Ein König für Deutschland
Roman. Ausgezeichnet mit dem Kurd-Lasswitz-Preis, Bester Roman 2010
Was wäre wenn? Wenn es ein Computerprogramm gäbe, mit dem sich Wahlmaschinen manipulieren lassen? Wenn Sie die Macht hätten, Dinge zu verändern, zum Besseren zu wenden? Kann Simon König dieser Versuchung widerstehen?
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Produktinformationen zu „Ein König für Deutschland “
Was wäre wenn? Wenn es ein Computerprogramm gäbe, mit dem sich Wahlmaschinen manipulieren lassen? Wenn Sie die Macht hätten, Dinge zu verändern, zum Besseren zu wenden? Kann Simon König dieser Versuchung widerstehen?
Klappentext zu „Ein König für Deutschland “
Was wäre, wenn demokratische Wahlen manipuliert würden? Oder sind sie es bereits?Wir schreiben das Jahr 2009. Im Dom zu Aachen soll ein neuer deutscher König gekrönt werden. Und niemand versteht, wie es soweit kommen konnte.Einmal König sein - die Macht haben, Dinge zu verändern. Mit gesundem Menschenverstand die Welt geraderücken. Was wäre, wenn man tatsächlich plötzlich die Möglichkeit dazu hätte?Könnten Sie der Versuchung widerstehen?Kann Simon König es? Die Frage stellt sich ihm, als er in den Besitz eines Computer-Programmes kommt, mit dem sich die Resultate von Wahlmaschinen manipulieren lassen. Was dann geschieht, hätte er sich in seinen wildesten Träumen nicht vorzustellen gewagt ...Bestsellerautor Andreas Eschbach hat mit "Ein König für Deutschland" einen erfindungsreichen Roman zum Thema Wahlmaschinenmanipulation geschrieben.
Lese-Probe zu „Ein König für Deutschland “
Ein König für Deutschland von Andreas Eschbach TEIL 1
DAS PROGRAMM
KAPITEL 1
Betrachten Sie das Folgende bitte als deutliche Warnung«,
sagte der Richter und sah Vincent eindringlich an. »Sind Sie
imstande, eine Warnung zu verstehen, Mister Merrit, wenn
man sie als solche kennzeichnet und laut und deutlich
ausspricht?«
»Ja, Euer Ehren«, beeilte sich Vincent mit heftigem Kopfnicken
zu versichern und dachte: Er darf mir an den Kopf schmeißen, was
er will, Hauptsache, ich komm hier heil raus!
»Das sollten Sie auch. Denn wenn man Sie noch einmal erwischt,
wie Sie irgendwelche illegalen Dinge mit einem Computer
anstellen, dann, Mister Merrit, werden Sie Ihre Freiheit für
sehr, sehr lange Zeit los sein.« Der Richter, Seine Ehren Alfred
J. Straw, sprach so laut und so deutlich, dass seine Stimme von
den Wänden und der reich verzierten Decke des Gerichtssaals 2
des Philadelphia Municipal Court widerhallte. »Und um Ihrer
Vorstellungskraft hinsichtlich dessen, was das bedeutet, auf die
Sprünge zu helfen, verurteile ich Sie zu einer Woche Arrest im
Oak Tree Detention Center. Die Strafe ist sofort anzutreten.«
Damit fiel der Hammer.
Vincent fand die Woche im Gefängnis in der Tat überaus
eindrucksvoll, besonders den Abend, an dem ihn eine Gruppe
Lebenslänglicher in der Dusche zu vergewaltigen versuchte. Die
Wächter retteten ihn in letzter Minute und verlegten ihn in einen
anderen Zellenblock, wo er anschließend viel Zeit hatte, über
sein Leben nachzudenken. Er kam zu dem Schluss, dass ihn in
Philadelphia eigentlich nichts mehr hielt und im Staate Pennsylvania
auch nichts, wenn er schon dabei war. Er würde nach
Florida gehen. Er hatte schon immer nach Florida gehen wollen.
... mehr
Sonne, Strand und schöne Mädchen. Wenn er die Mühen eines
gesetzestreuen Lebens auf sich nehmen wollte, dann konnte er
das genauso gut im Warmen tun.
Nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis stellte er fest, dass
seine Freundin ausgezogen war, was ihn angesichts des Zustandes,
in dem ihre Beziehung zuletzt gewesen war, nicht im Geringsten
wunderte. Dass sie die meisten Möbel mitgenommen
hatte, auch solche, die ihr nicht gehörten, war eher hilfreich,
denn so passte seine restliche Habe ohne Probleme in seinen
rostigen Ford Kombi.
So überquerte Vincent Wayne Merrit im Alter von 21 Jahren
erstmals eine Staatsgrenze. Nicht, dass es ihm grundsätzlich an
Umzugserfahrung gemangelt hätte: Mit seiner Mutter Lila Merrit,
deren einziges und darüber hinaus uneheliches Kind er war,
hatte er in den ersten 18 Jahren seines Lebens 19-mal den Wohnsitz
gewechselt, allerdings immer innerhalb Pennsylvanias, meistens
von Philadelphia weg oder nach Philadelphia zurück und
stets im Zusammenhang mit irgendwelchen Liebesgeschichten
seiner Mutter, die ihm von Kindesbeinen an erklärt hatte: »Mach
dir nichts draus, wenn du ein schräger Vogel bist; deine Mutter
ist auch einer.« Über seinen Vater erzählte sie ihm nie etwas. Er
musste erst den Code des Schlosses an ihrem Tagebuch knacken,
um seinen Namen zu erfahren.
