Die Goldhändlerin
Deutschland im Jahre 1485. Für die junge Jüdin Lea endet ein Jahr der Katastrophen, denn ihr Vater und ihr jüngerer Bruder Samuel kamen bei einem Pogrom ums Leben.
Um das Erbe ihres Vaters und damit ihr Überleben und das ihrer Geschwister zu sichern,...
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Deutschland im Jahre 1485. Für die junge Jüdin Lea endet ein Jahr der Katastrophen, denn ihr Vater und ihr jüngerer Bruder Samuel kamen bei einem Pogrom ums Leben.
Um das Erbe ihres Vaters und damit ihr Überleben und das ihrer Geschwister zu sichern, muss Lea sich fortan als Samuel ausgeben. In ihrer Doppelrolle drohen ihr viele Gefahren, nicht nur von christlicher Seite, sondern auch von ihren Glaubensbrüdern, die ''Samuel'' unbedingt verheiraten wollen.
Und dann verliebt sie sich ausgerechnet in den mysteriösen Roland, der sie zu einer mehr als abenteuerlichen Mission verleitet.
Deutschland im Jahre 1485. Für die junge Jüdin Lea endet ein Jahr der Katastrophen, denn ihr Vater und ihr jüngerer Bruder Samuel kamen bei einem Pogrom ums Leben. Um das Erbe ihres Vaters und damit ihr Überleben und das ihrer Geschwister zu sichern, muss Lea sich fortan als Samuel ausgeben. In ihrer Doppelrolle drohen ihr viele Gefahren, nicht nur von christlicher Seite, sondern auch von ihren Glaubensbrüdern, die »Samuel« unbedingt verheiraten wollen. Und dann verliebt sie sich ausgerechnet in den mysteriösen Roland, der sie zu einer mehr als abenteuerlichen Mission verleitet ...
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Die Goldhändlerin von Iny Lorentz
LESEPROBE
3.
Als dasFlackern verlosch und klamme Kälte durch die Kleider biss, kauerten Lea,Gretchen und Rachel eng aneinander geschmiegt auf der Treppe, dem einzigsauberen Ort in dem feuchten Gewölbe, und kämpften mit der Angst, die durch dienun eingetretene Stille und die undurchdringliche Schwärze um sie herumverstärkt wurde. Als oben eine Männerstimme aufklang, sprang Gretchen mit einemJubelruf auf und kletterte die Stiege hoch. Gleich darauf ertönte ein Scharren,als schiebe jemand den Gegenstand beiseite, mit dem Gretchens Schwiegermutterdie Falltür blockiert hatte, dann ging die Luke auf, und jemand streckte eineLampe herein.
»Gretchen,bist du da unten?«
Gretchenschoss die letzten Stufen hoch, fiel ihrem Ehemann um den Hals und küsste ihnunter Tränen. »Oh, Peter, bin ich froh, dass du wieder da bist! Ist dir auchnichts passiert? Stell dir vor, deine Mutter hat mich einfach die Treppeherabgestossen. Ich hätte mir die Beine brechen können!«
WennGretchen gehofft hatte, ihr Mann würde sie trösten und ihr Recht geben, wurdesie bitter enttäuscht. Er packte ihre Arme so fest, dass sie vor Schmerzaufstöhnte, und schob sie mit verärgertem Gesichtsausdruck von sich weg.
