Die Stille der Zeit
Gedanken zum Älterwerden
Jörg Zink, renommierter Theologe und Publizist, präsentiert kurz vor seinem 90. Geburtstag seine Gedanken zum Älterwerden. Was macht das Altwerden jenseits der körperlichen Befindlichkeiten aus? Wie verändern sich die Rollen in...
lieferbar
versandkostenfrei
Buch (Gebunden)
Fr. 18.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Stille der Zeit “
Jörg Zink, renommierter Theologe und Publizist, präsentiert kurz vor seinem 90. Geburtstag seine Gedanken zum Älterwerden. Was macht das Altwerden jenseits der körperlichen Befindlichkeiten aus? Wie verändern sich die Rollen in Familie und Gesellschaft? Ehrlich und eindrucksvoll, mit spiritueller Klarheit und Weisheit zieht Jörg Zink Bilanz.
Klappentext zu „Die Stille der Zeit “
»Unser Ziel ist die Stille der Zeit.«»Solange Gott mir seine Sonne scheinen lässt, werde ich vor dem Haus meiner Seele sitzen. Die Figuren meiner Phantasie streifen durch den Garten. Ich schaue den Bäumen zu, wie sie ausschlagen, wie die Blätter fallen, wie Schnee sie deckt, wie sie wieder grünen. Und allmählich wachsen. Ich werde gerne alt und danke Gott für jeden Tag.«
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Jörg Zink diese Zeilen geschrieben hat. Nun meldet er sich wieder zu Wort, um sich dem Thema Alter von einer neuen - »älteren« - Warte zu nähern. Was ist das Entscheidende am Altwerden? Was macht das Altwerden jenseits der zwangsläufigen körperlichen Befindlichkeiten aus? Welche Veränderungen folgen daraus und wie wirkt das auf die Gestalt, die Rolle, die es auszufüllen gilt?
Ehrlich und eindrucksvoll lässt Jörg Zink seine Gedanken rund um das Altsein kreisen. Damit ist er eine unüberhörbare Stimme, die sich mit spiritueller Klarheit und Weisheit im lauten Lamentieren über den demographischen Wandel respektvoll Gehör verschafft.
- Das Leben, eine Folge von Krisen und Wandlungen
- Was erwartet die Welt von den Alten?
- Zum 90. Geburtstag am 22.11.2012
Lese-Probe zu „Die Stille der Zeit “
Die Stille der Zeit von Jörg Zink I
Man wird alt
Ein Chinese namens Bo Diu-I, er lebte im 8. Jahrhundert, war 66 Jahre alt, als er dieses Gedicht schrieb, das Günter Eich übersetzt hat:
»An 70 Jahren fehlen mir noch vier.
Lohnt sich's, von diesem Leben noch zu sprechen?
Die Trauer sucht mich heim bei fremdem Tod,
und wiederum frohlocke ich: Noch atm' ich hier.
Wie kann man schwarz das Haupthaar
sich bewahren?
Was ist zu tun, dass nicht das Aug sich trübt?
Von den Gefährten blieben Seelentafeln,
indessen Knecht und Magd Urenkel wachsen sehn.
Im magern Kreuz drückt wie Metall die Schwere,
an den verfallnen Schläfen häuft sich Schnee.
Was ist zu tun, wenn sich Gebrechen mehren?
Zeit ist's, dass ich mich anvertrau dem Tor
der Leere.«
Als ich selbst jugendliche 66 Jahre zählte, schrieb ich ein kleines Buch mit der Behauptung: »Ich werde gerne alt.« Damals sagte mir eine befreundete Dame von 90 Jahren: »Du weißt ja gar nicht, wie das Altsein ist.« Inzwischen sind 23 Jahre ins Land gegangen, und ich bin 89. Die Freundin ist ihren Weg längst zu Ende gegangen, heute hätte sie vielleicht nichts mehr dagegen einzuwenden, dass ich über das Altsein schreibe. Und ob ich es noch gerne bin? Heute, da ich es länger bin, als es manchem an meiner Stelle vielleicht recht wäre? Damals habe ich auf den ersten Seiten beschrieben, wie ich mit dem Älterwerden umgehen wollte:
... mehr
»Es ist deutlich: Ich werde alt. Ich stand im Garten, die Rebschere in der Hand, neulich, an einem lauen und schönen Abend. Drei Schritte seitwärts meine Frau. Sie sagte etwas, aber ich verstand sie nicht. Man hört nicht mehr wie früher. Ich frage zurück. Sie möchte wissen, ob ich Mittwochabend Zeit hätte. Müllers wollten vorbeischauen.
Der Kalender liegt im Untergeschoss. Ich gehe die Treppe hinab und merke unten: Ich habe vergessen, weshalb ich herabkam. Es fällt mir wieder ein: Ach ja! Müllers. Beim Griff nach dem Kalender stelle ich fest: Die Brille liegt oben. Ich gehe also nach oben, sie holen, und komme wieder. Schließlich finde ich den Mittwoch.
