Die Reisen mit meiner Tante
Roman
»Es lebe Tante Augusta!« Neue Zürcher Zeitung
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Produktinformationen zu „Die Reisen mit meiner Tante “
»Es lebe Tante Augusta!« Neue Zürcher Zeitung
Klappentext zu „Die Reisen mit meiner Tante “
Graham Greenes ungewöhnlichstes, skurrilstes und amüsantestes BuchWie kommt das Haschisch in die Urne seiner Mutter? Hat Tante Augusta ihre Finger im Spiel? Diese und weitere unangenehme Fragen muss sich der solide Junggeselle und pensionierte Bankbeamte Henry Pullig stellen, nachdem er sich entschlossen hat, der neue Reisebegleiter seiner lebenslustigen Tante zu werden. Skurrile Erlebnisse und makabre Geschichten sind an der Tagesordnung, wenn man mit der ungezwungenen Fünfundsiebzigjährigen unterwegs ist. Und auf den braven Henry scheint ihr kriminelles Potential abzufärben - so stürzen sie sich gemeinsam in ein Leben voller Gefahr und Abenteuer.
Lese-Probe zu „Die Reisen mit meiner Tante “
Die Reisen mit meiner Tante von Graham GreeneAus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer
ERSTER TEIL
1
Ich begegnete meiner Tante Augusta zum ersten Mal nach mehr als einem halben Jahrhundert beim Begräbnis meiner Mutter. Meine Mutter war fast sechsundachtzig, als sie starb, und meine Tante elf oder zwölf Jahre jünger. Zwei Jahre zuvor hatte mich die Bank mit einer ausreichenden Pension und einem versilberten Händedruck in den Ruhestand entlassen. Nach der Übernahme durch die Westminster-Bank galt meine Zweigstelle als überflüssig. Alle hielten mich für einen Glückspilz, aber mir fiel es schwer, mit meiner Zeit etwas anzufangen. Ich hatte nie geheiratet, hatte immer ein ruhiges Leben geführt und, abgesehen von meinem Interesse für Dahlien, kein Steckenpferd. Deshalb fühlte ich mich von der Beisetzung meiner Mutter auf angenehme Weise erregt.
Mein Vater war seit mehr als vierzig Jahren tot. Er war Bauunternehmer gewesen, ein lethargischer Mensch, der an den seltsamsten Stellen seine Nachmittagsschläfchen zu halten pflegte. Das irritierte meine Mutter, eine energische Frau, und sie stöberte ihn immerzu auf, um ihn dabei zu stören. Ich erinnere mich, daß ich als Kind einmal ins Badezimmer ging - wir wohnten damals in Highgate - und meinen Vater schlafend und angezogen in der Badewanne fand. Ich bin ziemlich kurzsichtig und glaubte zunächst, meine Mutter hätte einen Mantel gewaschen, bis ich meinen Vater flüstern hörte: »Schieb innen den Riegel vor, wenn du rausgehst.« Er war zu faul, aus der Wanne zu steigen, und wahrscheinlich zu schlaftrunken, um zu bemerken, daß seine Anweisung unmöglich auszuführen war.
... mehr
Ein anderes Mal, als er eine Wohnhausanlage in Lewisham errichtete, machte er sein Nickerchen in der Kabine des riesigen Baukrans, und man mußte die Arbeit unterbrechen, bis er aufwachte. Meine Mutter, die schwindelfrei war, kletterte die Leitern zu den höchsten Baugerüsten hinauf, wo sie ihn zu ertappen hoffte, während er inzwischen womöglich einen Winkel in der zukünftigen Tiefgarage gefunden hatte. Ich hatte immer gedacht, sie wären miteinander recht glücklich; die Partnerrollen als Jägerin und Gejagter schienen ihnen zu liegen, denn meine Mutter hatte, seit ich mich erinnern kann, eine wachsame Kopfhaltung und einen sachte trabenden Gang, die mich an einen Jagdhund erinnerten. Man möge mir diese Reminiszenzen verzeihen; bei einem Begräbnis kommt derlei ungebeten. Das macht das viele Warten.
Nur wenige Menschen nahmen am Gottesdienst teil, der in einem berühmten Krematorium stattfand, aber es herrschte jene leise Unruhe und gespannte Erwartung, die man bei Beerdigungen nie verspürt. Werden die Klappen des Verbrennungsofens aufgehen? Bleibt der Sarg auf seinem Weg in die Flammen stecken? Ich hörte hinter mir eine sehr klare alte Stimme sagen: »Ich war einmal bei einer vorzeitigen Einäscherung.«
Es war Tante Augusta, wie ich mit einiger Schwierigkeit nach einem Foto im Familienalbum erkannte; sie war zu spät gekommen und war gekleidet wie die verewigte Königin Mary verehrten Angedenkens, hätte sie noch unter uns geweilt und sich der heutigen Mode ein wenig angepaßt. Ihr leuchtend rotes, hoch aufgetürmtes Haar überraschte mich, ebenso wie ihre beiden großen Schneidezähne, die ihr etwas vital Neandertalhaftes verliehen. Jemand zischte »Pst!«, und ein Geistlicher begann ein Gebet zu sprechen, das er wohl selbst verfaßt hatte. Ich hatte es noch bei keinem Trauergottesdienst gehört, und ich habe im Laufe meines Lebens schon an vielen teilgenommen. Von einem Bankfilialleiter erwartet man, daß er jedem alten Kunden die letzte Ehre erweist, der nicht gerade in den roten Zahlen ist, wie wir das nennen, und außerdem habe ich eine Schwäche für Begräbnisse. Die Leute zeigen sich bei solchen Gelegenheiten üblicherweise von ihrer besten Seite, ernst und nüchtern und optimistisch, was die menschliche Unsterblichkeit betrifft.
