Die Perspektive des Gärtners
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Wo ist Sarah? Seit vierzehn Monaten ist Erik und Winnie Steinbecks vierjährige Tochter verschwunden. Offensichtlich wurde sie entführt. Von einem fremden Mann auf der Straße aufgegriffen, verschleppt in einem dunklen Wagen. Danach verliert sich die Spur. Kein Erpresserbrief. Kein Hinweis auf mögliche Täter. Um Abstand zu gewinnen überredet Winnie Erik in die USA zu ziehen, nach New York. Doch das Ehepaar entfernt sich immer weiter voneinander. Dann entdeckt Erik, dass Winnie sich heimlich aus dem Haus schleicht, wenn er fort ist. Und nicht nur das: Sie pflegt obskure Bekanntschaften, die sie verleugnet. Und es stellt sich heraus, dass sie Erik nicht die Wahrheit gesagt hat, über ihre Vergangenheit.
1
Mit vier vollgepackten Koffern und zwei leeren Herzen kamen wir nach New York.
Auf dem kurzen Weg zwischen der Carmine Street und der Bibliothek in der Leroy Street kommt mir diese Formulierung in den Sinn. Vielleicht ist es nicht gerade die beste Einleitung, aber ich habe schon seit ein paar Tagen um einen Eingangssatz gerungen. Als wenn es nur um diese simple Sache ginge - um einen Schlüssel, der die Erzählung öffnet, ein Siegel, das gebrochen werden muss, oder eine Art Zaubertrick, der, wenn man ihn erst einmal durchschaut hat, alles andere in die richtigen Bahnen lenkt.
Aber dem ist nicht so. Erzählungen müssen auf jeder Seite neu geboren werden, unablässig, unter Schmerzen und manchmal auch unter Freuden, Zeile für Zeile, Zentimeter für Zentimeter, und es gibt keine Abkürzung. Und genau so will ich vorgehen, wenn ich jetzt einen Bericht darüber schreibe, was in den letzten Jahren passiert ist und was genau in diesem Moment passiert, und das wird nicht einfach sein. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass es überhaupt irgendwohin führt, aber manchmal hat man keine andere Wahl.
Ich gebe keinerlei Versprechen. Vielleicht wird es eine zusammenhängende Geschichte, vielleicht auch nicht.
Es sind jetzt ein paar Wochen vergangen, seit ich diese kleine Zweigstelle der New York Public Library gefunden habe - 'The Hudson Park Branch steht an der Wand zum James Walker Park hin -, und seitdem sitze ich jeden Tag ein paar Stunden lang in den schmutzig braunen, heruntergekommenen Räumen. Nicht immer zur gleichen Zeit, es gibt unterschiedliche Öffnungszeiten, nur sonntags haben sie durchgehend geschlossen. Aber es ist auf jeden Fall der richtige Ort, das spüre ich deutlich; die Umgebung ist mir beim Schreiben immer wichtig gewesen, und in diesem Fall ist sie noch wichtiger als sonst.
Es ist Herbst. Ende September, aber immer noch sehr warm. Die Leute reden die ganze Zeit vom Treibhauseffekt, es ist jetzt das dritte Jahr in Folge so, und die New York Times, die ich mit der Beharrlichkeit eines Idioten täglich kaufe und lese, kommt in regelmäßigen Abständen auf dieses Thema zurück. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Gore hat in dieser Angelegenheit sogar einen Oscar bekommen, und vielleicht stimmt es ja. Vielleicht ist unsere Erde dabei, überzukochen und unterzugehen.
Was uns persönlich betrifft, Winnie und mich, so haben wir unseren Untergang schneller erlebt. Seit der Katastrophe sind zwei Sommer vergangen, siebzehn Monate insgesamt. Anfang August sind wir in New York angekommen, nach ein paar Tagen haben wir die Wohnung gefunden, in der wir jetzt in Greenwich Village zu Hause sind, nachdem wir ein schweineteures und inakzeptables Rattenloch nach dem anderen verworfen hatten. Die kleine Dachwohnung, für die wir uns schließlich entschieden haben, ist ebenfalls schweineteuer, aber sie ist zumindest sauber und bewohnbar.