Während ich zum zweiten Mal nach oben steige, Stufe für Stufe, fühle ich einen feinen Druck in den Knien. Und oben fange ich an zu suchen: Wo habe ich nur die Rebschere gelassen? Kein Zweifel: Ich werde alt.«
Der Text von damals geht sehr zuversichtlich weiter:
»Aber merkwürdig: Ich finde es schön. Was schadet's, dass mir Namen entfallen, die mir gestern genannt wurden? Dass alles langsamer geht, auch mühsamer natürlich? Ich werde gerne alt ...«
»Ich brauche nur noch am Schreibtisch zu sitzen, wenn mich die unbändige Lust zu arbeiten überfällt. Ich reise nicht mehr zu geschwätzigen Konferenzen. Ich brauche nichts zu werden. Nichts zu erreichen. Niemand braucht mich gut zu finden.
Was ich tat, tun nun die Jungen. Sie machen fast alles anders. Gut. Ich habe seinerzeit auch fast alles anders gemacht als die Alten. Ich wünsche ihnen ein gesegnetes Tun und Gottes Beistand.
Aber ich? Ich darf einfach ›sein‹. Ist das nichts? Ich gedenke es zu genießen, solange Gott mir seine Sonne scheinen lässt.
Ich werde vor dem Haus meiner Seele sitzen. Die Figuren meiner Phantasie streifen durch den Garten. Die Gestalten meiner Erinnerung gehen aus und ein und reden mit mir über längst Gewesenes.
Ich schaue den Bäumen zu, wie sie ausschlagen, wie die Blätter fallen, wie Schnee sie deckt, wie sie wieder grünen. Und allmählich wachsen. Ich werde gerne alt und danke Gott für jeden Tag.«
Dass das schwierig sein könnte, war mir dabei durchaus klar:
»Ich weiß, alt sein ist vielen Menschen zu schwer. Einsam vor sich hinzuleben, verlassen, hungernd nach einem Menschen, nach einer Berührung. Arm vielfach. Abgeschoben. Vergessen. Nutzlos. Ich weiß. Und dennoch: Ich werde gerne alt.«
So habe ich damals geschrieben. Da war vielleicht doch Manches ein wenig romantisch gesehen, so als Äußerung des kleinen ahnungslosen Moritz. Auch die Kritik jener alten Dame traf mich vielleicht doch nicht ganz zu Unrecht. Denn anschließend saß ich nicht auf der Bank vor meinem Haus, sondern brachte weitere zweiundzwanzig Jahre im Geschirr eines rastlos Arbeitenden zu. Ich konnte so tun, als sei ich gar nicht »wirklich« alt, bis mir mein Körper dann vor einem Jahr, nach vielen kleinen Zeichen, unmissverständlich klar machte, dass er diese Art des Altseins mit täglicher Arbeit nicht mehr mitmachen wollte.
Ich war gerade dabei, mich auf den ökumenischen Kirchentag vorzubereiten, der 2010 in München stattfand, und wollte dort das Meine sagen. Da traf mich ein Hirnschlag, einer von mehreren, die mich im Lauf der Jahre ereilten. Ich musste absagen. Freunde traten für mich ein. Zwei Wochen später gab es dann allerdings einen Herzinfarkt mit Notarzt und heulender Fahrt zum Krankenhaus. Dort sah ich verschreckte Gesichter bei Ärzten und Schwestern. Und die Auskunft: »Das kriegen wir hier nicht mehr hin.« Darauf dann ein eiliger Weg in eine Klinik, wo Operationen am offenen Herzen zum täglichen Brot gehören. Dort ein Gespräch mit einem Fachmann für solche Fragen, der die nötigen Schritte erklärte: Brustkorb aufsägen, Rippen aufklappen, dann suchen, woher frische Blutgefäße zu holen sein würden, die nötigen Nähte machen und schließlich alles wieder zurückbringen an seinen Platz. Er meinte, er habe diesen Eingriff schon oft gemacht und ich könne ruhig darauf vertrauen, nach der langen Narkose wieder aufzuwachen.
Nach vier Stunden Operation brachten sie mich tatsächlich wieder ins Bewusstsein zurück. Vier Bypässe habe er gelegt, erzählte mir der Arzt, aber erst viel später wurde ich dann ganz allmählich wach. Als erstes stellte ich fest, dass etwas an mir nicht in Ordnung war, denn überall trug ich Kabel, Leitungen, Schnüre. Das konnte nicht richtig sein. Ich stand also auf und zog sie einen nach dem anderen heraus, bis eine große Blutlache neben meinem Bett den schönen Boden verzierte. Ich erinnere mich an den Hilfeschrei einer Schwester. Alarm. Hektisches Rennen. Bluttransfusionen. Allmählich lernte ich, friedlich zu sein und die Kabel und Schläuche zu tolerieren. Und dabei doch immer weiter dieses zähe Aufwachen, viele Tage lang. Ein alter Körper wird nicht gerne aufgesägt, repariert und wieder vernäht.
Es gab aber auch Umstände, an die ich mich gerne erinnere. Meine Kinder, die ich sonst zu selten sehe, teilten sich darin, auf ihren alten Vater nachts aufzupassen. Und vor allem: Meine Frau durfte im selben Zimmer wohnen. So war es uns vergönnt, ein paar Wochen lang, auch in der anschließenden Kur, ein ruhiges, ungestörtes Leben miteinander zu führen und zu zweit in aller Stille die diamantene Hochzeit zu feiern.