Die Bestattung meiner Mutter verlief reibungslos. Aus Sparsamkeitsgründen entfernte man die Blumen vom Sarg, der dann auf einen Knopfdruck hin aus unserem Blickfeld verschwand. Nachher, im trüben Sonnenlicht, schüttelten mir einige Neffen und Nichten, Cousins und Cousinen die Hand; ich hatte sie alle jahrelang nicht gesehen und konnte sie nicht auseinanderhalten. Man hatte mir bedeutet, ich solle auf die Asche warten, und das tat ich nun, während der Rauchfang des Krematoriums über unseren Köpfen zarte Wölkchen ausstieß.
»Du bist also Henry«, sagte Tante Augusta und sah mich nachdenklich aus Meerestiefen blauen Augen an.
»Ja«, sagte ich, »und du bist wohl Tante Augusta.«
»Es ist lange her, seit ich deine Mutter gesehen habe«, meinte Tante Augusta. »Ich hoffe, sie hatte einen leichten Tod.«
»O ja, weißt du, in ihrem Alter - ihr Herz ist einfach stehengeblieben. Sie ist an Altersschwäche gestorben.«
»Altersschwäche? Sie war bloß zwölf Jahre älter als ich«, sagte Tante Augusta vorwurfsvoll.
Wir machten einen kleinen Spaziergang im Garten des Krematoriums. Ein Krematoriumsgarten ähnelt einem wirklichen Garten ungefähr so sehr wie ein Golfplatz einer echten Landschaft. Der Rasen ist zu gepflegt, und die Bäume stehen zu steif in Reih und Glied: die Urnen sehen aus wie die kleinen Sandbehälter beim Abschlag. »Sag mal«, fragte Tante Augusta, »bist du immer noch in der Bank?«
»Nein, ich bin vor zwei Jahren in Pension gegangen.«
»In Pension? Ein junger Mann wie du? Um Gottes willen, was fängst du bloß mit deiner Zeit an?«
»Ich züchte Dahlien, Tante Augusta.« Sie vollführte eine majestätische Rechtswendung, als werfe sie eine imaginäre Schleppe hinter sich.
»Dahlien! Was hätte dein Vater dazu gesagt!«
»Ich weiß, er interessierte sich nicht für Blumen. Für ihn war ein Garten bloß Vergeudung von gutem Baugrund. Er hätte ausgerechnet, wie viele Schlafzimmer übereinander er dort untergebracht hätte. Er hat es sehr mit dem Schlafen gehabt.«
»Er brauchte Schlafzimmer auch noch für andere Zwecke«, sagte meiner Tante mit einer Derbheit, die mich überraschte.
»Er schlief an den seltsamsten Plätzen. Ich erinnere mich, wie er einmal im Badezimmer ...«
»In Schlafzimmern tat er etwas anderes als schlafen«, sagte sie. »Du bist der Beweis.«
Mir wurde langsam klar, warum meine Eltern so wenig Kontakt zu Tante Augusta gehabt hatten. Ihr Temperament hätte meiner Mutter nicht zugesagt. Meine Mutter war alles andere als puritanisch, aber sie hatte gern alles zur richtigen Zeit. Beim Essen wurde übers Essen geredet. Vielleicht über Lebensmittelpreise. Wenn wir ins Theater gingen, sprachen wir in der Pause über das Stück - oder über andere Stücke. Beim Frühstück redeten wir über die Nachrichten. Sie war eine Meisterin darin, das Gespräch wieder in die richtigen Bahnen zurückzulenken, wenn es abschweifte. Dann pflegte sie zu sagen: »Mein Lieber, das ist jetzt nicht der Moment . . .« Im Schlafzimmer, dachte ich mit einem Anflug von Tante Augustas Direktheit, hat sie vielleicht von Liebe gesprochen. Deshalb konnte sie es wohl nicht leiden, wenn mein Vater an seltsamen Orten schlief, und als ich mich für Dahlien zu interessieren begann, ermahnte sie mich oft, während der Geschäftsstunden nicht daran zu denken.
Als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, war die Asche zum Abholen bereit. Ich hatte eine streng klassische Urne aus schwarzem Stahl ausgesucht und hätte mich gerne überzeugt, daß kein Irrtum passiert war, aber man überreichte mir ein ordentlich in braunes Papier gewickeltes Päckchen mit roten Verschlußmarken, das mich an ein Weihnachtsgeschenk erinnerte. »Was wirst du damit machen? « fragte Tante Augusta.
»Ich möchte es auf ein kleines Podest zwischen meine Dahlien stellen.«
»Im Winter wird das ein wenig trostlos aussehen.«
»Das habe ich nicht bedacht. Aber ich könnte sie ja währenddessen im Haus aufstellen.«
»Hin und her. Meiner Schwester wird es kaum vergönnt sein, in Frieden zu ruhen.«
»Ich werde es mir noch überlegen.«
»Du bist nicht verheiratet, oder?«
»Nein.«
»Kinder?«
»Natürlich nicht.«
»Da stellt sich die Frage, wem du meine Schwester vermachen wirst. Ich werde wohl vor dir dahinscheiden.«
»Man kann nicht an alles auf einmal denken.«
»Du hättest sie hierlassen können«, sagte Tante Augusta.
»Ich dachte, sie würde sich zwischen den Dahlien gut ausnehmen«, sagte ich störrisch, denn ich hatte den ganzen Vorabend damit verbracht, einen einfachen, geschmackvollen Sockel zu entwerfen.
»A chacun son goût«, sagte meine Tante mit erstaunlich guter französischer Aussprache. Ich hatte meine Familie nie für sehr kosmopolitisch gehalten.
