge, Entwicklungen vonLeuten
wie Sie, Querverbindungen und Schwachstellen,zeitliche Abläufe
und Gegebenheiten in Institutionen wie der Ihren.Gedanken,
Gefühle, Einstellungen, die Gedanken der Angst und desHasses
genauso wie des Glückes und der Macht, seit dem Tage,als Sie
das erste Mal darüber nachdachten, sich eine einzigeInformation
zu besorgen. Sie werden mir alles niederschreiben, aufPunkt und
Beistrich, und vor allem all Ihre Informationen, wieman derartige
Situationen und Fälle verhindern kann. Ihrepersönliche
subjektive Einstellung, Ihr Wissen über psychologischeSicherheitssysteme,
Mängel in Personalakten, fehlende Kriterien beim
Aufnahmeprozess. Alles, aber auch wirklich alles, wasSie darüber
wissen. Das werden Sie mir geben. Aber die Daten, diewill ich
nicht. Ich betrachte Sie als Ansprechpartner und nichtals Gegner.
Sie sind für mich ein Experte und kein Feind. Sogesehen stehen
Sie auf meiner Seite und nachdem Sie mir alles gegebenhaben,
kann ich versuchen, auch die Ihre zu verstehen."
Ich schloss mein kleines persönliches Plädoyer mit denWorten:
"Ich bin nämlich hier, um etwas zu verhindern undnicht, um
jemand zu bestrafen."
Mir schien, als war er zum ersten Mal verunsichert,das
spürte ich.
Er wankte.
"Und was bekomme ich dafür?", fragte er mich mit weitaufgerissenen
Augen. "Was ist Ihre Verpflichtung?"
"Das Einzige, Herr Dox, was ich Ihnen anbieten kann,ist eine
geänderte Betrachtungsweise Ihrer Zukunft, die wiraber entweder
gemeinsam gehen oder gar keiner geht sie. In diesemFall sind
entweder alle zufrieden oder keiner ist es. Solangeich hier mitspiele,
hat niemand ein Ass im Ärmel. Es wird entweder offengespielt
oder gar nicht."
Ich drehte mich um, blickte ihn an und hielt ihmrelativ rasch
meine Hand hin. Er zögerte ein wenig, ergriff diemeine und
blickte mich dabei sehr durchdringend an. Jetzterkannte ich, dass
seine Hand sehr kalt war und er zwei Eheringe trug, sowie El Presidente,
dachte ich mir.
© ecowin Verlag
- Autor: Thomas Müller
- 2006, 224 Seiten, Masse: 15 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ecoWing
- ISBN-10: 3902404329
- ISBN-13: 9783902404329
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