L'Egisto (CD)

Anders als es der Titel zunächst vielleicht vermuten lässt, behandelt Francesco Cavallis 1643 im Teatro San Cassiano in Venedig uraufgeführte Oper L'Egisto nicht die blutige Atriden-Geschichte um den Mord an König Agamemnon durch seine Gattin Klytämnestra und ihren Geliebten Aigisthos (ital. Egisto). Vielmehr ist ein arkadischer Hirte die Hauptfigur dieser "favola dramatica musicale". Doch Cavalli und sein Librettist Giovanni Faustini servieren hier allerdings kein harmloses "Schäferstündchen". Vielmehr sprengen sie den pastoralen Rahmen und präsentieren ein Theater der schlimmsten Gefühle: der Verachtung, des Hasses, der Eifersucht, der verräterischen Lügen und der hinterhältigen Rache - ganz nach dem Geschmack des damaligen venezianischen Publikums. Müssig zu erwähnen, dass das Stück auch ausserhalb Venedigs seinen Siegeszug antreten konnte. Das Erfolgsstück hat nä mlich auch eine ganze Reihe an musikalischen Höhepunkten zu bieten: etwa den rekordverdächtig langen Wahnsinnsmonolog (197 Takte!) mit seinen schneidenden Dissonanzen und heftigen Intervallsprüngen oder die herzzerreissend bittere Klage der Climene im zweiten Akt. Beide zeugen von dem aussergewöhnlich dramatischen Ausdrucksvermögen des Komponisten, der sich hier einmal mehr als würdiger Nachfolger von Claudio Monteverdi erweist. Kein Wunder, dass L'Egisto bereits 1972 für die moderne Bühne wiederentdeckt wurde und gemeinsam mit La Callisto die Cavalli-Renaissance unserer Zeit einläutete. Der überbordende Reichtum der Musik, die die Emotionen eines verworrenen Liebesquadrats meisterhaft illustriert, bietet Vincent Dumestre und seinem Ensemble Le Poème Harmonique sowie den fabelhaften Sängerinnen und Sängern die Möglichkeit, dieses erste grosse Labyrinth der barocken Gefühle mit schillernden Farben und virtuosen Strichen zu malen.