»Also, Tante Augusta«, sagte ich am Eingang zum Krematorium (ich wollte gehen, der Garten rief mich), »wir haben uns so viele Jahre nicht gesehen . . . Ich hoffe . . .« Ich hatte den Rasenmäher draußen gelassen, ohne ihn zuzudecken, und die rasch dahinziehenden grauen Wolken über uns sahen nach Regen aus. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du einmal zu mir nach Southwood zum Tee kämst.«
»Im Moment hätte ich lieber etwas Stärkeres, Beruhigenderes. Man sieht ja nicht jeden Tag seine Schwester den Flammen übergeben. Wie La Pucelle.«
»Ich verstehe nicht ganz . . .«
»Jeanne d'Arc.«
»Ich habe ein wenig Sherry zu Hause, aber es ist ein weiter Weg und vielleicht . . .«
»Meine Wohnung jedenfalls ist nördlich vom Fluß«, sagte Tante Augusta bestimmt, »und ich habe alles, was wir brauchen.« Ohne meine Zustimmung abzuwarten, hielt sie ein Taxi an. Es war die erste und, wenn ich heute daran zurückdenke, wohl denkwürdigste der Reisen, die wir gemeinsam Unternehmen sollten.
2
Meine Wettervoraussage erwies sich als richtig. Die grauen Wolken brachten Regen, und ich war von meinen privaten Befürchtungen in Anspruch genommen. In den naßglänzenden Straßen spannten die Leute Schirme auf und suchten Zuflucht in den Toreingängen der Geschäfte. Irgendwie erinnert mich Regen in der Vorstadt immer an Sonntage.
»Woran denkst du?« fragte Tante Augusta.
»Wie dumm von mir. Ich habe meinen Rasenmäher draußen stehen gelassen und nicht zugedeckt.«
Meine Tante blieb ungerührt. Sie sagte: »Laß deinen Rasenmäher. Komisch, daß wir uns immer nur bei religiösen Zeremonien treffen. Das letzte Mal sah ich dich bei deiner Taufe. Ich war nicht eingeladen, bin aber trotzdem gekommen. « Sie lachte krächzend. »Wie die böse Fee.«
»Warum warst du nicht eingeladen?«
»Ich wußte zuviel. Über beide. Ich erinnere mich, daß du viel zu still warst. Du hast dir nicht den Teufel aus dem Leib gebrüllt. Ob er noch drin ist?« Sie rief dem Fahrer zu: »Verwechseln Sie bitte nicht Rowland Place mit Rowland Square, Rowland Crescent oder Rowland Gardens. Ich wohne am Rowland Place.«
»Ich habe nicht gewußt, daß es zwischen euch zum Bruch gekommen ist. Dein Foto war im Familienalbum.«
»Nur um den Schein zu wahren.« Sie seufzte ein wenig, und ein Wölkchen parfümierten Puders stieg auf. »Deine Mutter war eine Heilige. Von Rechts wegen hätte sie ein weißes Begräbnis haben sollen. La Pucelle«, fügte sie noch einmal hinzu.
»Ich begreife nicht ganz ...La Pucelle heißt doch-nun, um es deutlich auszudrücken: es gibt ja mich, Tante Augusta. «
»Ja. Aber du bist der Sohn deines Vaters. Nicht deiner Mutter.«
Am Morgen hatte mich der Gedanke an die Bestattung erregt, ja beinahe freudig bewegt. Wenn es nicht die meiner Mutter gewesen wäre, hätte ich die Unterbrechung im monotonen Alltag eines Pensionistendaseins als reines Vergnügen angesehen, und ich war angenehm an die alten Zeiten in der Bank erinnert, als ich so vielen prächtigen Kunden ein letztes Lebewohl gesagt hatte. Aber eine Unterbrechung wie diese beiläufige Bemerkung meiner Tante hätte ich mir nicht träumen lassen. Schluckauf wird ja angeblich durch einen heftigen Schock vertrieben, kann aber auch dadurch hervorgerufen werden. Ich stieß eine Frage hervor, durch Gickser unterbrochen.
»Ich sagte schon, deine offizielle Mutter war eine Heilige. Weiß du, das Mädchen hatte sich geweigert, deinen Vater zu heiraten, der sehr darauf drängte - wenn ein so energischer Ausdruck überhaupt auf ihn zutrifft -, zu tun, was sich gehört. Also hat meine Schwester die Sache vertuscht, indem sie ihn heiratete. (Er war nicht sehr willensstark.) Dann stopfte sie sich monatelang mit immer größeren Kissen aus. Niemand schöpfte Verdacht. Sie trug die Kissen sogar im Bett, und sie war so abgrundtief schockiert, als dein Vater einmal mit ihr zu schlafen versuchte - nach der Hochzeit, aber vor deiner Geburt -, daß sie ihm sogar nach deiner glücklichen Entbindung das verweigerte, was die Kirche seine Rechte nennt. Aber er war ja nie ein Mann, der auf seinen Rechten bestand.«
Ich lehnte mich zurück, vom Schluckauf geschüttelt. Jeder Versuch, etwas zu sagen, wäre gescheitert. Ich dachte an die Verfolgungsjagden die Baugerüste hinauf. Hatte also die Eifersucht meine Mutter getrieben, oder war es die Angst, wieder monatelang mit Kissen verschiedener Größe vor dem Bauch herumlaufen zu müssen?
»Nein«, sagte meine Tante zum Taxichauffeur, »das ist Rowland Gardens. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich wohne am Rowland Place.«
»Also nach links, Madam?«
»Nein. Nach rechts. Links ist Rowland Crescent. - Du brauchst nicht so schockiert zu sein, Henry«, sagte Tante Augusta. »Meine Schwester - deine Stiefmutter, wie wir sie vielleicht nennen sollten - war eine sehr noble Person.«
»Und mein - hicks - Vater?«
»Ein kleiner Windhund, wie die meisten Männer. Das ist vielleicht ihr größter Vorzug. Ich hoffe, du hast ein bißchen was davon, Henry.«
»Das glaube ich - hicks - nicht.«
»Warten wir's ab. Schließlich bist du der Sohn deines Vaters. Schluckauf kuriert man am besten, indem man aus dem gegenüberliegenden Rand eines Glases trinkt. Du kannst das Glas mit der Hand nachmachen. Flüssigkeit braucht man nicht unbedingt dazu.«
Ich holte tief Luft und fragte: »Wer war meine Mutter, Tante Augusta?« Aber sie war schon ganz woanders und redete mit dem Chauffeur: »Nein, nein, guter Mann. Das ist Rowland Crescent.«
»Sie sagten, nach rechts, Madam.«
»Tut mir leid. Meine Schuld. Ich weiß nie so recht, wo rechts und links ist. Backbord dagegen - ich weiß immer, wo backbord ist, wegen der Farbe - rot bedeutet links. Sie hätten sich backbord halten müssen, nicht steuerbord.«
»Ich bin doch kein verdammter Navigator, Lady.«
»Macht nichts. Fahren Sie einmal rundherum und versuchen Sie's noch mal. Ich nehme die Schuld auf mich.«
Wir hielten vor einer Gaststätte. Der Fahrer sagte: »Madam, wenn Sie gleich gesagt hätten, daß Sie zum ›Crown and Anchor‹ wollen . . .«
»Henry«, sagte meine Tante, »wenn du mal für einen Moment deinen Schluckauf vergessen könntest.«
»Hicks?« fragte ich.