Heute, ein Jahr später, sitze ich in meinem Arbeitszimmer im Untergeschoss des Hauses und lese noch einmal in jenem ersten Buch, in dem ich vor 22 Jahren beschrieb, wie ich mir mein Altwerden vorstellen wollte, und finde, das meiste sei richtig und berechtigt gewesen. So kann man über das Altwerden reden, jedenfalls solange die beschwerlichen Erfahrungen nicht zu viele werden.
Denn natürlich folgte schon damals der zuversichtlichen Einleitung viel an vorsichtiger Klage:
»Es ist nicht selbstverständlich,
dass einer gerne alt wird,
ich weiß. Die Kräfte nehmen ab.
Die Sinne werden müde,
Krankheiten kommen, Schmerzen.
Die täglichen Dinge machen Mühe,
das Gedächtnis täuscht.
Die Tage werden kürzer, die Nächte länger.
Die Freunde gehen. Die Geschwister.
Schwermut schleicht sich ein.
Angst vor dem, was kommt.
Man wird entbehrlich inmitten der Herablassung
und Gedankenlosigkeit jüngerer Leute.
Es ist ein langes Lied, das da zu singen ist. Man fühlt sich isoliert. Man fällt anderen zur Last. Der Körper wird unansehnlich. Und dennoch sage ich das Gegenteil. Altwerden ist die vierte Jahreszeit des Lebens. Ich möchte sie kennen lernen.
Und die Angst? Habe ich Angst? Ich bin kein ängstlicher Mensch. Ängstige ich mich vor dem Tod? Nein. Das nicht.
Aber dass Schmerzen mich eines Tages um die Selbstbeherrschung bringen, dass eine Krankheit mich nicht läutert, wie manche es erhoffen oder zumindest behaupten, sondern zermürbt und zerstört, davor habe ich Angst. Dass eines Tages all das, was in meinem Leben misslungen ist, vor mir steht und nicht weggehen will.«
Das Entscheidende am Altwerden im körperlichen Sinn lässt sich mit wenigen Worten darstellen: Krankheiten, Leidenszeiten, Schmerzen, Eingriffe wie Operationen. Oder ein Nachlassen der Sinnesorgane, das Vergessen dessen, was wichtig war, nicht mehr unbeschwert gehen, nicht mehr wirken können und vieles mehr. Alle diese körperlichen Veränderungen formen uns um. Aber was wird dabei aus uns? Etwa ein geringerer, ärmlicherer, hilfsbedürftigerer, schäbigerer Mensch? Oder was doch noch mehr?
Wer den langen Prozess des Älterwerdens aufmerksam beobachtet, wird rasch bemerken, dass dabei im Lauf der Jahre ein ganz grundsätzlich veränderter Mensch entsteht. Da ist der ganz offensichtliche Abbau des lange Jahre Vitalen in einen, der sich mühsam von einem Tag zum nächsten schleppt. Diese Veränderung fordert von uns, unter unserem Leben etwas anderes als früher zu verstehen, auf die schwieriger werdende Umwelt anders zu reagieren. Anderes wichtiger zu finden als früher. Sie erwartet, dass anderes aus unserer Welt den Tag bestimmt, dass wir eine andere Gestalt finden und unter unseren Mitmenschen eine andere, ganz ungewohnte und neue Rolle spielen.
Damals schien all dies nicht wirklich schwer zu bewältigen. Aber dann, im vorigen Jahr, in der Zeit nach meiner erfolgreichen Rehabilitation, bemerkte ich an mir eine Veränderung, von der kein Arzt vorher gesprochen hatte, denn die »Narkose« schien anzudauern. Noch ein halbes Jahr später fielen mir ganz gewöhnliche Wörter nicht ein, wenn ich reden wollte. Geordnetes Nachdenken, wie ich es achtzig Jahre lang gewohnt war, wollte nicht mehr gelingen, und stattdessen herrschte in meinem Kopf manchmal totale Verwirrung, unartikuliertes, wahlloses Plappern über nichts. Was ich zuvor noch ganz selbstverständlich gewusst hatte, war verflogen und kam auch nicht, wie manche mir tröstend versprochen hatten, im Lauf der Zeit wieder zurück, sondern schien zu einer Art Dauerzustand zu werden.
Mein Leben lang hatte ich auf ein gutes Gedächtnis bauen können und darauf, verständliche Sätze zu schreiben. Aber was ich über das Leben gewusst hatte, das war wie verschwunden. Das ganze Leben hatte ich auf meine Aktivität und meine Zuversicht zählen können. Doch nun griff plötzlich nach mir, wovon ich zuvor nur durch andere wusste: eine Art von Depression. Wozu war ich jetzt noch zu gebrauchen? Wer hatte jetzt noch etwas von mir? Was brachte mir selbst jetzt noch mein Leben? Hätte ich mich, statt der Operation, vielleicht doch lieber meinem Herzinfarkt überlassen sollen?
Die Erfahrung der langsam nur zurückkehrenden Einheit von Denken und Tun, von Seele und Körper macht, je älter man wird, um so klarer, dass die beiden auch ohne einander können - aber dass das dann nicht mehr das Leben ist, wie wir es verstehen. Es dauert nach einer Narkose mit »Sterben auf Probe« immer sehr lang, bis die schon im Gehen begriffene Seele wieder im Körper heimisch wird. Und in einem älteren Körper mit beschränkten Kräften dauert es noch einmal länger.