Vier vollgepackte Koffer, zwei leere Herzen. Die Koffer haben wir geleert, ihre Inhalte in schmale Schränke und wacklige Kommoden gestopft, mit unseren Herzen ist es etwas anderes. Winnie sagt, sie wolle wieder ernsthaft anfangen zu malen, aber sie muss bei diesem Schaffensprozess alleine sein, aus diesem Grund begebe ich mich jeden Tag für ein paar Stunden außer Haus. Natürlich brauche auch ich die Einsamkeit, ich muss sehen, dass ich die Worte wiederfinde, eines aufs andere lege, Satz an Satz füge und schließlich etwas zustande bringe, was aus mehr als einer traurigen, trostlosen Wanderung in immer den gleichen Kreisen besteht.
Jede Geschichte sucht ihre Form und findet sie.
Oder sie stirbt.
Mein Name ist Erik Steinbeck, um es gleich vorweg zu sagen. Zum jetzigen Zeitpunkt bin ich 38 Jahre alt. Seit einem guten Jahrzehnt kann ich mich Schriftsteller nennen, aber jetzt sind bereits drei Jahre vergangen, ohne dass ich etwas Neues produziert hätte. Fünf Romane, das ist meine ganze Ausbeute, aber zwei von ihnen sind erfolgreich verfilmt worden, und so werden wir finanziell zurechtkommen, auch wenn ich in den nächsten Jahren kein einziges Wort zu Papier bringe. Das ist allerdings auch schon die einzige Prognose, die ich bezüglich der Zukunft abzugeben wage. Wir werden nicht verhungern vor der letzten Seite dieses zweifelhaften Romans.
Meine Ehefrau Winnie ist bildende Künstlerin, in gewisser Weise ist sie anerkannter als ich und in ihrer künstlerischen Karriere weiter, aber ich bin derjenige, der bis jetzt ökonomisch am erfolgreichsten war. Ich weiß selbst nicht, warum ich die Zeit mit diesen trockenen Fakten zu unseren Lebensverhältnissen verschwende. Vielleicht liegt dem ein altes, calvinistisches Rechtfertigungsbedürfnis zugrunde, vielleicht ist es auch nur eine Möglichkeit, das, worüber ich eigentlich sprechen will, noch ein wenig hinauszuzögern.
Wir sind seit sieben Jahren verheiratet. Vor siebzehn Monaten ist unsere vierjährige Tochter Sarah verschwunden, und das ist auch der Grund, warum wir uns in New York befinden.
Das ist auch der Grund, warum wir einander fremd geworden sind.
In etwa ist dies auch der Ausgangspunkt für diesen Bericht, wobei ich selbst diese Aussage nicht einfach so schlucken würde. Aber irgendwo muss man ja einen Ausgangspunkt setzen. Irgendwo muss man anfangen.
Genug der Ausflüchte. Ich habe bereits die schwere Tür zur Bibliothek geöffnet, als ich beschließe, zunächst doch noch einen Spaziergang am Fluss zu machen. Ich brauche nur fünf Minuten, um zum Hudson River Park zu gelangen. An diesem Morgen liegt Nebel über dem Wasser; New Jersey zeigt sich hübsch und gepflegt auf der anderen Flussseite, fast wider Willen. Ich bleibe eine Weile ganz vorne auf einem der Piers stehen, es ist fast windstill, die Schiffe und Schlepper verschwimmen ineinander und gleiten wie schwere, unförmige Urzeitwesen durch den gelbweißen Dunst. Es sieht aus wie in meinem Inneren, denke ich, meine Gedanken weisen die gleiche klumpige Unschärfe auf, ich weiß nicht genau, wie es sich bei Winnie verhält, aber ich glaube, dass es bei ihr um andere Fragen geht. Ich schreibe »glaube«, ich meine aber >weiß«. Wir stehen zwar beide am Abgrund der Verzweiflung, aber der Abgrund der Verzweiflung streckt sich in die Länge, und unsere Positionen liegen weit voneinander entfernt. Wir sind nicht einmal mehr in der Lage, einander die Hand zu reichen, um gemeinsam von einer Klippe oder einer Brücke zu springen, und das, genau das ist es, was alles so viel schwerer macht, als es sowieso schon ist. »Erträgst du es noch mit mir?«, fragte sie mich neulich. Ich antwortete, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als wenn wir wieder einen Weg zueinander fänden, aber womöglich ist das nicht die ganze Wahrheit, beschwören könnte ich es nicht. Man sagt Dinge, die passend klingen, und wir haben uns seit dem Zeitpunkt, als Sarah verschwand, nicht ein einziges Mal geliebt; manchmal ist es schwer zu begreifen, warum wir uns mit so einer Hartnäckigkeit immer noch aneinander klammern.