»Macht sechseinhalb Shilling, ohne Trinkgeld«, sagte der Taxilenker.
»Dann warten wir, bis es sieben Shilling ausmacht«, gab Tante Augusta zurück. »Bevor wir hineingehen, Henry, sollte ich dich vielleicht warnen, daß in meinem Fall ein weißes Begräbnis völlig fehl am Platz wäre.«
»Aber du warst doch gar nie verheiratet«, sagte ich sehr schnell, um dem Schluckauf zuvorzukommen.
»In den letzten sechzig oder mehr Jahren hatte ich fast immer einen Freund«, sagte Tante Augusta. Sie fügte hinzu, vielleicht weil ich ungläubig dreinschaute: »Das Alter, Henry, mag unsere Gefühle ein wenig ändern - es zerstört sie nicht.«
Doch selbst diese Worte bereiteten mich nicht genügend auf das vor, was folgen sollte. In der Bank hatte ich natürlich gelernt, mich nicht überraschen zu lassen, nicht einmal durch Wünsche nach erschreckend hohen Kontoüberziehungen. Mein Prinzip war immer, Erklärungen weder zu verlangen noch anzuhören. Die Überziehung wurde einfach je nach Bonität des Kunden akzeptiert oder verweigert. Sollte der Leser mich für einen etwas unbeweglichen Charakter halten, so sollte er die langjährige Prägung durch meine Berufstätigkeit bedenken. Meine Tante, das sollte ich herausfinden, war nie durch irgendetwas geprägt worden, und sie hatte nicht die Absicht, mehr zu erklären, als sie schon getan hatte.
3
Das »crown and anchor« sah wie ein Bankgebäude im georgianischen Stil aus. Durch die Fenster sah ich Männer mit übertriebenen Schnurrbärten in Tweedsakkos mit Reiterschlitz, die sich um ein Mädchen in Reithosen scharten. Diesem Typ Mensch hätte ich keinen hohen Kredit gewährt, und ich bezweifelte, ob irgendeiner von ihnen - außer dem Mädchen - je auf einem Pferd gesessen hatte. Sie tranken alle Bier, und ich hatte den Eindruck, daß sie jeden überschüssigen gesparten Penny eher für Friseure und Schneider als für das Reiten ausgaben. Aufgrund langer Erfahrung mit Klienten sind mir schäbig gekleidete Whiskytrinker lieber als gutangezogene Biertrinker.
Wir betraten das Haus durch einen Seiteneingang. Die Wohnung meiner Tante lag im zweiten Stock, und im ersten Stock stand ein kleines Sofa; sie hatte es, wie ich später erfuhr, gekauft, um auf dem Weg nach oben ein wenig ausruhen zu können. Es war typisch für ihre großzügige Natur, daß sie ein Sofa gekauft hatte, das kaum auf dem Treppenabsatz Platz fand, statt eines Stuhls für eine Person. »Hier raste ich immer ein wenig. Setz dich doch auch, Henry. Die Stufen sind steil, obwohl es dir in deinem Alter vielleicht nicht so vorkommt.« Sie betrachtete mich kritisch. »Du hast dich bei Gott verändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, obwohl du kaum mehr Haare hast.«
»Ich hatte welche, aber ich habe sie verloren«, erklärte ich.
»Ich habe meine behalten. Ich kann immer noch darauf sitzen.« Überraschend setzte sie hinzu: »Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter. Geht natürlich nicht, bei einer Wohnung im zweiten Stock.«
»Stört dich der Lärm aus der Bar nicht?«
»Aber nein. Und die Bar ist sehr praktisch, falls mir plötzlich etwas ausgeht. Ich schicke einfach Wordsworth hinunter.«
»Wer ist Wordsworth?«
»Ich nenne ihn Wordsworth, weil ich es nicht über mich bringe, ihn Zacharias zu nennen. Seit Generationen heißen die ältesten Söhne in seiner Familie Zacharias - nach Zacharias Macauley, der in Clapham Common so viel für sie getan hat. Der Familienname stammt vom Bischof, nicht vom Dichter.«
»Ist er dein Kammerdiener?«
»Sagen wir, er kümmert sich um meine Bedürfnisse. Ein sehr sanfter, lieber, starker Mann. Aber laß dich von ihm nicht um ein CTC anbetteln. Er kriegt genug von mir.«
»Was ist ein CTC?«
»So hat man in Sierra Leone, wo er im Krieg aufgewachsen ist, ein Trinkgeld oder kleines Geschenk genannt. Die Buchstaben stehen für ›Cape to Cairo‹-Zigaretten; die Matrosen haben sie großzügig ausgeteilt.«
Die Konversation meiner Tante ging mir zu rasch, und so war ich nicht ganz vorbereitet auf den riesigen Neger mittleren Alters mit einer gestreiften Metzgerschürze, der auf das Klingeln meiner Tante hin die Tür öffnete. »Aber Wordsworth«, sagte sie leicht kokett, »du hast das Frühstücksgeschirr gespült, ohne auf mich zu warten.« Er stand da, funkelte mich an, und ich überlegte, ob er wohl ein CTC erwartete, bevor er mich vorbeiließ.