Zwischen dem ersten und diesem neuen Buch liegt die Erfahrung der Flüchtigkeit der Seele, wenn der Körper keine Kraft mehr hat - eine Erfahrung, die dem Menschen zeigt, wo es irgendwann definitiv hingeht. Man kann in solchen Phasen aber auch lernen, wie unwichtig vieles ist, das man vorher für selbstverständlich hielt. Zum Beispiel, sich mit fremden Gedanken auseinanderzusetzen oder verstehen zu wollen, was jemand in einem Buch als seine Gedanken zu Papier gebracht hat.
Es dauerte jedenfalls rund sieben Monate, bis eins nach dem anderen wiederkehrte, bis ich ein Buch, das ich las, wieder interessant fand und verstehen konnte. Eines der ersten, das man mir in die Hand drückte, war das Buch von Joachim Fuchsberger mit dem beunruhigenden Titel »Altwerden ist nichts für Feiglinge«. Schon der Titel ließ mich für einen Augenblick beklommen die Frage stellen, ob denn unter dieser Annahme das Altwerden überhaupt etwas für mich sein könne. Und weil ich das zu spüren glaubte, dass das Altwerden, jedenfalls für mich, eine lohnende Sache ist, kam in mir der Gedanke hoch, darauf müsse ich eigentlich eine Antwort wissen, mit der vielleicht auch andere etwas anfangen könnten, wenn sie sich wie ich beklommen die Frage stellen, für wen denn das Altwerden überhaupt etwas Schönes, etwas Erfreuliches sein könne.
Denn das ist klar: Für Feiglinge ist das ganze Leben nicht ausgelegt, längst nicht nur das Altwerden. Niemals im Leben ist es hilfreich, sich ängstigen zu lassen, sondern immer ist irgendwie gewollt, dass wir uns Herausforderungen stellen. Im jüngeren Leben gewöhnt man sich daran, dass das auch gelingt, und schließt daraus, man sei offenbar kein Feigling. Aber was wir dann an Kräften noch aufbieten können, um das Altwerden auf anständige Art zu bestehen, verbraucht sich oft mit wenig Erfolg. Und dann stellt sich natürlich die Frage, ob man vielleicht doch einfach nur ein Feigling sei, wenn man sich fragt, wie man das alles, was man jetzt zu bewältigen hat, eigentlich schaffen soll. Nein, feige sein hilft beim Altwerden wirklich nicht weiter.
Das Altwerden ist aber auch nichts für das Gegenteil. Es ist absolut nichts für Helden. Es ist nichts für Leute, die glauben, es gäbe Siege einzufahren gegen das Alter, denn wer älter wird, ist nur einfach der, der auf seine letzte, restliche Weise zu Ende lebt. Da kann er letztlich nur verlieren. Wer beim Altwerden auf Siege hofft, hat am Ende nicht mehr in der Hand als der Feigling, der meint, er überlebe damit, dass er Medikamente schluckt.
Zugleich kenne ich Leute, die man beinahe als Helden des Altseins verstehen könnte. Einen alten Herrn zum Beispiel, neunzigjährig, politisch aktiv und geistig sehr klar. Er war in seiner Jugend in einem Konzentrationslager und hatte den Tod aus nächster Nähe erlebt. Als ihn jemand fragte, wie er auf sein Sterben voraussehe, meinte er sehr gelassen: »Ich will nicht heute sterben, nicht morgen und nicht übermorgen. Aber dann gerne, denn ich bin gespannt auf das, was danach kommt.«
Oder ich kenne eine alte Frau, zweiundneunzigjährig. Wenn ich sie frage, wie es ihr gehe, erklärt sie mit fröhlichem Lachen: »Es geht mir gut! Zu Fuß bin ich nicht mehr gut unterwegs, aber die Treppen bewältige ich eben auf dem Hintern, Stufe um Stufe hinauf und hinunter.«
Das sind Leute, die irgendwo zwischen Feigling und Helden und vielleicht näher am Helden leben. Und in dieser Gegend wollen wir auch uns selbst antreffen. Irgendwo in der Normalität eines Menschen, der einmal das eine und einmal das andere sein darf. Einmal tapfer. Einmal mutlos. Einfach leben bis an sein Ende. Daran ist nichts Tragisches. Es ist eben so. Aber für wen ist dann das Altwerden?
Ist es passend für die, die resignieren? Ist das Altwerden leichter für Realisten, die von vornherein ausschließen, noch etwas Erfreuliches zu erleben? Auch sie sollten lieber lernen, von ihren Wünschen und Ängsten abzusehen, sonst werden sie das, was noch zu tun ist, nur in Mutlosigkeit tun. Zwar weder als Helden noch als Feiglinge, aber doch als mutlose Menschen, die der Entscheidung zwischen Sieg und Niederlage durch Aufgeben zuvorkommen.
Und schließlich kenne ich viele, die, solange sie es vermögen, das Ihre tun, in aller Einfachheit, was ihr Alter ihnen vorschreibt, und die, wenn ihnen das nicht mehr gelingen will, sich den Händen anvertrauen, die sie pflegen. Die aber dieses »Sich anvertrauen« nicht als etwas Ehrenrühriges verstehen, sondern als das normale Ende eines Menschen. Sie haben keinen Stolz nötig und werden dabei zu dankbaren Menschen. Das gibt es auch.