»Das hastdu dir selbst zuzuschreiben. Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Washast du dir dabei gedacht, zwei Judenbälger ins Haus zu lassen? Wenn dichjemand beobachtet hätte, wären wir alle erschlagen oder mit demblutsaugerischen Gesindel aus der Stadt geprügelt worden. Danke Gott, demAllmächtigen, dass Mutter gescheit genug war, euch in den Keller zu sperren undalle Spuren zu beseitigen.«
Inzwischenwar Lea ebenfalls die Kellertreppe hochgestiegen und baute sich vor PeterPfeiffer auf. Der Mann sah aus, als würde er sie am liebsten wiederhinunterwerfen oder gleich umbringen, aber Lea war schon jenseits aller Furcht.»Ich bin die Tochter des Hoffaktors Jakob ben Jehuda und die Nichte Esra ben Nachums. Könnt Ihr mir bitte sagen, Herr, was mit meinenVerwandten geschehen ist?«
PeterPfeiffer musterte sie wie eine fette Gartenschnecke in seinem Salat. »Wohersoll ich das wissen? Das meiste von eurem Pack hat man zum Stadttorhinausgetrieben, nachdem man ihnen weggenommen hat, was sie uns jahrelangabgepresst haben. Wer sich gewehrt hat, musste halt ins Gras beissen. Aber obeiner lebt oder tot ist, hat mich nicht interessiert. Je weniger von euchdiebischem, gotteslästerlichem Gelichter auf der Welt herumläuft, umso besserist es.«
Lea wäredem Mann am liebsten mit den Fingernägeln ins Gesicht gefahren, um seineselbstzufriedene Miene zu zerkratzen, doch Gretchen schien ihre Gedanken zuahnen und drängte sie von ihm weg. »Das ist Lea, deren Vater ich die Mitgift zuverdanken habe, von der wir alle so gut leben. Jetzt beleidigst du die Töchterunseres grosszügigen Gönners und freust dich, weil es ihren Leuten schlechtergangen ist. Ich schäme mich für dich!«
PeterPfeiffer zuckte unwillig mit den Schultern. »Ich habe ja nichts gegen den Hartenburger Juden und seine Kinder. Aber es ist halt seinPech, dass er ausgerechnet heute in Sarningenauftauchen musste.«
Lea stiessdie Luft aus, die sie in ihrer Wut angehalten hatte. »Mein Vater konnte janicht wissen, dass der hiesige Vogt die Gesetze Kaiser Friedrichs missachtetund seine Leute an die Spitze einer Mörderbande stellt.«
Abruptdrehte sich Peter Pfeiffer zu Gretchen um und hob die Hand, als wolle er sieschlagen. »Musstest du das ausplaudern, du dummes Stück? Wenn bekannt wird, wasdu hier herumtratschst, trifft mich Herrn Albans Zorn, und ich verliere nichtnur meinen Posten, sondern wandere ins Turmverlies, wo man mich bei lebendigemLeib verrotten lässt. Verdammt, Weib, du weisst, was es mich gekostet hat, inkaiserliche Dienste treten zu können. Warum setzt du das alles aufs Spiel?«
Lea hob dasKinn und sah dem jungen Beamten ins Gesicht. »Wenn Ihr mir und meiner Schwesterweiterhin Schutz gewährt, werden wir niemandem verraten, was hier vorgegangenist, weder hier in der Stadt noch irgendwo anders.«
GretchensMann begriff Leas versteckte Drohung. Wenn er sie und ihre Schwester aus demHaus jagte oder Rittlages Männern auslieferte, würdensie das Geheimnis so laut hinausschreien, dass es jeder hören konnte. Dem Mannwar anzusehen, dass er vor Wut kochte, aber im Wissen um die Gefahr, in der erselbst schwebte, nickte er widerwillig. Er konnte ja nicht ahnen, dass Lea ihnum Gretchens Willen nicht verraten würde, denn schliesslich hatte die Freundinihr Leben aufs Spiel gesetzt, um sie und Rachel zu retten.
Als LeasBlick auf ein Bündel fiel, das weiter vorne im Flur auf einer Truhe lag und voneiner russenden Unschlittkerze beleuchtet wurde, wünschte sie Peter Pfeifferinsgeheim die Seuche an den Hals. Neben anderem Plündergut ragten eine Kapsel,die von einer Thorarolle abgerissen worden war, und ein neunarmiger Leuchteraus Silber, wie ihn wohlhabende Juden beim Chanukka-Festverwendeten, aus dem Tuch. Gretchens Mann hatte also auch zu jenen gehört, diedas Judenviertel gestürmt hatten.