»Das ist mein Neffe, Wordsworth«, sagte meine Tante.
»Du mir ganze Wahrheit sagen, Frau?«
»Ja doch. Ach Wordsworth, Wordsworth«, setzte sie zärtlich neckend hinzu.
Copyright © Vollständige Ausgabe 2013 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Ein anderes Mal, als er eine Wohnhausanlage in Lewisham errichtete, machte er sein Nickerchen in der Kabine des riesigen Baukrans, und man mußte die Arbeit unterbrechen, bis er aufwachte. Meine Mutter, die schwindelfrei war, kletterte die Leitern zu den höchsten Baugerüsten hinauf, wo sie ihn zu ertappen hoffte, während er inzwischen womöglich einen Winkel in der zukünftigen Tiefgarage gefunden hatte. Ich hatte immer gedacht, sie wären miteinander recht glücklich; die Partnerrollen als Jägerin und Gejagter schienen ihnen zu liegen, denn meine Mutter hatte, seit ich mich erinnern kann, eine wachsame Kopfhaltung und einen sachte trabenden Gang, die mich an einen Jagdhund erinnerten. Man möge mir diese Reminiszenzen verzeihen; bei einem Begräbnis kommt derlei ungebeten. Das macht das viele Warten.
Nur wenige Menschen nahmen am Gottesdienst teil, der in einem berühmten Krematorium stattfand, aber es herrschte jene leise Unruhe und gespannte Erwartung, die man bei Beerdigungen nie verspürt. Werden die Klappen des Verbrennungsofens aufgehen? Bleibt der Sarg auf seinem Weg in die Flammen stecken? Ich hörte hinter mir eine sehr klare alte Stimme sagen: »Ich war einmal bei einer vorzeitigen Einäscherung.«
Es war Tante Augusta, wie ich mit einiger Schwierigkeit nach einem Foto im Familienalbum erkannte; sie war zu spät gekommen und war gekleidet wie die verewigte Königin Mary verehrten Angedenkens, hätte sie noch unter uns geweilt und sich der heutigen Mode ein wenig angepaßt. Ihr leuchtend rotes, hoch aufgetürmtes Haar überraschte mich, ebenso wie ihre beiden großen Schneidezähne, die ihr etwas vital Neandertalhaftes verliehen. Jemand zischte »Pst!«, und ein Geistlicher begann ein Gebet zu sprechen, das er wohl selbst verfaßt hatte. Ich hatte es noch bei keinem Trauergottesdienst gehört, und ich habe im Laufe meines Lebens schon an vielen teilgenommen. Von einem Bankfilialleiter erwartet man, daß er jedem alten Kunden die letzte Ehre erweist, der nicht gerade in den roten Zahlen ist, wie wir das nennen, und außerdem habe ich eine Schwäche für Begräbnisse. Die Leute zeigen sich bei solchen Gelegenheiten üblicherweise von ihrer besten Seite, ernst und nüchtern und optimistisch, was die menschliche Unsterblichkeit betrifft.
Die Bestattung meiner Mutter verlief reibungslos. Aus Sparsamkeitsgründen entfernte man die Blumen vom Sarg, der dann auf einen Knopfdruck hin aus unserem Blickfeld verschwand. Nachher, im trüben Sonnenlicht, schüttelten mir einige Neffen und Nichten, Cousins und Cousinen die Hand; ich hatte sie alle jahrelang nicht gesehen und konnte sie nicht auseinanderhalten. Man hatte mir bedeutet, ich solle auf die Asche warten, und das tat ich nun, während der Rauchfang des Krematoriums über unseren Köpfen zarte Wölkchen ausstieß.
»Du bist also Henry«, sagte Tante Augusta und sah mich nachdenklich aus Meerestiefen blauen Augen an.
»Ja«, sagte ich, »und du bist wohl Tante Augusta.«
»Es ist lange her, seit ich deine Mutter gesehen habe«, meinte Tante Augusta. »Ich hoffe, sie hatte einen leichten Tod.«
»O ja, weißt du, in ihrem Alter - ihr Herz ist einfach stehengeblieben. Sie ist an Altersschwäche gestorben.«
»Altersschwäche? Sie war bloß zwölf Jahre älter als ich«, sagte Tante Augusta vorwurfsvoll.
Wir machten einen kleinen Spaziergang im Garten des Krematoriums. Ein Krematoriumsgarten ähnelt einem wirklichen Garten ungefähr so sehr wie ein Golfplatz einer echten Landschaft. Der Rasen ist zu gepflegt, und die Bäume stehen zu steif in Reih und Glied: die Urnen sehen aus wie die kleinen Sandbehälter beim Abschlag. »Sag mal«, fragte Tante Augusta, »bist du immer noch in der Bank?«
»Nein, ich bin vor zwei Jahren in Pension gegangen.«
»In Pension? Ein junger Mann wie du? Um Gottes willen, was fängst du bloß mit deiner Zeit an?«
»Ich züchte Dahlien, Tante Augusta.« Sie vollführte eine majestätische Rechtswendung, als werfe sie eine imaginäre Schleppe hinter sich.
»Dahlien! Was hätte dein Vater dazu gesagt!«
»Ich weiß, er interessierte sich nicht für Blumen. Für ihn war ein Garten bloß Vergeudung von gutem Baugrund. Er hätte ausgerechnet, wie viele Schlafzimmer übereinander er dort untergebracht hätte. Er hat es sehr mit dem Schlafen gehabt.«
»Er brauchte Schlafzimmer auch noch für andere Zwecke«, sagte meiner Tante mit einer Derbheit, die mich überraschte.
