Die Päpstin
Roman
Im bitterkalten Winter des Jahres 814 bringt die heidnische Frau des Dorfpriesters ein Mädchen zur Welt: Johanna. Sie wächst in einer Welt düsteren Aberglaubens auf, gegen den ihr Vater grausam zu Felde zieht; er läßt sogar die...
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Produktinformationen zu „Die Päpstin “
Im bitterkalten Winter des Jahres 814 bringt die heidnische Frau des Dorfpriesters ein Mädchen zur Welt: Johanna. Sie wächst in einer Welt düsteren Aberglaubens auf, gegen den ihr Vater grausam zu Felde zieht; er läßt sogar die Hebamme des Ortes als Hexe verfolgen. Ein Mensch erkennt bei Johanna besondere Gaben: Aeskulapius, der Pädagoge aus dem fernen Byzanz, weist sie als einziges Mädchen in die Lehren der Philosophie und Logik ein. Doch beinahe wird Johanna ihr Wissensdurst zum Verhängnis. Nur der Ritter Gerold, ihr Freund und späterer Liebhaber, vermag sie vor dem grausamen Magister Odo zu bewahren. Nach einem verheerenden Feldzug der Normannen weiß sie endgültig: Frauen wie sie überleben in dieser Welt nicht. So geht sie als Mönch verkleidet ins Kloster Fulda. Als Medicus betritt sie Jahre später Rom, die Stadt des Papstes - wo die Wechselfälle des Schicksals sie schließlich selbst auf den heiligen Stuhl bringen.
"Ein packender Historienwälzer."
Rhein-Zeitung
"Ein packender Historienwälzer."
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Klappentext zu „Die Päpstin “
Im bitterkalten Winter des Jahres 814 bringt die heidnische Frau des Dorfpriesters ein Mädchen zur Welt: Johanna. Sie wächst in einer Welt düsteren Aberglaubens auf, gegen den ihr Vater grausam zu Felde zieht; er lässt sogar die Hebamme des Ortes als Hexe verfolgen. Ein Mensch erkennt bei Johanna besondere Gaben: Aeskulapius, der Pädagoge aus dem fernen Byzanz, weist sie als einziges Mädchen in die Lehren der Philosophie und Logik ein. Doch beinahe wird Johanna ihr Wissensdurst zum Verhängnis. Nur der Ritter Gerold, ihr Freund und späterer Liebhaber, vermag sie vor dem grausamen Magister Odo zu bewahren. Nach einem verheerenden Feldzug der Normannen weiss sie endgültig: Frauen wie sie überleben in dieser Welt nicht. So geht sie als Mönch verkleidet ins Kloster Fulda. Als Medicus betritt sie Jahre später Rom, die Stadt des Papstes - wo die Wechselfälle des Schicksals sie schliesslich selbst auf den heiligen Stuhl bringen.
Im bitterkalten Winter des Jahres 814 bringt die heidnische Frau des Dorfpriesters ein Mädchen zur Welt: Johanna. Sie wächst in einer Welt düsteren Aberglaubens auf, gegen den ihr Vater grausam zu Felde zieht; er lässt sogar die Hebamme des Ortes als Hexe verfolgen. Ein Mensch erkennt bei Johanna besondere Gaben: Aeskulapius, der Pädagoge aus dem fernen Byzanz, weist sie als einziges Mädchen in die Lehren der Philosophie und Logik ein. Doch beinahe wird Johanna ihr Wissensdurst zum Verhängnis. Nur der Ritter Gerold, ihr Freund und späterer Liebhaber, vermag sie vor dem grausamen Magister Odo zu bewahren. Nach einem verheerenden Feldzug der Normannen weiss sie endgültig: Frauen wie sie überleben in dieser Welt nicht. So geht sie als Mönch verkleidet ins Kloster Fulda. Als Medicus betritt sie Jahre später Rom, die Stadt des Papstes - wo die Wechselfälle des Schicksals sie schliesslich selbst auf den heiligen Stuhl bringen.
Lese-Probe zu „Die Päpstin “
1. Ganz in der Nähe des Grubenhauses grollte Donner, und das kleine Mädchen erwachte. Es bewegte sich in seinem Bett und suchte die Wärme und Behaglichkeit, die von den Körpern seiner schlafenden älteren Brüder ausgingen. Dann fiel es dem Mädchen wieder ein: die Brüder waren fort.
Regen prasselte; Donner krachte. Ein heftiges Frühlingsgewitter tobte und erfüllte die Nachtluft mit dem süßsauren Geruch feuchter, frisch gepflügter Erde. Der Regen trommelte laut auf das Dach der Hütte des Dorfpriesters, doch das dicht verwobene Strohdach hielt das Innere trocken, sah man von den ein, zwei Stellen in den Zimmerecken ab, in denen das Wasser sich sammelte, um dann in dicken, schweren Tropfen träge auf den festgestampften, lehmigen Fußboden zu klatschen.
Der Wind frischte auf, und eine Eiche, die neben der Hütte stand, begann unrhythmisch gegen die Wände zu klopfen. Der Schatten ihrer Äste fiel ins Zimmer. Das Mädchen betrachtete gebannt, wie die riesenhaften dunklen Finger an den Bettkanten zu zerren schienen. Dann griffen sie plötzlich gierig nach dem Kind, und es schrak zurück.
Mama! dachte das kleine Mädchen ängstlich und öffnete den Mund, um die Mutter zu rufen, hielt dann aber inne. Falls es ein Geräusch machte, würde die drohende schwarze Hand es packen und zerquetschen. Das Mädchen lag wie erstarrt da, beobachtete voller Entsetzen das Zucken der Blitze und brachte weder den Mut noch die Willenskraft auf, sich zu bewegen. Dann aber reckte es voller Entschlossenheit das kleine Kinn vor. Es mußte getan werden; also würde Johanna es tun. Sie bewegte sich mit größter Langsamkeit und nahm nicht für einen Moment den Blick vom Feind, als sie aus dem Bett kroch. Ihre Füße spürten die kalte Oberfläche des Fußbodens, und dieses vertraute Gefühl gab dem
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Mädchen Sicherheit. Dennoch wagte es kaum zu atmen, als es sich in Richtung der Trennwand bewegte, hinter der seine Mutter lag und schlief. Ein Blitz zuckte auf; die Finger des Ungeheuers bewegten sich wieder, wurden länger, packten nach Johanna. Mit Mühe unterdrückte sie einen Schrei, und vor Anstrengung schmerzte ihr die Kehle. Sie zwang sich, nicht wild loszurennen, sondern sich langsam und vorsichtig zu bewegen.