Lea hätteam liebsten vor ihm ausgespuckt, aber die Sorge um ihr eigenes Leben hielt sieebenso davon ab wie die Hoffnung, der Mann würde ihr um Gretchens willenhelfen, ihren Vater und ihre Brüder zu finden. Daher wandte sie sich ab undtat, als hätte sie nichts bemerkt. Sie musste Gewissheit haben, ob ihreVerwandten dem Pogrom entkommen waren. Ohne sich weiter um Peter Pfeiffer oderdessen Mutter zu kümmern, die vor sich hin schimpfend in einem Winkel stand,nahm sie die Lampe mit der erst halb abgebrannten Kerze von der Truhe undwollte die Tür öffnen.
Die alte Pfeifferin vertrat ihr den Weg. »Was hast du vor?«
»Ich gehehinüber und suche nach meinen Angehörigen.«
Gretchenkam ihr nach und schlang ihr die Arme um die Schultern. »Das ist zugefährlich.«
Ihr Mannwinkte ab. »Lass sie gehen. Besser sie läuft in ihr Verderben, als dass sie unsdie Nachbarn zusammenschreit, weil wir sie mit Gewaltzurückhalten. Wahrscheinlich sind die meisten schon nach Hause gelaufen odersitzen in der Wirtschaft und vertrinken ihr Beutegut. Wenn jemand sie sieht,wird er denken, sie gehöre zu den Plünderern, die auf der Suche nach Dingensind, die die anderen übersehen haben.«
Er trat andie Hintertür, schob den Riegel zurück und winkte Lea spöttisch hinaus. Sie hobden Kopf und ging aufrecht an ihm vorbei, obwohl sie sich am liebsten geduckthätte und wie ein Hase davongesprungen wäre. Erst alser die Tür hinter ihr verriegelte, wurde ihr klar, dass sie nun ganz auf sichallein gestellt war, und das Herz schien ihr vor Angst stehen bleiben zuwollen.
Es kostetesie einige Überwindung, einen Fuss vor den anderen zu setzen und die Pforte insJudenviertel zu durchschreiten, die im Schein der armseligen Lampe einerklaffenden Wunde glich. Scherben knirschten unter ihren nackten Füssen undschnitten in ihre Sohlen. Sie verbiss sich den Schmerz und ging unbeirrtweiter, bis sie Esra Ben Nachums Haus erreichte. Mitseinen leeren Fensterhöhlen wirkte es auf sie wie ein Totenkopf. Sie kämpftemit sich, ob sie hineingehen oder umkehren sollte. Etwas in ihr wollte sieglauben machen, dass es sinnlos war, in dem unruhig flackernden Licht ihrerLaterne hier herumzusuchen. Gewiss schleppten sich die Bewohner des Hauses undihre Gäste schon längst über dunkle Landstrassen und klagten Gott ihr Schicksal.
SamuelsBild schob sich in ihre Gedanken. Als einziges Mitglied ihrer Familie hatte ersie ernst genommen und wie einen vollwertigen Menschen behandelt, ja, er hattesie wie einen jüngeren Bruder unter seine Fittiche genommen, ihren Wissensdurstgestillt und ihr vieles beigebracht, was einem Mädchen sonst vorenthaltenwurde. Sie spürte, wie ihr Herz sich wieder verkrampfte, denn ihr Bruder warstolz und aufbrausend und liess sich nicht so schnell einschüchtern. Nur allzugut erinnerte sie sich an die Klagen ihres Vaters, Samuel besässe zu viel Mutund zu wenig Vorsicht, um in diesem Land als Jude leben zu können. War er vordem aufgebrachten Mob davongelaufen oder hatte er versucht, sich und dieanderen zu verteidigen? Lea dachte schaudernd daran, was Peter Pfeiffer gesagthatte, und begann zu ahnen, was sie in diesem Haus erwartete.
Bis auf einpaar Holzstücke und Tonscherben war im Hausflur und in der ersten Kammer nichtsmehr zu finden. Auch in der Küche gab es nur noch den gemauerten Ofen. Sogardas Brennholz hatten die Plünderer mitgehen lassen. Lea leuchtete den Boden unddie Wände ab, konnte aber keine Blutspuren entdecken und atmete auf. IhreErleichterung hielt jedoch nur wenige Herzschläge an, denn in der nächstenKammer lag ein blutüberströmter Körper.