Ich wandere die Chelsea Piers hinauf, dann zurück durch den Meatpacking District und das West Village. Kaufe Kaffee und einen Bagel im Delikatessengeschäft an der Ecke Hudson/ Barrow, und als ich den Platz an meinem Tisch in der Bibliothek einnehme, ist es Viertel nach zehn.
Ich hole meinen schwarzen Block und meine Stifte heraus. Schaue durch das hohe Fenster mit den Bleiglasfenstern nach draußen; die Bäume entlang der Leroy weisen noch keine Spur von Gelb auf, der Sommer reicht wirklich weit in den September. Hinten von den Sportplätzen im James Walker Park sind Rufe und Flüche der Spieler zu hören. Ich trinke einen Schluck Kaffee, beiße vom Bagel ab und starre auf die erste leere Seite. Beschließe dann, den Satz mit den Koffern und den Herzen zu akzeptieren, plötzlich habe ich das Gefühl, dass er gar nicht mehr so wichtig ist, wie ich gedacht habe. Alles ist möglich.
Ich schaue auf, mein Blick begegnet dem von Mr. Edwards. Mr. Edwards ist ein Mann in den Siebzigern. Er sitzt an einem Tisch weiter hinten im Raum, er ist Stammkunde, genau wie ich, und genau wie ich ist er damit beschäftigt, etwas zu schreiben. Er ist hochgewachsen, macht einen vitalen Eindruck, obwohl er eine Glatze hat und sich nur mühsam vorwärtsbewegen kann. Allem Anschein nach ist es die Hüfte, die ihm Probleme bereitet. Sein Gesicht ist länglich, mit einer kräftigen Kieferpartie und tief liegenden Augen, seine Hautfarbe zeugt davon, dass Latino- oder karibisches Blut in seinen Adern fließt. Vielleicht verdünnt, aber nicht mehr als fifty-fifty. Wir haben uns einander nie vorgestellt, aber ich habe gehört, wie das Personal ihn mit "Mr. Edwards. ansprach. Seit ich in die Bibliothek gehe, also seit zwei Wochen, hat er immer auf seinem Platz gesessen. Wir begrüßen uns durch ein vorsichtiges Kopfnicken, aber mehr auch nicht.
Auch an diesem Morgen nickt er leicht; ich nehme an, dass er bemerkt hat, dass ich mit dem Schreiben angefangen habe und dass er mir dazu gratulieren will. Oder mich zumindest wissen lassen will, dass er es bemerkt hat, es handelt sich um eine äußerst diskrete Annäherung, dennoch durchströmt mich ein Hauch von Wärme und Zuversicht.
Eine Sekunde, höchstens zwei, dauert das an; ich erwidere sein Nicken und fange an, das durchzulesen, was ich bis jetzt zustande gebracht habe.
Es ist halb drei, als ich die Bibliothek verlasse. Ich setze mich mit einem Kaffee draußen vors The Grey Dog's Café und rufe Winnie an. Ich kann schräg gegenüber eines unserer Fenster sehen, aber es ist zu klein und zu weit oben, als dass ich hineinschauen könnte. Ich kann nicht abschätzen, ob sie zu Hause ist oder nicht.