Sollte es aber dazwischen wirklich keine weiteren Qualitäten des Altwerdens geben, die sich zu beschreiben lohnten? Gab es nicht vielleicht doch neue Erfahrungen in diesen langen Monaten auf dem Weg zurück in mein selbstbestimmtes Leben? Hatte ich dabei Erfahrungen gemacht, die sich aufzuschreiben lohnten für alle, die sich weder als Held noch als Feigling, nicht resigniert oder schon pflegebedürftig verstehen wollen? Das wollte ich wissen.
Nach gut einem Dreivierteljahr fing ich also wieder an zu schreiben. Wie früher. Wie immer. Morgens um vier. Wenn die Welt im Frieden liegt, wenn kein Telefon schellt, kein Fernsehen trällert, keine Post kommt, kein Besuch vor der Tür steht, keine Familie durchs Zimmer läuft. Wenn also Zeit ist, aus freundlicher Ruhe heraus nachzudenken. Ja, wie ist das mit dem Altwerden? Das Buch von damals konnte ein Ausgangspunkt sein, noch einmal neu zu überlegen. Früh anfangen, vier Stunden vor dem Frühstück, das musste wieder möglich sein. Aber das Nachdenken selbst musste anders sein, mit den Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten im Alter.
Ich frage also nicht ins Blaue. Ich frage mich selbst: Gilt das alles noch? Was ist es, das mich auch heute noch »gerne alt« sein lässt in meiner doch wohl beneidenswerten Lage eines fast neunzigjährigen Schreibers?
Man wird alt. Und das darf man werden.
Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
»Es ist deutlich: Ich werde alt. Ich stand im Garten, die Rebschere in der Hand, neulich, an einem lauen und schönen Abend. Drei Schritte seitwärts meine Frau. Sie sagte etwas, aber ich verstand sie nicht. Man hört nicht mehr wie früher. Ich frage zurück. Sie möchte wissen, ob ich Mittwochabend Zeit hätte. Müllers wollten vorbeischauen.
Der Kalender liegt im Untergeschoss. Ich gehe die Treppe hinab und merke unten: Ich habe vergessen, weshalb ich herabkam. Es fällt mir wieder ein: Ach ja! Müllers. Beim Griff nach dem Kalender stelle ich fest: Die Brille liegt oben. Ich gehe also nach oben, sie holen, und komme wieder. Schließlich finde ich den Mittwoch.
Während ich zum zweiten Mal nach oben steige, Stufe für Stufe, fühle ich einen feinen Druck in den Knien. Und oben fange ich an zu suchen: Wo habe ich nur die Rebschere gelassen? Kein Zweifel: Ich werde alt.«
Der Text von damals geht sehr zuversichtlich weiter:
»Aber merkwürdig: Ich finde es schön. Was schadet's, dass mir Namen entfallen, die mir gestern genannt wurden? Dass alles langsamer geht, auch mühsamer natürlich? Ich werde gerne alt ...«
»Ich brauche nur noch am Schreibtisch zu sitzen, wenn mich die unbändige Lust zu arbeiten überfällt. Ich reise nicht mehr zu geschwätzigen Konferenzen. Ich brauche nichts zu werden. Nichts zu erreichen. Niemand braucht mich gut zu finden.
Was ich tat, tun nun die Jungen. Sie machen fast alles anders. Gut. Ich habe seinerzeit auch fast alles anders gemacht als die Alten. Ich wünsche ihnen ein gesegnetes Tun und Gottes Beistand.
Aber ich? Ich darf einfach ›sein‹. Ist das nichts? Ich gedenke es zu genießen, solange Gott mir seine Sonne scheinen lässt.
Ich werde vor dem Haus meiner Seele sitzen. Die Figuren meiner Phantasie streifen durch den Garten. Die Gestalten meiner Erinnerung gehen aus und ein und reden mit mir über längst Gewesenes.
Ich schaue den Bäumen zu, wie sie ausschlagen, wie die Blätter fallen, wie Schnee sie deckt, wie sie wieder grünen. Und allmählich wachsen. Ich werde gerne alt und danke Gott für jeden Tag.«
Dass das schwierig sein könnte, war mir dabei durchaus klar:
»Ich weiß, alt sein ist vielen Menschen zu schwer. Einsam vor sich hinzuleben, verlassen, hungernd nach einem Menschen, nach einer Berührung. Arm vielfach. Abgeschoben. Vergessen. Nutzlos. Ich weiß. Und dennoch: Ich werde gerne alt.«
So habe ich damals geschrieben. Da war vielleicht doch Manches ein wenig romantisch gesehen, so als Äußerung des kleinen ahnungslosen Moritz. Auch die Kritik jener alten Dame traf mich vielleicht doch nicht ganz zu Unrecht. Denn anschließend saß ich nicht auf der Bank vor meinem Haus, sondern brachte weitere zweiundzwanzig Jahre im Geschirr eines rastlos Arbeitenden zu. Ich konnte so tun, als sei ich gar nicht »wirklich« alt, bis mir mein Körper dann vor einem Jahr, nach vielen kleinen Zeichen, unmissverständlich klar machte, dass er diese Art des Altseins mit täglicher Arbeit nicht mehr mitmachen wollte.