Lea presstedie linke Hand auf den Mund, um ihre Wut und ihren Schmerz nicht lauthinauszuschreien. Der Tote war Samuel. Die Plünderer hatten ihm dieSchläfenlocken abgeschnitten, die ihn als gläubigen Aschkenasikennzeichneten, und ihm dabei tiefe Schnitte beigebracht. Während des Kampfeshatte man ihm die Kleider vom Leib gerissen, und sein mit Wunden undTrittspuren übersäter Leib verriet, wie heftig er sich gewehrt haben musste.Sein Widerstand war jedoch vergebens gewesen, denn man hatte ihn schliesslichmit den eigenen Gebetsriemen erdrosselt, und noch im Tod zeigte sein Gesichteinen ohnmächtigen Zorn. Lea konnte sich lebhaft vorstellen, wie Samuel sichder plündernden Meute in den Weg gestellt hatte, doch ebenso gut hätte erversuchen können, die Wasser des Jordans umzuleiten oder den Tempel inJerusalem wieder zu errichten.
EinenAugenblick verfluchte sie ihn für seine Uneinsichtigkeit, denn mit ihm verlorsie den einzigen Menschen, der ihr wirklich etwas bedeutet hatte. Dann aberschlug sie sich auf den Mund, denn sie schämte sich für ihre bösen Worte, undsprach ein kurzes Gebet. Als sie weiterging, klammerte sie sich an dieHoffnung, dass Samuel mit seinem Opfer den anderen die Flucht ermöglicht hatte.Die nächste Kammer war leer und ohne Kampfspuren, und Lea wurde etwas leichterums Herz. Im Wohnraum aber stiess sie gleich auf mehrere Tote. Zwei davon warenihr unbekannte junge Männer, wohl Mitglieder der SarningerGemeinde, und der dritte Gerschom, der Leibdienerihres Vaters. Der alte Mann hatte offensichtlich versucht, seinen Herrn zuverteidigen, denn er war buchstäblich in Stücke gerissen worden. Hinter ihm lagJakob Goldstaub mit ausgebreiteten Armen über einer kleinen, verkrümmtenGestalt, in der Lea erst auf den zweiten Blick ihren Bruder Eliesererkannte.
»Oh GottAbrahams, Isaaks und Jakobs, warum lässt du zu, dass man dein Volk so quält?«,stöhnte sie auf. Da ihr Vater auf den ersten Blick unverletzt erschien, knietesie neben ihm nieder und legte ihr Ohr auf sein Herz. Die Hoffnung, er könntenoch leben, verflog schneller, als sie aufgekeimt war. Jakob ben Jehuda, der Jude von Hartenburg,war tot.
Ein leisesJammern liess Lea aufhorchen. Sie starrte auf ihren jüngeren Bruder und riebsich die Augen. Elieser hatte sich unzweifelhaftbewegt. Sie rutschte auf Knien zu ihm hin und legte die Finger an seinen Hals,um den Puls zu prüfen. Er schlug schwach und stockend, aber vernehmlich. Leaunterdrückte einen Jubelruf, sprang auf und versuchte, den schon erstarrtenKörper ihres Vaters von Elieser herunterzuziehen.Dabei murmelte sie Totengebete und entschuldigte sich zwischendurch, denn esgehörte sich nicht, den Leichnam eines frommen Juden so achtlos herumzuzerren.Obwohl Jakob Goldstaub ein kleiner, magerer Mann gewesen war, verging schiereine Ewigkeit, bis Lea ihn zur Seite gezogen hatte, und trotz ihrer Vorsichtstiess ihr Bruder bei jeder Bewegung des Körpers über ihm schwache Jammerlauteaus. Aber er reagierte weder auf ihre Fragen noch auf ihre tröstenden Worte.