Ich erhalte keine Antwort. Was alles Mögliche bedeuten kann. Sie kann daheim sein, aber nicht drangehen wollen, weil sie arbeitet. Sie kann im Schwimmbad in der 36. Straße sein; da geht sie mindestens zweimal die Woche hin, schwimmt und ruht sich aus, Stunde um Stunde, sie behauptet nie, dass es der Heilung dienen könnte, aber vielleicht tut es das ja doch. Vielleicht ist das der Grund für ihre Besuche dort, bewusst oder unbewusst, sie hat schon immer eine besondere Beziehung zum Wasser gehabt.
Vielleicht ist sie aber auch nur in der Stadt unterwegs. Anfangs hat sie sich täglich Kunst angesehen. Metropolitan und Neue Galerie. Guggenheim und MoMA und die Galerien in Chelsea und am West Broadway. Aber damit hat sie jetzt aufgehört. Jetzt malt sie stattdessen, und zwar auf mindestens vier Leinwänden, wenn ich richtig gezählt habe. Öl und Eiöltempera. Bisher durfte ich noch nichts sehen, so ist es immer gewesen, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Bilder sind für Blicke gemacht, sagt sie. Wenn sie erst einmal fertig sind, ist das ihre einzige Funktion, aber während sie geboren werden, darf man sie noch keinen Blicken aussetzen. Ist es mit deinen Texten nicht das Gleiche?
Meistens stimme ich ihr zu, ja, mit meinen Texten ist es das Gleiche. Die Worte müssen sich erst ein wenig setzen, eine Zeit lang zur Ruhe kommen, bis sie das Tageslicht ertragen. Koagulieren, so nennen wir es.
Als ich das zweite Mal anrufe, geht sie ran. Sie ist auf dem Heimweg von einem Laden für Künstlerbedarf unten an der Canal. Ich frage, ob ich ihr entgegenkommen soll. Sie antwortet, lieber nicht, ich kann ihrer Stimme anhören, dass sie ein oder zwei Gläser getrunken hat. Ich denke, dass wir in genau einem Monat unseren siebten Hochzeitstag haben.
Plötzlich bin ich unsicher, ob wir es jemals bis dahin schaffen werden.
2
Es war am 25. November 1999. Mein dritter Roman, Die Perspektive des Gärtners, war im September herausgekommen, und ich befand mich in meiner achten Lesewoche.
Was nun genau dafür ausschlaggebend war, konnte ich nicht sagen, aber ich empfand einen zunehmenden Ekel sowohl mir selbst als auch dem Buch gegenüber, das ich Abend für Abend an verschiedenen Orten in verschiedenen Teilen des Landes vorstellte. Ich konnte die gesichtslosen Hotelzimmer nicht mehr voneinander unterscheiden, das vielköpfige Publikum nicht von dem des Vortages oder von dem der letzten Woche, aber an den letzten Abenden hatte ich Gesellschaft von drei anderen Autoren gehabt, die sich alle mehr oder minder in der gleichen misslichen Lage befunden hatten wie ich. Es war eine Erleichterung, nicht allein zu sein, zumindest versicherten wir uns das gegenseitig zwischen unseren Auftritten, um die gute Laune und den sogenannten Schwung aufrechtzuerhalten. Im Nachhinein weiß ich natürlich, dass die Stadt Aarlach hieß, aber ich bin mir nicht sicher, ob mir das klar war, als ich hinter dem wolkenmarmorierten Rednerpult auf der Bühne meinen Platz einnahm, um wieder einmal die immer gleichen Worte, die immer gleichen versprengten Beobachtungen und leicht dahin geworfenen Wahrheiten über das Leben und unsere grundlegenden Lebensbedingungen von mir zu geben, denen ich zu diesem Zeitpunkt schon so viel Saft ausgepresst hatte, dass ich bezweifelte, es könnte noch einen einzigen Zuhörer geben, der nicht bemerkte, wie blutleer das alles klang. Obwohl das Ganze anfangs den anspruchsvollen Stempel des reinen Ernstes und der unverfälschten Berichterstattung getragen hatte, dessen war ich mir sicher. In dieser Absicht bin ich an das Ganze gegangen, und so war es auch gewesen. Aber welche Geschichte, welche Episode erträgt es schon, Abend für Abend für Abend wiederholt zu werden? Wer ist dazu in der Lage? Natürlich, es gibt solche Geschichten und auch solche Erzähler, ich bin der Erste, der das einräumt. Mein Gefühl des Versagens habe ich einzig und allein mir selbst zuzuschreiben. Und zwar damals wie heute.