Sie hatte ihr Ziel fast erreicht, als plötzlich eine Salve von Donnerschlägen über ihr krachte. Im selben Moment wurde sie von irgendetwas berührt, das hinter ihr stand. Sie kreischte; dann warf sie sich herum, flitzte hinter die Trennwand und kippte dabei den Stuhl um, auf den sie sich geflüchtet hatte.
In diesem Teil des Hauses war es dunkel und still; das kleine Mädchen hörte nur das regelmäßige Atmen seiner Mutter. Am Geräusch konnte es erkennen, daß die Mutter tief und fest schlief, zumal das Poltern des Stuhles sie nicht geweckt hatte. Rasch ging das Mädchen zum Bett, hob die Wolldecke an und kroch schnell darunter.
Gudrun lag auf der Seite; ihre Lippen waren leicht geöffnet. Das Mädchen kuschelte sich an den Körper der Mutter und spürte die wohltuende Wärme und Weichheit ihrer Haut durch das dünne Hemdkleid aus Leinen.
Gudrun gähnte und drehte sich im Halbschlaf auf die Seite. Von der Berührung geweckt, schlug sie die Augen auf und blickte schläfrig auf das Kind. Dann erwachte sie vollends und umarmte ihre Tochter.
»Johanna«, schimpfte sie leise, wobei ihre Lippen das weiche Haar des Mädchens berührten. »Du solltest längst schlafen, mein Kleines.«
Hastig sprudelte Johanna ihre Geschichte hervor und erzählte der Mutter mit hoher, vor Anspannung atemloser Stimme von der Riesenhand.
Gudrun hörte zu, tätschelte und streichelte ihre Tochter, drückte sie an sich und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf sie ein, wobei sie ihr sanft mit den Fingerspitzen übers Gesicht strich, das in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen war. Hübsch ist sie nicht, dachte Gudrun reuevoll. Äußerlich kommt sie zu sehr nach ihm, mit seinem dicken Hals und den breiten Kiefern. Johannas kleiner Körper war jetzt schon untersetzt und stämmig; ganz anders als der der hochgewachsenen, anmutigen Menschen von Gudruns Volk. Doch das Kind hatte gute Augen, groß und ausdrucksvoll und von kräftiger Farbe: grün, mit dunkelgrauen Rauchringen im Zentrum der Pupillen. Zärtlich nahm Gudrun eine Strähne von Johannas Haar zwischen die Finger und betrachtete es, erfreute sich an seinem Schimmer - weißgolden, sogar in der Dunkelheit. Mein Haar, dachte sie stolz. Nicht das dicke schwarze Haar ihres Mannes oder das seines grausamen dunklen Inselvolkes. Mein Kind. Sanft wickelte sie Johannas Haarsträhne um den Zeigefinger und lächelte. Wenigstens dieses Kind ist meins.
Durch die Aufmerksamkeiten ihrer Mutter beruhigt, entspannte sich Johanna. In spielerischer Nachahmung zupfte sie an Gudruns langem Zopf, bis er sich löste und die Fülle des weißblonden Haares ihr über die Schultern fiel. Staunend betrachtete Johanna die schimmernde Pracht, die sich wie flüssiges Gold auf der Tagesdecke aus dunkler Wolle ausbreitete. Noch nie hatte Johanna das Haar ihrer Mutter offen gesehen. Der Vater bestand darauf, daß sie es stets sorgfältig geflochten trug, verborgen unter einer Kappe aus grobem Leinen. Das Haar einer Frau, sagte der Dorfpriester, ist das Netz, in dem der Teufel die Seele eines Mannes fängt. Und Gudruns Haar war außergewöhnlich schön - lang und weich und von makelloser, weißgoldener Farbe, ohne jeden Hauch von Grau, obwohl sie nun schon eine alte Frau war, die vierzig Winter erlebt hatte.
»Warum sind Matthias und Johannes fortgegangen?« fragte Johanna unvermittelt. Ihre Mutter hatte es ihr schon mehrere Male gesagt; doch Johanna wollte es noch einmal hören.
»Du weißt warum. Dein Vater hat sie auf seine Missionsreise mitgenommen.«
»Warum durfte ich nicht auch mitgehen?«
Gudrun seufzte geduldig. Das Kind war so wißbegierig, so voller Fragen. »Matthias und Johannes sind Jungen«, sagte sie. »Eines Tages werden sie Priester sein, genau wie dein Vater. Du bist ein Mädchen; deshalb hast du mit solchen Dingen nichts zu tun.« Als Gudrun erkannte, daß Johanna mit dieser Antwort nicht zufrieden war, fügte sie hinzu: »Außerdem bist du noch viel zu jung.«
Johanna rief entrüstet: »Im Wintarmanoth war ich schon vier!«
Gudruns Augen blitzten vor Erheiterung, als sie in das rundliche Kleinmädchengesicht blickte. »Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Du bist ja schon ein großes Mädchen. Vier Jahre! Das hört sich schon sehr erwachsen an.«
Johanna lag still da, als die Mutter ihr übers Haar streichelte. Dann fragte sie: »Was sind eigentlich Heiden?« Ihr Vater und ihre Brüder hatten sich vor ihrer Abreise ziemlich ausgiebig über 'Heiden' unterhalten. Johanna verstand nicht genau, was ein Heide war; sie hatte allerdings genug aufgeschnappt, um zu wissen, daß es etwas sehr Schlimmes sein mußte.