»Er schlief an den seltsamsten Plätzen. Ich erinnere mich, wie er einmal im Badezimmer ...«
»In Schlafzimmern tat er etwas anderes als schlafen«, sagte sie. »Du bist der Beweis.«
Mir wurde langsam klar, warum meine Eltern so wenig Kontakt zu Tante Augusta gehabt hatten. Ihr Temperament hätte meiner Mutter nicht zugesagt. Meine Mutter war alles andere als puritanisch, aber sie hatte gern alles zur richtigen Zeit. Beim Essen wurde übers Essen geredet. Vielleicht über Lebensmittelpreise. Wenn wir ins Theater gingen, sprachen wir in der Pause über das Stück - oder über andere Stücke. Beim Frühstück redeten wir über die Nachrichten. Sie war eine Meisterin darin, das Gespräch wieder in die richtigen Bahnen zurückzulenken, wenn es abschweifte. Dann pflegte sie zu sagen: »Mein Lieber, das ist jetzt nicht der Moment . . .« Im Schlafzimmer, dachte ich mit einem Anflug von Tante Augustas Direktheit, hat sie vielleicht von Liebe gesprochen. Deshalb konnte sie es wohl nicht leiden, wenn mein Vater an seltsamen Orten schlief, und als ich mich für Dahlien zu interessieren begann, ermahnte sie mich oft, während der Geschäftsstunden nicht daran zu denken.
Als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, war die Asche zum Abholen bereit. Ich hatte eine streng klassische Urne aus schwarzem Stahl ausgesucht und hätte mich gerne überzeugt, daß kein Irrtum passiert war, aber man überreichte mir ein ordentlich in braunes Papier gewickeltes Päckchen mit roten Verschlußmarken, das mich an ein Weihnachtsgeschenk erinnerte. »Was wirst du damit machen? « fragte Tante Augusta.
»Ich möchte es auf ein kleines Podest zwischen meine Dahlien stellen.«
»Im Winter wird das ein wenig trostlos aussehen.«
»Das habe ich nicht bedacht. Aber ich könnte sie ja währenddessen im Haus aufstellen.«
»Hin und her. Meiner Schwester wird es kaum vergönnt sein, in Frieden zu ruhen.«
»Ich werde es mir noch überlegen.«
»Du bist nicht verheiratet, oder?«
»Nein.«
»Kinder?«
»Natürlich nicht.«
»Da stellt sich die Frage, wem du meine Schwester vermachen wirst. Ich werde wohl vor dir dahinscheiden.«
»Man kann nicht an alles auf einmal denken.«
»Du hättest sie hierlassen können«, sagte Tante Augusta.
»Ich dachte, sie würde sich zwischen den Dahlien gut ausnehmen«, sagte ich störrisch, denn ich hatte den ganzen Vorabend damit verbracht, einen einfachen, geschmackvollen Sockel zu entwerfen.
»A chacun son goût«, sagte meine Tante mit erstaunlich guter französischer Aussprache. Ich hatte meine Familie nie für sehr kosmopolitisch gehalten.
»Also, Tante Augusta«, sagte ich am Eingang zum Krematorium (ich wollte gehen, der Garten rief mich), »wir haben uns so viele Jahre nicht gesehen . . . Ich hoffe . . .« Ich hatte den Rasenmäher draußen gelassen, ohne ihn zuzudecken, und die rasch dahinziehenden grauen Wolken über uns sahen nach Regen aus. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du einmal zu mir nach Southwood zum Tee kämst.«
»Im Moment hätte ich lieber etwas Stärkeres, Beruhigenderes. Man sieht ja nicht jeden Tag seine Schwester den Flammen übergeben. Wie La Pucelle.«
»Ich verstehe nicht ganz . . .«
»Jeanne d'Arc.«
»Ich habe ein wenig Sherry zu Hause, aber es ist ein weiter Weg und vielleicht . . .«
»Meine Wohnung jedenfalls ist nördlich vom Fluß«, sagte Tante Augusta bestimmt, »und ich habe alles, was wir brauchen.« Ohne meine Zustimmung abzuwarten, hielt sie ein Taxi an. Es war die erste und, wenn ich heute daran zurückdenke, wohl denkwürdigste der Reisen, die wir gemeinsam Unternehmen sollten.
2
Meine Wettervoraussage erwies sich als richtig. Die grauen Wolken brachten Regen, und ich war von meinen privaten Befürchtungen in Anspruch genommen. In den naßglänzenden Straßen spannten die Leute Schirme auf und suchten Zuflucht in den Toreingängen der Geschäfte. Irgendwie erinnert mich Regen in der Vorstadt immer an Sonntage.
»Woran denkst du?« fragte Tante Augusta.
»Wie dumm von mir. Ich habe meinen Rasenmäher draußen stehen gelassen und nicht zugedeckt.«
Meine Tante blieb ungerührt. Sie sagte: »Laß deinen Rasenmäher. Komisch, daß wir uns immer nur bei religiösen Zeremonien treffen. Das letzte Mal sah ich dich bei deiner Taufe. Ich war nicht eingeladen, bin aber trotzdem gekommen. « Sie lachte krächzend. »Wie die böse Fee.«
»Warum warst du nicht eingeladen?«
»Ich wußte zuviel. Über beide. Ich erinnere mich, daß du viel zu still warst. Du hast dir nicht den Teufel aus dem Leib gebrüllt. Ob er noch drin ist?« Sie rief dem Fahrer zu: »Verwechseln Sie bitte nicht Rowland Place mit Rowland Square, Rowland Crescent oder Rowland Gardens. Ich wohne am Rowland Place.«
»Ich habe nicht gewußt, daß es zwischen euch zum Bruch gekommen ist. Dein Foto war im Familienalbum.«
»Nur um den Schein zu wahren.« Sie seufzte ein wenig, und ein Wölkchen parfümierten Puders stieg auf. »Deine Mutter war eine Heilige. Von Rechts wegen hätte sie ein weißes Begräbnis haben sollen. La Pucelle«, fügte sie noch einmal hinzu.