Die Veranstaltung fand in einem alten, umgebauten Kino im Art-deco-Stil. statt. Die Anzahl der Plätze betrug vier- his fünfhundert, es gab nicht einen einzigen freien Stuhl im Raum. Als ich nach ungefähr vierzehn Minuten damit begann, meinen Sechs-Minuten-Text aus dem zweiten Kapitel vorzulesen, trat etwas Sonderbares ein, was mir bis heute unerklärlich ist. Ich wurde plötzlich blind. Der Text - und das Buch und die Hände, die das Buch hielten, und das Rednerpult und das gesamte vierhundertfünfzigköpfige Publikum - verschwand vor meinen Augen, und eine Sekunde lang dachte ich, meine letzte Stunde hätte geschlagen. Ich würde hier auf der Bühne, während meines Auftritts, sterben. Möglicherweise gelang es mir sogar - in aller Hast -, diesem finsteren Gedanken ein wenig bittere Süße abzugewinnen, denn auch wenn meine Romane in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren bestimmt vergessen sein werden, so würde der eine oder andere Bücherwurm sich gewiss noch daran erinnern, wie ich meine Tage beendet hätte.
Und Berühmtheit, in welcher Gestalt auch immer, ist nie zu verachten.
Aber so schlimm kam es nicht. Ich umklammerte mit der linken Hand die hervorstehende, etwas spitze Seitenkante des Pultes, mit der rechten das Buch, und da der Text sich mir nach all den Vorstellungen bis zur letzten Atempause und bis zum kleinsten Semikolon eingeprägt hatte, las ich einfach weiter, als wenn nichts wäre. Ich blätterte sogar an der richtigen Stelle um, und nach einem gewissen Zeitraum, den ich damals nicht einschätzen konnte, von dem ich jedoch im Nachhinein annehme, dass er ungefähr zwei Minuten betrug, kehrte mein Augenlicht zurück.
Der Text erschien wieder vor mir - das Buch, meine Hände, die ein wenig zitterten, ich hatte es nicht bemerkt, aber jetzt sah ich es, das Scheinwerferlicht und die Gesichter der Menschen, die in den ersten zwei, drei Reihen saßen -, und mir war klar, dass ich etwas sehr, sehr Ungewöhnliches erlebt hatte.
Vielleicht war es ein Zeichen oder ein Omen, aber ich habe nie auch nur annähernd begriffen, wie es zu deuten wäre.
Eine halbe Stunde später - ich war der letzte Autor gewesen, der auftrat - befanden wir uns in dem obligatorischen Restaurant. Analyse, Nachgespräch, der Leichenschmaus. Wir waren so um die zwanzig, ein Quartett an Schriftstellern, eine Handvoll Organisatoren, ein paar Buchhändler, einige Journalisten und drei oder vier weitere Gäste. Die Tafel wurde nach einer guten Stunde aufgehoben, da einige sich noch ein wenig bewegen wollten, und ich landete bei einer dunklen Dame in den Dreißigern, ich hatte ihre Funktion am Abend nicht herausgefunden, und sie offenbarte sich mir auch nicht. Auch ihren Namen nannte sie mir nicht.
»Mir gefällt Ihr Buch sehr guts, begann sie stattdessen das Gespräch.
Das war keine ungewöhnliche Einleitung, wenn man die Umstände bedachte, und ich begnügte mich damit, ihr zu danken.