Gudruns Körper spannte sich an. Dieses Wort besaß Zauberkräfte. Die einmarschierenden Soldaten hatten es im Munde geführt, als sie Gudruns Zuhause geplündert und ihre Freunde und Familienangehörigen abgeschlachtet hatten. Die dunklen, grausamen Soldaten des fränkischen Kaisers Karl. 'Magnus', nannten die Leute ihn nun, da er tot war. 'Carolus Magnus - Karl der Große'. Würden die Menschen ihn immer noch so nennen, fragte sich Gudrun, wenn sie miterlebt hätten, wie seine Soldaten sächsischen Müttern die Säuglinge aus den Armen gerissen, sie herumgeschleudert und ihre Köpfe an Steinen zerschmettert hatten, die schon rot vom Blut anderer unschuldiger Kinder waren? Gudrun zog die Hand von Johanna fort und drehte sich auf den Rücken.
»Was ein Heide ist, mußt du deinen Vater fragen«, sagte sie.
Johanna wußte nicht, was sie falsch gemacht hatte, doch sie hörte die seltsame Härte in der Stimme ihrer Mutter und erkannte, daß sie ins eigene Bett zurückgeschickt wurde, falls es ihr nicht gelang, den Fehler auszubügeln. Rasch sagte sie: »Erzähl mir noch einmal von den alten Göttern.«
»Das kann ich nicht. Dein Vater mag es nicht, wenn ich dir solche Märchen erzähle.« Die Worte waren zum Teil eine Frage, zum Teil eine Feststellung.
Johanna wußte, was zu tun war. Feierlich legte sie sich beide Hände aufs Herz und sprach den heiligen Eid genau so, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte. Beim geheiligten Namen von Thor dem Donnerer gelobte Johanna ewige Verschwiegenheit.
Gudrun lachte und zog das Mädchen wieder an sich. »Also gut, du kleine Wachtel. Ich werde dir die Geschichte erzählen, weil du so nett zu fragen verstehst.«
Ihre Stimme war wieder warm, wehmütig und melodisch, als sie von den Göttern ihrer Kinderzeit in Sachsen erzählte, von Wotan und Thor und Freyja und all den anderen - bis Karls Armeen einmarschiert waren und mit Flamme und Schwert das Wort Christi gebracht hatten. Andächtig erzählte Gudrun von Asgard, der strahlenden Heimstatt der Götter, einem Ort mit goldenen und silbernen Schlössern, der nur erreicht werden konnte, wenn man Bifrost überquerte, die geheimnisvolle Brücke des Regenbogens, die von Heimdall dem Wächter behütet wurde, der niemals schlief und dessen Ohren so scharf waren, daß er sogar das Gras wachsen hören konnte. In Walhalla, dem schönsten aller Orte, wohnte Wotan, der Göttervater, auf dessen Schultern zwei Raben saßen: Hugin, der Gedanke, und Munin, die Erinnerung. Während die anderen Götter feierten, saß Wotan auf seinem Thron und grübelte darüber nach, was Gedanke und Erinnerung ihm erzählten.
Johanna nickte glücklich. Diesen Teil der Geschichte hörte sie am liebsten. »Erzähl mir von der Quelle der Weisheit«, bettelte sie.
»Obwohl er bereits sehr, sehr klug war«, erzählte Gudrun, »war Wotan stets auf der Suche nach immer mehr Wissen. Eines Tages ging er zur Quelle der Weisheit, die von Mimir dem Weisen bewacht wurde, und bat um einen Schluck aus dieser Quelle. 'Was gibst du mir dafür?' fragte Mimir. Wotan antwortete, daß Mimir sich wünschen könne, was immer sein Herz begehrt. 'Die Weisheit muß stets mit Schmerz erkauft werden', sagte Mimir. 'Wenn du einen Schluck von diesem Wasser haben möchtest, mußt du mit einem deiner Augen dafür bezahlen.'«
Das Gesicht vor Aufregung gerötet, rief Johanna: »Und Wotan hat es getan, nicht wahr, Mama? Er hat es getan!«
Ihre Mutter nickte. »Obwohl es eine schwere Entscheidung war, erklärte Wotan sich einverstanden, eins seiner Augen herzugeben. Dann trank er von dem Wasser. Später gab er die Weisheit, die er auf diese Weise erlangt hatte, an die Menschen weiter.«
Mit großen, ernsten Augen schaute Johanna ihre Mutter an. »Hättest du das auch getan, Mama? Um weise zu sein? Um über alle Dinge Bescheid zu wissen?«
»Nur Götter treffen solche Entscheidungen«, erwiderte Gudrun, doch als sie den beharrlichen, fragenden Blick ihrer Tochter sah, gab sie schließlich zu: »Nein. Ich hätte zu große Angst gehabt.«
»Ich auch«, sagte Johanna nachdenklich. »Aber ich würde es tun wollen. Ich würde wissen wollen, was die Quelle mir erzählen kann.«
Gudrun lächelte auf das kleine, entschlossene Gesicht hinunter. »Aber es würde dir wahrscheinlich gar nicht gefallen, was du von der Quelle erfahren würdest. Bei meinem Volk gibt es ein Sprichwort. 'Das Herz eines weisen Mannes ist nur selten froh.«
Johanna nickte, obwohl sie den Sinn dieser Worte nicht richtig verstanden hatte. »Und jetzt erzähl mir von dem Baum«, sagte sie und kuschelte sich wieder eng an ihre Mutter.
Und Gudrun beschrieb Irminsul, die Weltesche. Der Baum hatte im heiligsten aller sächsischen Wälder gestanden, an der Quelle der Lippe. Gudruns Volk hatte diesen Baum verehrt; doch er war von den Armeen Kaiser Karls gefällt worden.
»Es war ein wunderschöner Baum«, erzählte Gudrun, »und so hoch, daß niemand den Wipfel sehen konnte. Der Baum«
Sie hielt inne. Johanna spürte plötzlich, daß noch jemand im Raum war. Sie hob den Kopf. Ihr Vater stand im Türeingang.