Als Lea Elieser von der Last des Toten befreit hatte, sah sie, dasssein rechtes Bein und sein rechter Arm in unnatürlichem Winkel vom Körperabstanden. Man hatte ihm die Knochen gebrochen und mehrere klaffende Wundenbeigebracht, aus denen immer noch Blut sickerte. Für einen Augenblick stand sieratlos da und schlug vor Verzweiflung die Hände vors Gesicht. Der Junge musste soschnell wie möglich zu einem Arzt gebracht werden, doch wer würde sich indieser Stadt noch trauen, einem Juden zu helfen? Gretchen war sicher dazubereit, aber Lea wagte es nicht, die Freundin zu holen, denn wenn PeterPfeiffer erfuhr, was sie im Sinn hatte, würde er sie beide so lange in denKeller sperren, bis Elieser tot war. Nein, sie mussteihren jüngeren Bruder aus eigener Kraft hier herausbringen.
Als Lea Elieser aufhob, stiess er so spitze Schreie aus, dass sieschon Angst bekam, er würde Plünderer auf sie aufmerksam machen. Sie versuchte,beruhigend auf ihn einzureden, und als das nichts half, begann sie eine Melodiezu summen, die er immer gemocht hatte. Tatsächlich verstummte er bald, aber sienahm an, dass er vor Schmerz bewusstlos geworden war. Sie biss die Zähnezusammen und schleppte ihn aus dem Haus. Erst draussen erinnerte sie sich anihren Onkel und dessen Familie. Sie hatte weder Esra benNachum noch Mirjam oder Noomigesehen. Vielleicht lagen sie tot in den oberen Stockwerken, aber Lea hoffte,dass sie hatten entkommen können.
Als sieunter ihrer Last schwankend Gretchens Haus erreichte, erwartete die Freundinsie schon an der Hintertür und zog sie hinein. Dann legte sie den Riegel sohastig vor, als hätte sie sogar Angst vor dem Wind, der durch die Gasse strich.
»Elieser lebt noch«, rief Lea ihr keuchend zu. »Er brauchtdringend einen Arzt, sonst stirbt er uns noch unter den Händen.«
Gretchenversuchte, die Angst abzuschütteln, die sie in den Klauen hielt, und wandtesich mit verbissenem Gesicht zur Vordertür. Aber ehe sie sie erreichte, vertratihr Mann ihr den Weg. »Bist du wahnsinnig geworden, Weib? Wenn wir jetzt einenArzt holen, erfahren alle, dass wir hier Juden versteckt halten!«
Lea legte Elieser vorsichtig auf die Truhe und blickte Gretchens Mannherausfordernd an. »Mein Bruder stirbt, wenn seine Verletzungen nicht behandeltwerden.«
»Besser erals wir alle.« Peter Pfeiffer bedachte den Bewusstlosen mit einem bösen Blick,so als mache er ihn jetzt schon für alle Schwierigkeiten verantwortlich, dienoch auf ihn zukommen konnten.
Leabegriff, dass der Mann in Todesangst schwebte, und hatte gegen ihren Willensogar Verständnis für ihn. Wenn durch seine Schuld bekannt wurde, dass derÜberfall auf die Sarninger Juden von langer Handvorbereitet worden war, würde er mit seinem Leben dafür büssen. Alban vonRittlage konnte nur dann sein Gesicht vor dem Kaiser wahren, wenn es so aussah,als wäre das Pogrom aus einer spontanen Empörung der einheimischen Christenentstanden, der er nicht mehr hatte entgegentreten können. Lea empfand daserste Mal in ihrem Leben Hass und wünschte sich, sie hätte die Macht, demverräterischen Vogt die Maske vom Gesicht zu reissen und ihn vor das kaiserlicheGericht zu zerren. Aber ein Jude hatte weniger Chancen, dort Hilfe zu bekommen,als eine Fliege im Spinnennetz. Daher mahnte sie sich selbst, sich nicht mitHirngespinsten abzugeben, sondern sich um Elieser zukümmern, dessen Leben an einem dünnen Faden hing.