Ich war gerade dabei, mich auf den ökumenischen Kirchentag vorzubereiten, der 2010 in München stattfand, und wollte dort das Meine sagen. Da traf mich ein Hirnschlag, einer von mehreren, die mich im Lauf der Jahre ereilten. Ich musste absagen. Freunde traten für mich ein. Zwei Wochen später gab es dann allerdings einen Herzinfarkt mit Notarzt und heulender Fahrt zum Krankenhaus. Dort sah ich verschreckte Gesichter bei Ärzten und Schwestern. Und die Auskunft: »Das kriegen wir hier nicht mehr hin.« Darauf dann ein eiliger Weg in eine Klinik, wo Operationen am offenen Herzen zum täglichen Brot gehören. Dort ein Gespräch mit einem Fachmann für solche Fragen, der die nötigen Schritte erklärte: Brustkorb aufsägen, Rippen aufklappen, dann suchen, woher frische Blutgefäße zu holen sein würden, die nötigen Nähte machen und schließlich alles wieder zurückbringen an seinen Platz. Er meinte, er habe diesen Eingriff schon oft gemacht und ich könne ruhig darauf vertrauen, nach der langen Narkose wieder aufzuwachen.
Nach vier Stunden Operation brachten sie mich tatsächlich wieder ins Bewusstsein zurück. Vier Bypässe habe er gelegt, erzählte mir der Arzt, aber erst viel später wurde ich dann ganz allmählich wach. Als erstes stellte ich fest, dass etwas an mir nicht in Ordnung war, denn überall trug ich Kabel, Leitungen, Schnüre. Das konnte nicht richtig sein. Ich stand also auf und zog sie einen nach dem anderen heraus, bis eine große Blutlache neben meinem Bett den schönen Boden verzierte. Ich erinnere mich an den Hilfeschrei einer Schwester. Alarm. Hektisches Rennen. Bluttransfusionen. Allmählich lernte ich, friedlich zu sein und die Kabel und Schläuche zu tolerieren. Und dabei doch immer weiter dieses zähe Aufwachen, viele Tage lang. Ein alter Körper wird nicht gerne aufgesägt, repariert und wieder vernäht.
Es gab aber auch Umstände, an die ich mich gerne erinnere. Meine Kinder, die ich sonst zu selten sehe, teilten sich darin, auf ihren alten Vater nachts aufzupassen. Und vor allem: Meine Frau durfte im selben Zimmer wohnen. So war es uns vergönnt, ein paar Wochen lang, auch in der anschließenden Kur, ein ruhiges, ungestörtes Leben miteinander zu führen und zu zweit in aller Stille die diamantene Hochzeit zu feiern.
Heute, ein Jahr später, sitze ich in meinem Arbeitszimmer im Untergeschoss des Hauses und lese noch einmal in jenem ersten Buch, in dem ich vor 22 Jahren beschrieb, wie ich mir mein Altwerden vorstellen wollte, und finde, das meiste sei richtig und berechtigt gewesen. So kann man über das Altwerden reden, jedenfalls solange die beschwerlichen Erfahrungen nicht zu viele werden.
Denn natürlich folgte schon damals der zuversichtlichen Einleitung viel an vorsichtiger Klage:
»Es ist nicht selbstverständlich,
dass einer gerne alt wird,
ich weiß. Die Kräfte nehmen ab.
Die Sinne werden müde,
Krankheiten kommen, Schmerzen.
Die täglichen Dinge machen Mühe,
das Gedächtnis täuscht.
Die Tage werden kürzer, die Nächte länger.
Die Freunde gehen. Die Geschwister.
Schwermut schleicht sich ein.
Angst vor dem, was kommt.
Man wird entbehrlich inmitten der Herablassung
und Gedankenlosigkeit jüngerer Leute.
Es ist ein langes Lied, das da zu singen ist. Man fühlt sich isoliert. Man fällt anderen zur Last. Der Körper wird unansehnlich. Und dennoch sage ich das Gegenteil. Altwerden ist die vierte Jahreszeit des Lebens. Ich möchte sie kennen lernen.
Und die Angst? Habe ich Angst? Ich bin kein ängstlicher Mensch. Ängstige ich mich vor dem Tod? Nein. Das nicht.
Aber dass Schmerzen mich eines Tages um die Selbstbeherrschung bringen, dass eine Krankheit mich nicht läutert, wie manche es erhoffen oder zumindest behaupten, sondern zermürbt und zerstört, davor habe ich Angst. Dass eines Tages all das, was in meinem Leben misslungen ist, vor mir steht und nicht weggehen will.«
Das Entscheidende am Altwerden im körperlichen Sinn lässt sich mit wenigen Worten darstellen: Krankheiten, Leidenszeiten, Schmerzen, Eingriffe wie Operationen. Oder ein Nachlassen der Sinnesorgane, das Vergessen dessen, was wichtig war, nicht mehr unbeschwert gehen, nicht mehr wirken können und vieles mehr. Alle diese körperlichen Veränderungen formen uns um. Aber was wird dabei aus uns? Etwa ein geringerer, ärmlicherer, hilfsbedürftigerer, schäbigerer Mensch? Oder was doch noch mehr?