Gudrun setzte sich im Bett auf. »Mein liebster Gemahl«, sagte sie erstaunt. »Ich habe dich erst in vierzehn Tagen zurückerwartet.«
Der Dorfpriester gab keine Antwort. Er nahm eine Wachskerze vom Tisch in der Nähe der Tür, ging zum Herdfeuer und zündete die Kerze an den glühenden Scheiten an.
»Das Kind hatte Angst vor dem Donner«, sagte Gudrun nervös, als das Licht der Kerze sich ausbreitete. »Da habe ich mir gedacht, ich lenke es mit einer harmlosen Geschichte ab.«
»Harmlos!« Die Stimme des Dorfpriesters zitterte vor Anstrengung, als er sich mühte, seine Wut im Zaum zu halten. »Eine solche Gotteslästerung nennst du harmlos?« Mit zwei langen Schritten war er neben dem Bett, stellte die Kerze ab und zog mit einem Ruck die Decke zur Seite, so daß Mutter und Tochter im flackernden Licht der Flamme zu sehen waren. Johanna hatte die Arme um Gudruns Leib geschlungen und war halb von einem Vorhang aus langem, weißgoldenem Haar verdeckt.
Für einen Augenblick starrte der Dorfpriester fassungslos auf das Bild, das sich ihm bot, und betrachtete ungläubig Gudruns langes, gelöstes Haar. Dann übermannte ihn wilder Zorn. »Wie kannst du es wagen! Wo ich es dir ausdrücklich verboten habe!« Er packte Gudrun und wollte sie aus dem Bett zerren. »Heidnische Hexe!«
Johanna klammerte sich an ihre Mutter. Das Gesicht des Dorfpriesters lief dunkel an. »Scher dich fort, du Balg!« brüllte er. Johanna zögerte, hin und her gerissen zwischen Furcht und dem Verlangen, ihre Mutter irgendwie zu beschützen.
Hastig und drängend stieß Gudrun sie an. »Geh. Rasch. Geh rasch!«
Johanna löste sich von ihr, sprang auf den Fußboden und rannte los. An der Tür drehte sie sich um und sah, wie ihr Vater das Haar der Mutter packte, ihren Kopf brutal nach hinten drückte und sie auf die Knie zwang. Johanna lief los, wollte zur Mutter zurück. Doch vor Entsetzen blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie sah, wie ihr Vater sein langes Jagdmesser mit dem Hirschhorngriff unter dem geschnürten Gürtel hervorzog.
»Forsachistu diabolae?« fragte er Gudrun auf Sächsisch, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Als sie nichts erwiderte, drückte er ihr die Messerspitze an die Kehle. »Sag die Worte«, zischte er drohend. »Sag die Worte!«
»Ec forsacho allum diaboles«, schluchzte Gudrun unter Tränen, doch in ihren Augen funkelte Trotz. »Wuercum und wuordum, thunaer ende woden ende saxnotes ende allum«
Vor Angst wie erstarrt, beobachtete Johanna, wie ihr Vater wieder Gudruns Haar packte, mit der einen Hand einen dicken Zopf bildete und mit der anderen Hand das Messer darüberzog. Es gab ein reißendes Geräusch, als die seidenen Strähnen durchtrennt wurden, und ein langes, dickes, weißgoldenes Haarbüschel fiel zu Boden.
Johanna schlug die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, warf sich herum und rannte los.
In der Dunkelheit prallte sie gegen eine Gestalt, die nach ihr griff. Sie kreischte vor Angst, als sie gepackt wurde. Die Hand des Ungeheuers! Die hatte sie vollkommen vergessen! Johanna wand sich, trommelte mit den kleinen Fäusten auf die Bestie ein und wehrte sich mit aller Kraft. Doch das Ungeheuer war riesengroß und hielt sie fest gepackt.
»Johanna! Was ist denn, Johanna? Ich bin's!«
Die Worte durchdrangen den Schleier aus Angst und Entsetzen. Es war ihr zehnjähriger Bruder Matthias, der gemeinsam mit dem Vater heimgekehrt war.
»Wir sind wieder zu Hause. Hör endlich auf, um dich zu schlagen, Johanna! Es ist alles gut! Ich bin's.« Johanna streckte einen Arm aus und spürte die glatte Oberfläche des Brustkreuzes, das Matthias stets trug. Dann ließ sie sich erleichtert gegen ihn sinken.
Einige Zeit später saßen sie zusammen in der Dunkelheit und lauschten den leisen, ratschenden Lauten, mit denen das Messer des Vaters das lange Haar ihrer Mutter abtrennte. Einmal hörten sie, wie Gudrun vor Schmerz aufschrie. Matthias fluchte laut, und wie als Antwort erklang ein Schluchzen aus dem Bett, auf dem sich Johannas jüngerer, achtjähriger Bruder Johannes unter den Decken versteckt hatte.
Endlich verstummten die gräßlichen Laute. Nach einer kurzen Pause erklang die murmelnde Stimme des Dorfpriesters. Er betete. Johanna spürte, wie Matthias sich entspannte. Es war vorüber. Sie schlang die Arme um den Hals des älteren Bruders und weinte. Er hielt sie fest und wiegte sie sanft.
Nach einer Weile blickte sie zu ihm auf.
»Vater hat Mama eine Heidin genannt.«
»Ja.«
»Aber das ist sie nicht«, sagte Johanna zögernd, »oder doch?«
»Sie war es.« Als er den Ausdruck entsetzten Unglaubens auf dem Gesicht der kleinen Schwester sah, fügte er rasch hinzu: »Vor langer Zeit. Sie ist es längst nicht mehr. Aber was sie dir vorhin erzählt hat, waren Geschichten von den Heiden.«
Johanna hörte zu weinen auf, denn diese Information war höchst interessant.