»Es gab da vor allem einen Abschnitt, der mich tief bewegt hats, fuhr sie fort.
Ich murmelte etwas Unverbindliches als Antwort, fühlte mich wie immer in so einer Situation etwas unsicher und verlegen. Entblößt und bereit für die Obduktion, wie ein Kollege die Sache zu bezeichnen pflegt.
»Es geht um dieses Gedichts, sagte sie. »Gibt es das wirklich? Ich meine, Sie behaupten in Ihrem Buch, dass es von diesem russischen Dichter verfasst wurde, aber ich könnte mir denken, dass Sie es selbst geschrieben haben.»
»Da denken Sie ganz richtig», erwiderte ich.
»Sie haben es selbst geschrieben?»
»Ja», gab ich zu, »auch dafür bin ich verantwortlich.»
Sie legte mir eine Hand auf den Arm und schien sich zu konzentrieren. Ich trank einen Schluck Wein und fühlte mich bedrängt, aber gleichzeitig auch geschmeichelt, das will ich gar nicht leugnen.
»Sechs Fuß unter der Erde», zitierte sie, »in der Morgendämmerung, zwei blinde Würmer, die verweilen.»
»ja», sagte ich. »So steht es da.»
»Und Sie sind derjenige, der es geschrieben hat?»
»ja.»
Ich wand mich. Es ist eine Sache, dass jedes Buch als ein Gespräch zwischen zwei Personen betrachtet werden kann, nämlich einem Autor und dem Leser. Es ist etwas ganz anderes, wenn der Schutz, den das Buch ausmacht, wegfallt, wenn der Abstand zwischen den Gesprächspartnern zu einem Nichts zusammenschrumpft. Eine dumpfe Welle der Unlust durchfuhr mich, und ich wünschte, ich hätte Mumm genug besessen, einfach aufzustehen und das Lokal zu verlassen. Aber das hatte ich nicht.
Sie bemerkte meine Verlegenheit. »Entschuldigung», sagte sie. »Ich wollte Sie nicht belästigen. Ich bin Ihnen zu nahe getreten, das war dumm von mir.»
Ich schaute mich am Tisch um, während ich versuchte, mich irgendwie wieder in den Griff zu bekommen. Alle anderen Gäste saßen in kleinen Gruppen ins Gespräch vertieft, einige hatten Zigaretten oder Zigarren angezündet, und keiner von ihnen nahm auch nur die geringste Notiz von mir und der unbekannten Frau. Ich trank noch einen Schluck Wein.
»Wer sind Sie?», fragte ich und stellte mein Glas ab. »Ich glaube, wir sind einander nicht vorgestellt worden.»
Sie lachte, nahm dabei jedoch nicht ihre Hand von meinem Arm.
»Sie sind so altmodisch», sagte sie. »Das gefällt mir. Möchten Sie, dass ich Sie in Ruhe lasse?»
»Ich weiß es nicht», antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin nicht ganz bei der Sache heute Abend, es war eine anstrengende Woche.»
»Sie möchten, dass ich Sie in Ruhe lasse?», wiederholte sie. Ich betrachtete ihr Gesicht, dessen Konturen sich plötzlich aufzulösen schienen. Einen Moment lang fürchtete ich, ich könnte wieder mein Sehvermögen verlieren, doch dann stabilisierte sich alles, und erst da stellte ich fest, wie schön sie war.
»Was wollen Sie von mir?», fragte ich. »Wer sind Sie?»
»Ich heiße Winnie Mason», sagte sie. »Lassen Sie uns von hier verschwinden. Ich muss ernsthaft mit Ihnen reden.»
Zwei Minuten später standen wir draußen auf dem Bürgersteig im Regen. In Aarlach, es war Viertel nach elf Uhr abends, der 25. November 1999. Und ich stand dort mit einer Frau, die Winnie Mason hieß.
...
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
- Autor: Håkan Nesser
- 2012, 316 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442740169
- ISBN-13: 9783442740161
- Erscheinungsdatum: 04.05.2012
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