Sie winkteihre Schwester zu sich, die bleich und ängstlich neben der Falltür zum Kellerstand. »Komm und hilf mir, Elieser zu verbinden. Wirmüssen die Blutungen stoppen und seine Knochen schienen.«
»Nicht hierim Flur! Los, schafft ihn in den Keller, wo ihn niemand sieht. Hier herobendarf er nicht bleiben.« Peter Pfeiffer hob die Hände und machte ein Gesicht,als wollte er die drei Juden am liebsten mit einem Stoss in die Hölle befördern.
Leastampfte wütend auf. »Unten ist es feucht und schmutzig, und es gibt keinLicht.«
Froh, etwastun zu können, eilte Gretchen in eine Kammer und kehrte mit einer Decke undeinem Besen zurück. »Ich mache unten sauber. Dann kannst du deinen Bruder aufdas Gestell legen. Rachel, hältst du mir die Lampe?« Sie nahm ihrem Mann dieLampe ab und reichte sie Leas Schwester.
»Du willstdas gute Stück doch nicht etwa für diesen Judenbalg opfern?« GretchensSchwiegermutter stellte sich ihr in den Weg und wollte nach der Decke greifen.
Ihr Sohnhielt sie zurück. »Lass sie! Der Hartenburger Judewar grosszügig zu uns. Ausserdem wird Gott es uns lohnen.«
© Droemer Knaur
Bevor der Leser sich ob dieses Fleißes nun allzu sehr wundert, sei verraten: Iny musste die Arbeit nicht allein erledigen, ihr Mann Elmar war und ist immer dabei. „Iny Lorentz“ ist ein Pseudonym, hinter dem sich das Schriftstellerehepaar Iny und Elmar verbirgt. Der Verlag kreierte aus ihrem Vornamen und dem Namen von Elmars Vater den Künstlernamen, kurz und einprägsam.
Iny wurde 1949 in Köln geboren, wo sie die Schule besuchte und eine Ausbildung als Arzthelferin absolvierte. Nach dem Abitur im Abendgymnasium begann sie ein Medizinstudium, das sie aber aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Sie wurde Programmiererin und zog 1980 nach München, um bei einer großen Versicherung zu arbeiten. Ihr Ehemann Elmar arbeitete seit 1981 ebenfalls dort. Er ist gebürtiger Bayer und stammt aus einem kleinen Bauerndorf mit gerade einmal fünf Höfen.
Beiden gemeinsam ist die große Leidenschaft für das Geschichtenerzählen. Elmar begann bereits in der Schule mit dem Schreiben, die Religionslehrerin erkannte und förderte sein Talent. Iny veröffentlichte schon in jungen Jahren Kurzgeschichten in Zeitschriften. Schließlich trafen sich die verwandten Seelen in einem Fantasy-Club und heirateten 1982, um von da an alles gemeinsam zu machen, auch das Schreiben. Zunächst arbeiteten sie viele Jahre abends und im Urlaub an ihren Büchern, nach den ersten Erfolgen widmeten sie sich dann ganz dem Schreiben.
Wie schon die Titel verraten (u. a. „Die
Interview mit Iny Lorentz
Ihr Roman "DieGoldhändlerin" spielt zur Zeit des Mittelalters. Die Jüdin Lea verkleidetsich als Mann, um zu überleben. Wie kam es dazu?
Lea gerätin ein Pogrom, in dem ein Grossteil der Familie getötet wird. Sie kann nur denschwer verletzten, jüngeren Bruder und die kleine Schwester retten. Diechristliche Freundin, die ihr unter Lebensgefahr hilft, bringLea auf die Idee, sich christliche Männerkleidung anzulegen, denn zwei Mädchenhätten keine Chance, sich selbst und einen kranken Jungen in Sicherheit zubringen.