»Du kennst doch das erste Gebot, nicht wahr?«
Johanna nickte und zitierte gehorsam: »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.«
»Ja. Das bedeutet, daß es die Götter gar nicht gibt, von denen Mama erzählt hat, und daß es Sünde ist, von ihnen zu sprechen.«
»Hat Vater sie deshalb?«
»Ja«, unterbrach Matthias die kleine Schwester. »Mama mußte zum Wohle ihrer Seele bestraft werden. Und sie hat ihrem Ehemann nicht gehorcht, und auch das ist ein Verstoß gegen Gottes Gesetz.«
»Warum?«
»Weil es so in der Heiligen Schrift steht«, erwiderte Matthias und zitierte: »Denn der Gatte ist der Beherrscher des Weibes; deshalb sollen die Weiber sich in allen Dingen dem Manne unterwerfen.«
»Warum?«
»Wa- warum?« Matthias war perplex. Diese Frage hatte ihm noch niemand gestellt. »Na ja, ich nehme an, weil - weil Frauen von Natur aus den Männern unterlegen sind. Männer sind größer, stärker und klüger.«
»Aber -«, setzte Johanna zur Erwiderung an, wurde jedoch von ihrem Bruder unterbrochen.
»Das waren vorerst genug Fragen, Schwesterchen. Du müßtest längst im Bett sein. Komm jetzt.« Er trug sie zum Bett und legte sie neben Johannes, der bereits in tiefem Schlaf lag.
Wie immer war Matthias lieb zu ihr gewesen. Um ihm seine Freundlichkeit zu danken, schloß Johanna die Augen, deckte sich zu und tat so, als würde sie schlafen.
Doch sie war viel zu aufgeregt, als daß sie hätte schlafen können. Sie lag in der Dunkelheit und spähte auf den leise schnarchenden Johannes, dessen Kinnlade schlaff herunterhing; der Mund stand offen.
Er ist schon acht Jahre alt und kann immer noch nichts aus dem Buch der Psalmen aufsagen. Johanna war erst fünf, doch sie kannte die ersten zehn Psalmen bereits auswendig.
Folglich war Johannes nicht so klug wie sie. Aber er war ein Junge und hätte klüger sein müssen. Wie konnte Matthias sich so sehr irren? fragte sich Johanna. Er wußte doch alles, und später wurde er Priester, wie ihr Vater.
Johanna lag wach in der Dunkelheit und ließ sich diese Dinge wieder und wieder durch den Kopf gehen.
Bei Anbruch der Morgendämmerung schlief sie ein, doch ihr Schlaf war ruhelos, und sie wurde von Träumen über gewaltige Kriege zwischen eifersüchtigen und zornigen Göttern heimgesucht. Der Engel Gabriel persönlich kam mit einem Flammenschwert vom Himmel, um mit Thor und Freyja den Kampf zu wagen. Die Schlacht war wild und schrecklich, doch am Ende wurden die falschen Götter zurückgeschlagen, und Gabriel stand triumphierend vor den Toren des Paradieses. Sein Flammenschwert war verschwunden; in seiner Hand funkelte ein kurzes Jagdmesser mit Hirschhorngriff.
© Verlagsgruppe Aufbau Übersetzung: Wolfgang Neuhaus
Sie hatte ihr Ziel fast erreicht, als plötzlich eine Salve von Donnerschlägen über ihr krachte. Im selben Moment wurde sie von irgendetwas berührt, das hinter ihr stand. Sie kreischte; dann warf sie sich herum, flitzte hinter die Trennwand und kippte dabei den Stuhl um, auf den sie sich geflüchtet hatte.
In diesem Teil des Hauses war es dunkel und still; das kleine Mädchen hörte nur das regelmäßige Atmen seiner Mutter. Am Geräusch konnte es erkennen, daß die Mutter tief und fest schlief, zumal das Poltern des Stuhles sie nicht geweckt hatte. Rasch ging das Mädchen zum Bett, hob die Wolldecke an und kroch schnell darunter.
Gudrun lag auf der Seite; ihre Lippen waren leicht geöffnet. Das Mädchen kuschelte sich an den Körper der Mutter und spürte die wohltuende Wärme und Weichheit ihrer Haut durch das dünne Hemdkleid aus Leinen.
Gudrun gähnte und drehte sich im Halbschlaf auf die Seite. Von der Berührung geweckt, schlug sie die Augen auf und blickte schläfrig auf das Kind. Dann erwachte sie vollends und umarmte ihre Tochter.
»Johanna«, schimpfte sie leise, wobei ihre Lippen das weiche Haar des Mädchens berührten. »Du solltest längst schlafen, mein Kleines.«
Hastig sprudelte Johanna ihre Geschichte hervor und erzählte der Mutter mit hoher, vor Anspannung atemloser Stimme von der Riesenhand.
Gudrun hörte zu, tätschelte und streichelte ihre Tochter, drückte sie an sich und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf sie ein, wobei sie ihr sanft mit den Fingerspitzen übers Gesicht strich, das in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen war. Hübsch ist sie nicht, dachte Gudrun reuevoll. Äußerlich kommt sie zu sehr nach ihm, mit seinem dicken Hals und den breiten Kiefern. Johannas kleiner Körper war jetzt schon untersetzt und stämmig; ganz anders als der der hochgewachsenen, anmutigen Menschen von Gudruns Volk. Doch das Kind hatte gute Augen, groß und ausdrucksvoll und von kräftiger Farbe: grün, mit dunkelgrauen Rauchringen im Zentrum der Pupillen. Zärtlich nahm Gudrun eine Strähne von Johannas Haar zwischen die Finger und betrachtete es, erfreute sich an seinem Schimmer - weißgolden, sogar in der Dunkelheit. Mein Haar, dachte sie stolz. Nicht das dicke schwarze Haar ihres Mannes oder das seines grausamen dunklen Inselvolkes. Mein Kind. Sanft wickelte sie Johannas Haarsträhne um den Zeigefinger und lächelte. Wenigstens dieses Kind ist meins.