»Ich begreife nicht ganz ...La Pucelle heißt doch-nun, um es deutlich auszudrücken: es gibt ja mich, Tante Augusta. «
»Ja. Aber du bist der Sohn deines Vaters. Nicht deiner Mutter.«
Am Morgen hatte mich der Gedanke an die Bestattung erregt, ja beinahe freudig bewegt. Wenn es nicht die meiner Mutter gewesen wäre, hätte ich die Unterbrechung im monotonen Alltag eines Pensionistendaseins als reines Vergnügen angesehen, und ich war angenehm an die alten Zeiten in der Bank erinnert, als ich so vielen prächtigen Kunden ein letztes Lebewohl gesagt hatte. Aber eine Unterbrechung wie diese beiläufige Bemerkung meiner Tante hätte ich mir nicht träumen lassen. Schluckauf wird ja angeblich durch einen heftigen Schock vertrieben, kann aber auch dadurch hervorgerufen werden. Ich stieß eine Frage hervor, durch Gickser unterbrochen.
»Ich sagte schon, deine offizielle Mutter war eine Heilige. Weiß du, das Mädchen hatte sich geweigert, deinen Vater zu heiraten, der sehr darauf drängte - wenn ein so energischer Ausdruck überhaupt auf ihn zutrifft -, zu tun, was sich gehört. Also hat meine Schwester die Sache vertuscht, indem sie ihn heiratete. (Er war nicht sehr willensstark.) Dann stopfte sie sich monatelang mit immer größeren Kissen aus. Niemand schöpfte Verdacht. Sie trug die Kissen sogar im Bett, und sie war so abgrundtief schockiert, als dein Vater einmal mit ihr zu schlafen versuchte - nach der Hochzeit, aber vor deiner Geburt -, daß sie ihm sogar nach deiner glücklichen Entbindung das verweigerte, was die Kirche seine Rechte nennt. Aber er war ja nie ein Mann, der auf seinen Rechten bestand.«
Ich lehnte mich zurück, vom Schluckauf geschüttelt. Jeder Versuch, etwas zu sagen, wäre gescheitert. Ich dachte an die Verfolgungsjagden die Baugerüste hinauf. Hatte also die Eifersucht meine Mutter getrieben, oder war es die Angst, wieder monatelang mit Kissen verschiedener Größe vor dem Bauch herumlaufen zu müssen?
»Nein«, sagte meine Tante zum Taxichauffeur, »das ist Rowland Gardens. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich wohne am Rowland Place.«
»Also nach links, Madam?«
»Nein. Nach rechts. Links ist Rowland Crescent. - Du brauchst nicht so schockiert zu sein, Henry«, sagte Tante Augusta. »Meine Schwester - deine Stiefmutter, wie wir sie vielleicht nennen sollten - war eine sehr noble Person.«
»Und mein - hicks - Vater?«
»Ein kleiner Windhund, wie die meisten Männer. Das ist vielleicht ihr größter Vorzug. Ich hoffe, du hast ein bißchen was davon, Henry.«
»Das glaube ich - hicks - nicht.«
»Warten wir's ab. Schließlich bist du der Sohn deines Vaters. Schluckauf kuriert man am besten, indem man aus dem gegenüberliegenden Rand eines Glases trinkt. Du kannst das Glas mit der Hand nachmachen. Flüssigkeit braucht man nicht unbedingt dazu.«
Ich holte tief Luft und fragte: »Wer war meine Mutter, Tante Augusta?« Aber sie war schon ganz woanders und redete mit dem Chauffeur: »Nein, nein, guter Mann. Das ist Rowland Crescent.«
»Sie sagten, nach rechts, Madam.«
»Tut mir leid. Meine Schuld. Ich weiß nie so recht, wo rechts und links ist. Backbord dagegen - ich weiß immer, wo backbord ist, wegen der Farbe - rot bedeutet links. Sie hätten sich backbord halten müssen, nicht steuerbord.«
»Ich bin doch kein verdammter Navigator, Lady.«
»Macht nichts. Fahren Sie einmal rundherum und versuchen Sie's noch mal. Ich nehme die Schuld auf mich.«
Wir hielten vor einer Gaststätte. Der Fahrer sagte: »Madam, wenn Sie gleich gesagt hätten, daß Sie zum ›Crown and Anchor‹ wollen . . .«
»Henry«, sagte meine Tante, »wenn du mal für einen Moment deinen Schluckauf vergessen könntest.«
»Hicks?« fragte ich.
»Macht sechseinhalb Shilling, ohne Trinkgeld«, sagte der Taxilenker.
»Dann warten wir, bis es sieben Shilling ausmacht«, gab Tante Augusta zurück. »Bevor wir hineingehen, Henry, sollte ich dich vielleicht warnen, daß in meinem Fall ein weißes Begräbnis völlig fehl am Platz wäre.«
»Aber du warst doch gar nie verheiratet«, sagte ich sehr schnell, um dem Schluckauf zuvorzukommen.
»In den letzten sechzig oder mehr Jahren hatte ich fast immer einen Freund«, sagte Tante Augusta. Sie fügte hinzu, vielleicht weil ich ungläubig dreinschaute: »Das Alter, Henry, mag unsere Gefühle ein wenig ändern - es zerstört sie nicht.«
Doch selbst diese Worte bereiteten mich nicht genügend auf das vor, was folgen sollte. In der Bank hatte ich natürlich gelernt, mich nicht überraschen zu lassen, nicht einmal durch Wünsche nach erschreckend hohen Kontoüberziehungen. Mein Prinzip war immer, Erklärungen weder zu verlangen noch anzuhören. Die Überziehung wurde einfach je nach Bonität des Kunden akzeptiert oder verweigert. Sollte der Leser mich für einen etwas unbeweglichen Charakter halten, so sollte er die langjährige Prägung durch meine Berufstätigkeit bedenken. Meine Tante, das sollte ich herausfinden, war nie durch irgendetwas geprägt worden, und sie hatte nicht die Absicht, mehr zu erklären, als sie schon getan hatte.