Später nimmt Lea die Identität ihres getöteten Bruders Samuel an. Nur so ist esihr möglich, unter dem für Juden überlebenswichtigen Schutz ihres Landesherrn zuleben. Als Samuel soll sie von ihren Glaubensbrüdern verheiratet werden, unddann gibt es noch den Mann, der Leas wahre Identität kennt... Dieser Mann ist der Grund für einewechelsvolle Reise, die Lea später bis zum Thron der spanischen KöniginIsabella bringt, wo sie die Bekanntschaft mit Christopher Kolumbus macht unddie einiger unangenehmer Edelleute. Am Ende sind es jedoch die eigenenGlaubensgenossen, die ihr beinahe zum Verhängnis werden.
Ein früherer Roman von Ihnen, "DieWanderhure", spielt ebenfalls im Mittelalter. Was reizt Sie alsAutorin an dieser Epoche?
Mein Mann, mit dem ich die Romane verfasse, hat ein ungeheures historischesWissen. Wir beide lesen seit unserer Jugend leidenschaftlich historischeRomane, aber auch Sachbücher zu allen erdenklichen geschichtlichen Themen.Dabei beschränken wir uns nicht auf das Mittelalter. Unser Interesse reicht ca.vom 8. bis zum 18. Jahrhundert. Es ist kaum zu glauben, was man alles inSachbüchern finden kann. Die Idee zur "Kastratin" ist uns z.B. durcheine Farinelli-Biografie und die
Welche Vorarbeiten sindnötig, damit Ihre Romane so authentisch wirken? Gehen Sie in die Bibliothek undstöbern in Archiven oder verlassen Sie sich auf Ihre Fantasie?
Es zahltsich einfach aus, dass wir von Jugend an Sachbücher und historische Romanegelesen haben. Darunter auch die christlich gefärbten historische Romane ausdem 19. Jahrhundert wie etwa Quo Vadis oder Ben Hur. Wir besitzen massenweiseLiteratur zu Kunst- und Sozialgeschichte, zur Politik und zu einzelnenPersönlichkeiten. Wir besuchen aber auch die Stadtbibliothek oder kürzlich dasspanische Kulturinstitut, in dem wir katalanische Namen und Zeitangabenrecherchiert haben. Für "Die Goldhändlerin" waren die Besuche imjüdischen Museum in Amsterdam sehr inspirierend. Zum Beispiel wissen nur wenigeMenschen, dass viele spanische Juden nach der Rekonquista in diewesteuropäischen Küstenstädte geflohen sind, natürlich unter Verleugnung ihresGlaubens.
Frauen, die in einer feindlichen Umweltums Überleben kämpfen - das Thema zieht sich wie einroter Faden durch Ihre Werke. Wie entstand dieses Leitmotiv?
Uns interessieren Leute, die in schwierigen Situationen stecken. JüdischeFrauen hatten damals im Grunde zwei Feinde: die Christen und die eigenenMänner, die sie unterdrückten. Mein Mann ist so etwas wie ein männlicherFeminist. Wenn Frauen Unrecht widerfährt, ist er immer zuerst auf denBarrikaden, und er nimmt sich leidenschaftlich gern dieses Themas für unsereRomane an. Es eignet sich ja auch, um Spannung zu erzeugen, und da der Grossteilder Romanleser Frauen sind, von denen die meisten gern etwas über Frauen lesen,liegt es nahe, weibliche Hauptpersonen zu wählen.
Wo und wann spielt Ihr nächstes Buch?
Als nächstes wird "Die Tatarin" erscheinen. Es geht um eine jungeTatarin zur Zeit Peter des Grossen und des GrossenNordischen Krieges. Ihre Stiefmutter steckt sie in Männerkleidung und schicktsie anstelle ihres Sohnes als Geisel nach Russland. Hintergrund des Romans sinddie Aufstände in Sibirien, als Peter der Grosse sein Reich immer weiter nachOsten ausdehnte, und die Bedrohung durch Schweden im Westen. Aber auch aufeinen zweiten Teil der "Wanderhure" können sich die Leser demnächstfreuen.
Die Fragen stellte RolandGrosse Holtforth, literaturtest.de
- Autor: Iny Lorentz
- 2004, 22. Aufl., 624 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426625687
- ISBN-13: 9783426625682
- Erscheinungsdatum: 03.06.2004
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