Wer den langen Prozess des Älterwerdens aufmerksam beobachtet, wird rasch bemerken, dass dabei im Lauf der Jahre ein ganz grundsätzlich veränderter Mensch entsteht. Da ist der ganz offensichtliche Abbau des lange Jahre Vitalen in einen, der sich mühsam von einem Tag zum nächsten schleppt. Diese Veränderung fordert von uns, unter unserem Leben etwas anderes als früher zu verstehen, auf die schwieriger werdende Umwelt anders zu reagieren. Anderes wichtiger zu finden als früher. Sie erwartet, dass anderes aus unserer Welt den Tag bestimmt, dass wir eine andere Gestalt finden und unter unseren Mitmenschen eine andere, ganz ungewohnte und neue Rolle spielen.
Damals schien all dies nicht wirklich schwer zu bewältigen. Aber dann, im vorigen Jahr, in der Zeit nach meiner erfolgreichen Rehabilitation, bemerkte ich an mir eine Veränderung, von der kein Arzt vorher gesprochen hatte, denn die »Narkose« schien anzudauern. Noch ein halbes Jahr später fielen mir ganz gewöhnliche Wörter nicht ein, wenn ich reden wollte. Geordnetes Nachdenken, wie ich es achtzig Jahre lang gewohnt war, wollte nicht mehr gelingen, und stattdessen herrschte in meinem Kopf manchmal totale Verwirrung, unartikuliertes, wahlloses Plappern über nichts. Was ich zuvor noch ganz selbstverständlich gewusst hatte, war verflogen und kam auch nicht, wie manche mir tröstend versprochen hatten, im Lauf der Zeit wieder zurück, sondern schien zu einer Art Dauerzustand zu werden.
Mein Leben lang hatte ich auf ein gutes Gedächtnis bauen können und darauf, verständliche Sätze zu schreiben. Aber was ich über das Leben gewusst hatte, das war wie verschwunden. Das ganze Leben hatte ich auf meine Aktivität und meine Zuversicht zählen können. Doch nun griff plötzlich nach mir, wovon ich zuvor nur durch andere wusste: eine Art von Depression. Wozu war ich jetzt noch zu gebrauchen? Wer hatte jetzt noch etwas von mir? Was brachte mir selbst jetzt noch mein Leben? Hätte ich mich, statt der Operation, vielleicht doch lieber meinem Herzinfarkt überlassen sollen?
Die Erfahrung der langsam nur zurückkehrenden Einheit von Denken und Tun, von Seele und Körper macht, je älter man wird, um so klarer, dass die beiden auch ohne einander können - aber dass das dann nicht mehr das Leben ist, wie wir es verstehen. Es dauert nach einer Narkose mit »Sterben auf Probe« immer sehr lang, bis die schon im Gehen begriffene Seele wieder im Körper heimisch wird. Und in einem älteren Körper mit beschränkten Kräften dauert es noch einmal länger.
Zwischen dem ersten und diesem neuen Buch liegt die Erfahrung der Flüchtigkeit der Seele, wenn der Körper keine Kraft mehr hat - eine Erfahrung, die dem Menschen zeigt, wo es irgendwann definitiv hingeht. Man kann in solchen Phasen aber auch lernen, wie unwichtig vieles ist, das man vorher für selbstverständlich hielt. Zum Beispiel, sich mit fremden Gedanken auseinanderzusetzen oder verstehen zu wollen, was jemand in einem Buch als seine Gedanken zu Papier gebracht hat.
Es dauerte jedenfalls rund sieben Monate, bis eins nach dem anderen wiederkehrte, bis ich ein Buch, das ich las, wieder interessant fand und verstehen konnte. Eines der ersten, das man mir in die Hand drückte, war das Buch von Joachim Fuchsberger mit dem beunruhigenden Titel »Altwerden ist nichts für Feiglinge«. Schon der Titel ließ mich für einen Augenblick beklommen die Frage stellen, ob denn unter dieser Annahme das Altwerden überhaupt etwas für mich sein könne. Und weil ich das zu spüren glaubte, dass das Altwerden, jedenfalls für mich, eine lohnende Sache ist, kam in mir der Gedanke hoch, darauf müsse ich eigentlich eine Antwort wissen, mit der vielleicht auch andere etwas anfangen könnten, wenn sie sich wie ich beklommen die Frage stellen, für wen denn das Altwerden überhaupt etwas Schönes, etwas Erfreuliches sein könne.
Denn das ist klar: Für Feiglinge ist das ganze Leben nicht ausgelegt, längst nicht nur das Altwerden. Niemals im Leben ist es hilfreich, sich ängstigen zu lassen, sondern immer ist irgendwie gewollt, dass wir uns Herausforderungen stellen. Im jüngeren Leben gewöhnt man sich daran, dass das auch gelingt, und schließt daraus, man sei offenbar kein Feigling. Aber was wir dann an Kräften noch aufbieten können, um das Altwerden auf anständige Art zu bestehen, verbraucht sich oft mit wenig Erfolg. Und dann stellt sich natürlich die Frage, ob man vielleicht doch einfach nur ein Feigling sei, wenn man sich fragt, wie man das alles, was man jetzt zu bewältigen hat, eigentlich schaffen soll. Nein, feige sein hilft beim Altwerden wirklich nicht weiter.