3
Das »crown and anchor« sah wie ein Bankgebäude im georgianischen Stil aus. Durch die Fenster sah ich Männer mit übertriebenen Schnurrbärten in Tweedsakkos mit Reiterschlitz, die sich um ein Mädchen in Reithosen scharten. Diesem Typ Mensch hätte ich keinen hohen Kredit gewährt, und ich bezweifelte, ob irgendeiner von ihnen - außer dem Mädchen - je auf einem Pferd gesessen hatte. Sie tranken alle Bier, und ich hatte den Eindruck, daß sie jeden überschüssigen gesparten Penny eher für Friseure und Schneider als für das Reiten ausgaben. Aufgrund langer Erfahrung mit Klienten sind mir schäbig gekleidete Whiskytrinker lieber als gutangezogene Biertrinker.
Wir betraten das Haus durch einen Seiteneingang. Die Wohnung meiner Tante lag im zweiten Stock, und im ersten Stock stand ein kleines Sofa; sie hatte es, wie ich später erfuhr, gekauft, um auf dem Weg nach oben ein wenig ausruhen zu können. Es war typisch für ihre großzügige Natur, daß sie ein Sofa gekauft hatte, das kaum auf dem Treppenabsatz Platz fand, statt eines Stuhls für eine Person. »Hier raste ich immer ein wenig. Setz dich doch auch, Henry. Die Stufen sind steil, obwohl es dir in deinem Alter vielleicht nicht so vorkommt.« Sie betrachtete mich kritisch. »Du hast dich bei Gott verändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, obwohl du kaum mehr Haare hast.«
»Ich hatte welche, aber ich habe sie verloren«, erklärte ich.
»Ich habe meine behalten. Ich kann immer noch darauf sitzen.« Überraschend setzte sie hinzu: »Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter. Geht natürlich nicht, bei einer Wohnung im zweiten Stock.«
»Stört dich der Lärm aus der Bar nicht?«
»Aber nein. Und die Bar ist sehr praktisch, falls mir plötzlich etwas ausgeht. Ich schicke einfach Wordsworth hinunter.«
»Wer ist Wordsworth?«
»Ich nenne ihn Wordsworth, weil ich es nicht über mich bringe, ihn Zacharias zu nennen. Seit Generationen heißen die ältesten Söhne in seiner Familie Zacharias - nach Zacharias Macauley, der in Clapham Common so viel für sie getan hat. Der Familienname stammt vom Bischof, nicht vom Dichter.«
»Ist er dein Kammerdiener?«
»Sagen wir, er kümmert sich um meine Bedürfnisse. Ein sehr sanfter, lieber, starker Mann. Aber laß dich von ihm nicht um ein CTC anbetteln. Er kriegt genug von mir.«
»Was ist ein CTC?«
»So hat man in Sierra Leone, wo er im Krieg aufgewachsen ist, ein Trinkgeld oder kleines Geschenk genannt. Die Buchstaben stehen für ›Cape to Cairo‹-Zigaretten; die Matrosen haben sie großzügig ausgeteilt.«
Die Konversation meiner Tante ging mir zu rasch, und so war ich nicht ganz vorbereitet auf den riesigen Neger mittleren Alters mit einer gestreiften Metzgerschürze, der auf das Klingeln meiner Tante hin die Tür öffnete. »Aber Wordsworth«, sagte sie leicht kokett, »du hast das Frühstücksgeschirr gespült, ohne auf mich zu warten.« Er stand da, funkelte mich an, und ich überlegte, ob er wohl ein CTC erwartete, bevor er mich vorbeiließ.
»Das ist mein Neffe, Wordsworth«, sagte meine Tante.
»Du mir ganze Wahrheit sagen, Frau?«
»Ja doch. Ach Wordsworth, Wordsworth«, setzte sie zärtlich neckend hinzu.
Copyright © Vollständige Ausgabe 2013 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Graham Greene
Graham Greene wurde am 2. Oktober 1904 in Berkhampstead, Hertfordshire, geboren. Sein Grossonkel war der Autor der 'Schatzinsel', Robert Louis Stevenson. Da Greene der Sohn des örtlichen Schuldirektors war, behandelten seine Mitschüler ihn als Aussenseiter. Er entwickelte einen Hang zum Einzelgängertum, gegen den auch seine beiden Brüder nichts tun konnten. Nach Beendigung der Schule ging Greene nach Oxford und studierte am Balliol College Neuere Geschichte. Seine erste Anstellung war ein Redakteursposten bei der Times in London, danach fand er eine Stelle als Filmkritiker beim Spectator. Die grossen Reisen, die er unternahm - u.a. nach Westafrika und Asien - wurden auch zum Fundus für seine schriftstellerische Tätigkeit. Ein entscheidender Schritt war 1934 sein Übertritt zum Katholizismus. Sein erster Roman, 'The Man Within' (1929, dt. 'Zwiespalt der Seele'), beschreibt bereits den Konflikt zwischen Gut und Böse, der im Zentrum von Graham Greenes Werk steht. Man findet ihn in den Kriminalgeschichten wie in den psychologisch ausgerichteten Romanen. Als 1940 'The Power and the Glory' (dt. 'Die Kraft und die Herrlichkeit') erschien, erhielt Greene dafür den Hawthorne-Preis. Viele halten es für sein vielleicht bestes Werk. Zweimal leitete er Verlage, Mitte der vierziger Jahre Eyre & Spottiswoode und Anfang der sechziger Jahre Bodley Head. Am 3. April 1991 starb Graham Greene in Genf. Er wurde mehrmals als heisser Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gehandelt und zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Brigitte Hilzensauer, geboren 1950 in Niedernsill/Salzburg, übersetzte unter anderem Graham Greene, Timothy Snyder und Edmund de Waals 'Der Hase mit den Bernsteinaugen'. Sie lebt in Wien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Graham Greene
- 2013, 5. Aufl., 352 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Brigitte Hilzensauer
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423141794
- ISBN-13: 9783423141796
- Erscheinungsdatum: 14.12.2012
Rezension zu „Die Reisen mit meiner Tante “
"Graham Greene hat uns noch nie so amüsiert wie in diesem Roman." FAZ
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