Durch die Aufmerksamkeiten ihrer Mutter beruhigt, entspannte sich Johanna. In spielerischer Nachahmung zupfte sie an Gudruns langem Zopf, bis er sich löste und die Fülle des weißblonden Haares ihr über die Schultern fiel. Staunend betrachtete Johanna die schimmernde Pracht, die sich wie flüssiges Gold auf der Tagesdecke aus dunkler Wolle ausbreitete. Noch nie hatte Johanna das Haar ihrer Mutter offen gesehen. Der Vater bestand darauf, daß sie es stets sorgfältig geflochten trug, verborgen unter einer Kappe aus grobem Leinen. Das Haar einer Frau, sagte der Dorfpriester, ist das Netz, in dem der Teufel die Seele eines Mannes fängt. Und Gudruns Haar war außergewöhnlich schön - lang und weich und von makelloser, weißgoldener Farbe, ohne jeden Hauch von Grau, obwohl sie nun schon eine alte Frau war, die vierzig Winter erlebt hatte.
»Warum sind Matthias und Johannes fortgegangen?« fragte Johanna unvermittelt. Ihre Mutter hatte es ihr schon mehrere Male gesagt; doch Johanna wollte es noch einmal hören.
»Du weißt warum. Dein Vater hat sie auf seine Missionsreise mitgenommen.«
»Warum durfte ich nicht auch mitgehen?«
Gudrun seufzte geduldig. Das Kind war so wißbegierig, so voller Fragen. »Matthias und Johannes sind Jungen«, sagte sie. »Eines Tages werden sie Priester sein, genau wie dein Vater. Du bist ein Mädchen; deshalb hast du mit solchen Dingen nichts zu tun.« Als Gudrun erkannte, daß Johanna mit dieser Antwort nicht zufrieden war, fügte sie hinzu: »Außerdem bist du noch viel zu jung.«
Johanna rief entrüstet: »Im Wintarmanoth war ich schon vier!«
Gudruns Augen blitzten vor Erheiterung, als sie in das rundliche Kleinmädchengesicht blickte. »Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Du bist ja schon ein großes Mädchen. Vier Jahre! Das hört sich schon sehr erwachsen an.«
Johanna lag still da, als die Mutter ihr übers Haar streichelte. Dann fragte sie: »Was sind eigentlich Heiden?« Ihr Vater und ihre Brüder hatten sich vor ihrer Abreise ziemlich ausgiebig über 'Heiden' unterhalten. Johanna verstand nicht genau, was ein Heide war; sie hatte allerdings genug aufgeschnappt, um zu wissen, daß es etwas sehr Schlimmes sein mußte.
Gudruns Körper spannte sich an. Dieses Wort besaß Zauberkräfte. Die einmarschierenden Soldaten hatten es im Munde geführt, als sie Gudruns Zuhause geplündert und ihre Freunde und Familienangehörigen abgeschlachtet hatten. Die dunklen, grausamen Soldaten des fränkischen Kaisers Karl. 'Magnus', nannten die Leute ihn nun, da er tot war. 'Carolus Magnus - Karl der Große'. Würden die Menschen ihn immer noch so nennen, fragte sich Gudrun, wenn sie miterlebt hätten, wie seine Soldaten sächsischen Müttern die Säuglinge aus den Armen gerissen, sie herumgeschleudert und ihre Köpfe an Steinen zerschmettert hatten, die schon rot vom Blut anderer unschuldiger Kinder waren? Gudrun zog die Hand von Johanna fort und drehte sich auf den Rücken.
»Was ein Heide ist, mußt du deinen Vater fragen«, sagte sie.
Johanna wußte nicht, was sie falsch gemacht hatte, doch sie hörte die seltsame Härte in der Stimme ihrer Mutter und erkannte, daß sie ins eigene Bett zurückgeschickt wurde, falls es ihr nicht gelang, den Fehler auszubügeln. Rasch sagte sie: »Erzähl mir noch einmal von den alten Göttern.«
»Das kann ich nicht. Dein Vater mag es nicht, wenn ich dir solche Märchen erzähle.« Die Worte waren zum Teil eine Frage, zum Teil eine Feststellung.
Johanna wußte, was zu tun war. Feierlich legte sie sich beide Hände aufs Herz und sprach den heiligen Eid genau so, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte. Beim geheiligten Namen von Thor dem Donnerer gelobte Johanna ewige Verschwiegenheit.
Gudrun lachte und zog das Mädchen wieder an sich. »Also gut, du kleine Wachtel. Ich werde dir die Geschichte erzählen, weil du so nett zu fragen verstehst.«
Ihre Stimme war wieder warm, wehmütig und melodisch, als sie von den Göttern ihrer Kinderzeit in Sachsen erzählte, von Wotan und Thor und Freyja und all den anderen - bis Karls Armeen einmarschiert waren und mit Flamme und Schwert das Wort Christi gebracht hatten. Andächtig erzählte Gudrun von Asgard, der strahlenden Heimstatt der Götter, einem Ort mit goldenen und silbernen Schlössern, der nur erreicht werden konnte, wenn man Bifrost überquerte, die geheimnisvolle Brücke des Regenbogens, die von Heimdall dem Wächter behütet wurde, der niemals schlief und dessen Ohren so scharf waren, daß er sogar das Gras wachsen hören konnte. In Walhalla, dem schönsten aller Orte, wohnte Wotan, der Göttervater, auf dessen Schultern zwei Raben saßen: Hugin, der Gedanke, und Munin, die Erinnerung. Während die anderen Götter feierten, saß Wotan auf seinem Thron und grübelte darüber nach, was Gedanke und Erinnerung ihm erzählten.
Johanna nickte glücklich. Diesen Teil der Geschichte hörte sie am liebsten. »Erzähl mir von der Quelle der Weisheit«, bettelte sie.