Das Altwerden ist aber auch nichts für das Gegenteil. Es ist absolut nichts für Helden. Es ist nichts für Leute, die glauben, es gäbe Siege einzufahren gegen das Alter, denn wer älter wird, ist nur einfach der, der auf seine letzte, restliche Weise zu Ende lebt. Da kann er letztlich nur verlieren. Wer beim Altwerden auf Siege hofft, hat am Ende nicht mehr in der Hand als der Feigling, der meint, er überlebe damit, dass er Medikamente schluckt.
Zugleich kenne ich Leute, die man beinahe als Helden des Altseins verstehen könnte. Einen alten Herrn zum Beispiel, neunzigjährig, politisch aktiv und geistig sehr klar. Er war in seiner Jugend in einem Konzentrationslager und hatte den Tod aus nächster Nähe erlebt. Als ihn jemand fragte, wie er auf sein Sterben voraussehe, meinte er sehr gelassen: »Ich will nicht heute sterben, nicht morgen und nicht übermorgen. Aber dann gerne, denn ich bin gespannt auf das, was danach kommt.«
Oder ich kenne eine alte Frau, zweiundneunzigjährig. Wenn ich sie frage, wie es ihr gehe, erklärt sie mit fröhlichem Lachen: »Es geht mir gut! Zu Fuß bin ich nicht mehr gut unterwegs, aber die Treppen bewältige ich eben auf dem Hintern, Stufe um Stufe hinauf und hinunter.«
Das sind Leute, die irgendwo zwischen Feigling und Helden und vielleicht näher am Helden leben. Und in dieser Gegend wollen wir auch uns selbst antreffen. Irgendwo in der Normalität eines Menschen, der einmal das eine und einmal das andere sein darf. Einmal tapfer. Einmal mutlos. Einfach leben bis an sein Ende. Daran ist nichts Tragisches. Es ist eben so. Aber für wen ist dann das Altwerden?
Ist es passend für die, die resignieren? Ist das Altwerden leichter für Realisten, die von vornherein ausschließen, noch etwas Erfreuliches zu erleben? Auch sie sollten lieber lernen, von ihren Wünschen und Ängsten abzusehen, sonst werden sie das, was noch zu tun ist, nur in Mutlosigkeit tun. Zwar weder als Helden noch als Feiglinge, aber doch als mutlose Menschen, die der Entscheidung zwischen Sieg und Niederlage durch Aufgeben zuvorkommen.
Und schließlich kenne ich viele, die, solange sie es vermögen, das Ihre tun, in aller Einfachheit, was ihr Alter ihnen vorschreibt, und die, wenn ihnen das nicht mehr gelingen will, sich den Händen anvertrauen, die sie pflegen. Die aber dieses »Sich anvertrauen« nicht als etwas Ehrenrühriges verstehen, sondern als das normale Ende eines Menschen. Sie haben keinen Stolz nötig und werden dabei zu dankbaren Menschen. Das gibt es auch.
Sollte es aber dazwischen wirklich keine weiteren Qualitäten des Altwerdens geben, die sich zu beschreiben lohnten? Gab es nicht vielleicht doch neue Erfahrungen in diesen langen Monaten auf dem Weg zurück in mein selbstbestimmtes Leben? Hatte ich dabei Erfahrungen gemacht, die sich aufzuschreiben lohnten für alle, die sich weder als Held noch als Feigling, nicht resigniert oder schon pflegebedürftig verstehen wollen? Das wollte ich wissen.
Nach gut einem Dreivierteljahr fing ich also wieder an zu schreiben. Wie früher. Wie immer. Morgens um vier. Wenn die Welt im Frieden liegt, wenn kein Telefon schellt, kein Fernsehen trällert, keine Post kommt, kein Besuch vor der Tür steht, keine Familie durchs Zimmer läuft. Wenn also Zeit ist, aus freundlicher Ruhe heraus nachzudenken. Ja, wie ist das mit dem Altwerden? Das Buch von damals konnte ein Ausgangspunkt sein, noch einmal neu zu überlegen. Früh anfangen, vier Stunden vor dem Frühstück, das musste wieder möglich sein. Aber das Nachdenken selbst musste anders sein, mit den Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten im Alter.
Ich frage also nicht ins Blaue. Ich frage mich selbst: Gilt das alles noch? Was ist es, das mich auch heute noch »gerne alt« sein lässt in meiner doch wohl beneidenswerten Lage eines fast neunzigjährigen Schreibers?
Man wird alt. Und das darf man werden.
Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
... weniger
Autoren-Porträt von Jörg Zink
Jörg Zink (1922-2016), Dr. theol., Pfarrer, Schriftsteller, Publizist. Er gehörte zu den bekanntesten evangelischen Theologen der Gegenwart. Seine fast 200 Bücher haben sich insgesamt rund 20 Millionen Mal verkauft. Jörg Zink wurde im Laufe seines Lebens mit einer Vielzahl von Auszeichnungen geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Zink
- 2014, Nachdruck, 128 Seiten, Masse: 13,1 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Gütersloher Verlagshaus
- ISBN-10: 3579065807
- ISBN-13: 9783579065809
- Erscheinungsdatum: 21.05.2012
Kommentare zu "Die Stille der Zeit"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Stille der Zeit“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Stille der Zeit".
Kommentar verfassen