»Obwohl er bereits sehr, sehr klug war«, erzählte Gudrun, »war Wotan stets auf der Suche nach immer mehr Wissen. Eines Tages ging er zur Quelle der Weisheit, die von Mimir dem Weisen bewacht wurde, und bat um einen Schluck aus dieser Quelle. 'Was gibst du mir dafür?' fragte Mimir. Wotan antwortete, daß Mimir sich wünschen könne, was immer sein Herz begehrt. 'Die Weisheit muß stets mit Schmerz erkauft werden', sagte Mimir. 'Wenn du einen Schluck von diesem Wasser haben möchtest, mußt du mit einem deiner Augen dafür bezahlen.'«
Das Gesicht vor Aufregung gerötet, rief Johanna: »Und Wotan hat es getan, nicht wahr, Mama? Er hat es getan!«
Ihre Mutter nickte. »Obwohl es eine schwere Entscheidung war, erklärte Wotan sich einverstanden, eins seiner Augen herzugeben. Dann trank er von dem Wasser. Später gab er die Weisheit, die er auf diese Weise erlangt hatte, an die Menschen weiter.«
Mit großen, ernsten Augen schaute Johanna ihre Mutter an. »Hättest du das auch getan, Mama? Um weise zu sein? Um über alle Dinge Bescheid zu wissen?«
»Nur Götter treffen solche Entscheidungen«, erwiderte Gudrun, doch als sie den beharrlichen, fragenden Blick ihrer Tochter sah, gab sie schließlich zu: »Nein. Ich hätte zu große Angst gehabt.«
»Ich auch«, sagte Johanna nachdenklich. »Aber ich würde es tun wollen. Ich würde wissen wollen, was die Quelle mir erzählen kann.«
Gudrun lächelte auf das kleine, entschlossene Gesicht hinunter. »Aber es würde dir wahrscheinlich gar nicht gefallen, was du von der Quelle erfahren würdest. Bei meinem Volk gibt es ein Sprichwort. 'Das Herz eines weisen Mannes ist nur selten froh.«
Johanna nickte, obwohl sie den Sinn dieser Worte nicht richtig verstanden hatte. »Und jetzt erzähl mir von dem Baum«, sagte sie und kuschelte sich wieder eng an ihre Mutter.
Und Gudrun beschrieb Irminsul, die Weltesche. Der Baum hatte im heiligsten aller sächsischen Wälder gestanden, an der Quelle der Lippe. Gudruns Volk hatte diesen Baum verehrt; doch er war von den Armeen Kaiser Karls gefällt worden.
»Es war ein wunderschöner Baum«, erzählte Gudrun, »und so hoch, daß niemand den Wipfel sehen konnte. Der Baum«
Sie hielt inne. Johanna spürte plötzlich, daß noch jemand im Raum war. Sie hob den Kopf. Ihr Vater stand im Türeingang.
Gudrun setzte sich im Bett auf. »Mein liebster Gemahl«, sagte sie erstaunt. »Ich habe dich erst in vierzehn Tagen zurückerwartet.«
Der Dorfpriester gab keine Antwort. Er nahm eine Wachskerze vom Tisch in der Nähe der Tür, ging zum Herdfeuer und zündete die Kerze an den glühenden Scheiten an.
»Das Kind hatte Angst vor dem Donner«, sagte Gudrun nervös, als das Licht der Kerze sich ausbreitete. »Da habe ich mir gedacht, ich lenke es mit einer harmlosen Geschichte ab.«
»Harmlos!« Die Stimme des Dorfpriesters zitterte vor Anstrengung, als er sich mühte, seine Wut im Zaum zu halten. »Eine solche Gotteslästerung nennst du harmlos?« Mit zwei langen Schritten war er neben dem Bett, stellte die Kerze ab und zog mit einem Ruck die Decke zur Seite, so daß Mutter und Tochter im flackernden Licht der Flamme zu sehen waren. Johanna hatte die Arme um Gudruns Leib geschlungen und war halb von einem Vorhang aus langem, weißgoldenem Haar verdeckt.
Für einen Augenblick starrte der Dorfpriester fassungslos auf das Bild, das sich ihm bot, und betrachtete ungläubig Gudruns langes, gelöstes Haar. Dann übermannte ihn wilder Zorn. »Wie kannst du es wagen! Wo ich es dir ausdrücklich verboten habe!« Er packte Gudrun und wollte sie aus dem Bett zerren. »Heidnische Hexe!«
Johanna klammerte sich an ihre Mutter. Das Gesicht des Dorfpriesters lief dunkel an. »Scher dich fort, du Balg!« brüllte er. Johanna zögerte, hin und her gerissen zwischen Furcht und dem Verlangen, ihre Mutter irgendwie zu beschützen.
Hastig und drängend stieß Gudrun sie an. »Geh. Rasch. Geh rasch!«
Johanna löste sich von ihr, sprang auf den Fußboden und rannte los. An der Tür drehte sie sich um und sah, wie ihr Vater das Haar der Mutter packte, ihren Kopf brutal nach hinten drückte und sie auf die Knie zwang. Johanna lief los, wollte zur Mutter zurück. Doch vor Entsetzen blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie sah, wie ihr Vater sein langes Jagdmesser mit dem Hirschhorngriff unter dem geschnürten Gürtel hervorzog.
»Forsachistu diabolae?« fragte er Gudrun auf Sächsisch, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Als sie nichts erwiderte, drückte er ihr die Messerspitze an die Kehle. »Sag die Worte«, zischte er drohend. »Sag die Worte!«
»Ec forsacho allum diaboles«, schluchzte Gudrun unter Tränen, doch in ihren Augen funkelte Trotz. »Wuercum und wuordum, thunaer ende woden ende saxnotes ende allum«
Vor Angst wie erstarrt, beobachtete Johanna, wie ihr Vater wieder Gudruns Haar packte, mit der einen Hand einen dicken Zopf bildete und mit der anderen Hand das Messer darüberzog. Es gab ein reißendes Geräusch, als die seidenen Strähnen durchtrennt wurden, und ein langes, dickes, weißgoldenes Haarbüschel fiel zu Boden.
Johanna schlug die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, warf sich herum und rannte los.
In der Dunkelheit prallte sie gegen eine Gestalt, die nach ihr griff. Sie kreischte vor Angst, als sie gepackt wurde. Die Hand des Ungeheuers! Die hatte sie vollkommen vergessen! Johanna wand sich, trommelte mit den kleinen Fäusten auf die Bestie ein und wehrte sich mit aller Kraft. Doch das Ungeheuer war riesengroß und hielt sie fest gepackt.
»Johanna! Was ist denn, Johanna? Ich bin's!«
Die Worte durchdrangen den Schleier aus Angst und Entsetzen. Es war ihr zehnjähriger Bruder Matthias, der gemeinsam mit dem Vater heimgekehrt war.
»Wir sind wieder zu Hause. Hör endlich auf, um dich zu schlagen, Johanna! Es ist alles gut! Ich bin's.« Johanna streckte einen Arm aus und spürte die glatte Oberfläche des Brustkreuzes, das Matthias stets trug. Dann ließ sie sich erleichtert gegen ihn sinken.
Einige Zeit später saßen sie zusammen in der Dunkelheit und lauschten den leisen, ratschenden Lauten, mit denen das Messer des Vaters das lange Haar ihrer Mutter abtrennte. Einmal hörten sie, wie Gudrun vor Schmerz aufschrie. Matthias fluchte laut, und wie als Antwort erklang ein Schluchzen aus dem Bett, auf dem sich Johannas jüngerer, achtjähriger Bruder Johannes unter den Decken versteckt hatte.
Endlich verstummten die gräßlichen Laute. Nach einer kurzen Pause erklang die murmelnde Stimme des Dorfpriesters. Er betete. Johanna spürte, wie Matthias sich entspannte. Es war vorüber. Sie schlang die Arme um den Hals des älteren Bruders und weinte. Er hielt sie fest und wiegte sie sanft.
Nach einer Weile blickte sie zu ihm auf.
»Vater hat Mama eine Heidin genannt.«
»Ja.«
»Aber das ist sie nicht«, sagte Johanna zögernd, »oder doch?«
»Sie war es.« Als er den Ausdruck entsetzten Unglaubens auf dem Gesicht der kleinen Schwester sah, fügte er rasch hinzu: »Vor langer Zeit. Sie ist es längst nicht mehr. Aber was sie dir vorhin erzählt hat, waren Geschichten von den Heiden.«
Johanna hörte zu weinen auf, denn diese Information war höchst interessant.
»Du kennst doch das erste Gebot, nicht wahr?«
Johanna nickte und zitierte gehorsam: »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.«
»Ja. Das bedeutet, daß es die Götter gar nicht gibt, von denen Mama erzählt hat, und daß es Sünde ist, von ihnen zu sprechen.«
»Hat Vater sie deshalb?«
»Ja«, unterbrach Matthias die kleine Schwester. »Mama mußte zum Wohle ihrer Seele bestraft werden. Und sie hat ihrem Ehemann nicht gehorcht, und auch das ist ein Verstoß gegen Gottes Gesetz.«
»Warum?«
»Weil es so in der Heiligen Schrift steht«, erwiderte Matthias und zitierte: »Denn der Gatte ist der Beherrscher des Weibes; deshalb sollen die Weiber sich in allen Dingen dem Manne unterwerfen.«
»Warum?«
»Wa- warum?« Matthias war perplex. Diese Frage hatte ihm noch niemand gestellt. »Na ja, ich nehme an, weil - weil Frauen von Natur aus den Männern unterlegen sind. Männer sind größer, stärker und klüger.«
»Aber -«, setzte Johanna zur Erwiderung an, wurde jedoch von ihrem Bruder unterbrochen.
»Das waren vorerst genug Fragen, Schwesterchen. Du müßtest längst im Bett sein. Komm jetzt.« Er trug sie zum Bett und legte sie neben Johannes, der bereits in tiefem Schlaf lag.
Wie immer war Matthias lieb zu ihr gewesen. Um ihm seine Freundlichkeit zu danken, schloß Johanna die Augen, deckte sich zu und tat so, als würde sie schlafen.
Doch sie war viel zu aufgeregt, als daß sie hätte schlafen können. Sie lag in der Dunkelheit und spähte auf den leise schnarchenden Johannes, dessen Kinnlade schlaff herunterhing; der Mund stand offen.
Er ist schon acht Jahre alt und kann immer noch nichts aus dem Buch der Psalmen aufsagen. Johanna war erst fünf, doch sie kannte die ersten zehn Psalmen bereits auswendig.
Folglich war Johannes nicht so klug wie sie. Aber er war ein Junge und hätte klüger sein müssen. Wie konnte Matthias sich so sehr irren? fragte sich Johanna. Er wußte doch alles, und später wurde er Priester, wie ihr Vater.
Johanna lag wach in der Dunkelheit und ließ sich diese Dinge wieder und wieder durch den Kopf gehen.
Bei Anbruch der Morgendämmerung schlief sie ein, doch ihr Schlaf war ruhelos, und sie wurde von Träumen über gewaltige Kriege zwischen eifersüchtigen und zornigen Göttern heimgesucht. Der Engel Gabriel persönlich kam mit einem Flammenschwert vom Himmel, um mit Thor und Freyja den Kampf zu wagen. Die Schlacht war wild und schrecklich, doch am Ende wurden die falschen Götter zurückgeschlagen, und Gabriel stand triumphierend vor den Toren des Paradieses. Sein Flammenschwert war verschwunden; in seiner Hand funkelte ein kurzes Jagdmesser mit Hirschhorngriff.
© Verlagsgruppe Aufbau Übersetzung: Wolfgang Neuhaus
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Autoren-Porträt von Donna Woolfolk Cross
Cross, Donna W.Donna Woolfolk Cross wurde in den vierziger Jahren in New York geboren, wo sie auch aufwuchs. Nach ihrem Studium arbeitete sie unter anderem in der Verlagsbranche. Heute lebt sie einige Autostunden nördlich der Grossstadt im Bundesstaat New York und lehrt "Writing" am Onondaga College. "Die Päpstin" ist der erste Roman der Autorin, ihre vorausgegangenen Publikationen waren Sachbücher, die sich mit den Themen Gesprächstraining und Kommunikation befassten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Donna Woolfolk Cross
- 2009, 2. Auflage, 585 Seiten, Masse: 13,7 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Wolfgang Neuhaus
- Verlag: Rütten & Loening
- ISBN-10: 3352007756
- ISBN-13: 9783352007750
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