Besagte Tagebücher verwahrte seine Mutter in einem geräumigen
Regal neben ihrem Bett. Für jedes Jahr gab es ein eigenes
Buch, das die jeweilige Jahreszahl auf dem Rücken trug und mit
einem Zahlenschloss gesichert war, das über drei kleine, gerändelte
Zahlenräder verfügte. Der damals zehnjährige Vincent sagte
sich, dass der Code demzufolge aus einer dreistelligen Zahl bestehen
musste. Das wiederum hieß, dass er, wenn er bei 000 anfing
und alle Kombinationen bis 999 durchprobierte, unweigerlich
auf die richtige kommen würde. Eines Nachmittags, als seine
Mutter außer Haus war, schlich er sich in ihr Schlafzimmer, holte
das Tagebuch seines Geburtsjahrs heraus, probierte die Zahlen
zwischen 000 und 010 durch und stoppte die Zeit, die er dafür
benötigte: zwanzig Sekunden. Das multiplizierte er mit 100 und
gelangte zu dem überraschenden Resultat, dass er bei diesem
Tempo den Code in etwas mehr als einer halben Stunde knacken
konnte. Was weitaus schneller war, als er befürchtet hatte.
Tatsächlich brauchte er keine zehn Minuten, denn die gesuchte
Zahl lautete 216 - das Datum von Vincents Geburt, der
am 16. Februar 1977 das Licht der Welt erblickt hatte. Dies lehrte
Vincent etwas über die Art und Weise, wie Menschen Passwörter
und Geheimcodes wählen, das ihm später oft von Nutzen sein
sollte.
Er knackte gleich auch noch den Code des Tagebuchs vom
Jahr davor. Diesmal probierte er es sofort mit dem Geburtstag
seiner Mutter: mit Erfolg. Mit einer eigenartigen Erregung, die
damit zu tun hatte, in verbotenes Territorium einzudringen, las
er die Einträge seiner Mutter über seinen Vater, wie sie ihn kennengelernt
und wie sie ihn verführt hatte. Vieles von dem, was er
las, sollte er erst Jahre später verstehen, aber er fand den Namen
seines Vaters und seine Adresse. Eine Adresse in Deutschland. Er
musste auf einer Landkarte nachsehen, wo das lag. Nach einigem
Nachdenken schrieb er seinem Vater heimlich einen Brief, nicht
ahnend, dass er damit dessen Scheidung auslöste.
Vincent erreichte Florida im Mai des Jahres 1998, fuhr ohne
konkreteres Ziel umher und landete schließlich in Daytona
Beach. Hier verbrachte er ein paar Wochen in einem winzigen
Haus zwischen Palmen, von dem aus es nicht weit bis zum
Strand war, und stellte in dieser Zeit Folgendes fest: Erstens, dass
er es langweilig fand, an einem Strand herumzuliegen. Zweitens,
dass der Monitor seines Computers empfindlich spiegelte, eine
Eigenschaft, die sich in einer sonnigen Gegend unangenehmer
bemerkbar machte als im eher trüben Pennsylvania. Und drittens,
dass es zwar schrecklich lange dauerte, Ersparnisse anzusammeln,
sie aber schrecklich schnell zur Neige gingen, wenn man davon
zu leben versuchte.
Mit anderen Worten: Er brauchte einen Job.
Vincent hatte sich das Programmieren selbst beigebracht und
war gut darin. Um genau zu sein, war er der Beste, seiner Überzeugung
nach zumindest. Seine bisherigen Arbeitgeber hatten
diese Überzeugung zwar nicht unbedingt geteilt, waren im Prinzip
aber zufrieden mit seiner Arbeit gewesen, und hätte er nicht
mehr gemacht als diese - hätte Vincent seine Freizeit mit, sagen
wir, Baseball, Fernsehen oder Mädchen verbracht -, es hätte nie
Probleme gegeben. Aber Vincent hielt wenig von Sport, ertrug
das Stillsitzen vor einem Fernseher nicht und war in Bezug auf
Mädchen der Ansicht, dass sie einen bei allen Vorzügen doch
sehr von der Arbeit abhielten. Denn Vincent verbrachte auch
seine Freizeit am liebsten mit Arbeit, vorausgesetzt, diese Arbeit
hatte mit Computern zu tun.
An Jobangeboten für derart disponierte Leute herrschte auch
in Florida kein Mangel. Leider erfuhren aber die meisten Firmen,
bei denen er vorstellig wurde, auf irgendeine Weise - bei der
zweifellos ebenfalls Computer eine tragende Rolle spielten - von
seiner Verurteilung und seiner Gefängnisstrafe und zeigten sich
danach wenig geneigt, ihn einzustellen. So vergingen die Wochen,
und seine Ersparnisse nahmen mit bedenklicher Geschwindigkeit
weiter ab, nicht zuletzt, weil er den Radius seiner Suche immer
mehr ausdehnen und deswegen mehr fahren musste.
In Oviedo, einem Ort in der Nähe von Orlando, fand er
schließlich ein Unternehmen, das sich an seinem Vorleben nicht
störte. Es handelte sich um eine Softwarefirma namens SIT, Sanchez
Information Technology, deren Inhaberin, Consuela Margarita
Sanchez, eine dralle kleine Exilkubanerin, sich im Gegenteil an
den fachlichen Details seiner Untat überaus interessiert zeigte.
»Ein Trojaner?«, wiederholte sie mit unverkennbarer Faszination.
»Und Sie haben fünfzigtausend Kreditkartennummern damit gestohlen?«
Vincent schüttelte entschieden den Kopf. »Das war der andere.
Der sitzt noch.« Ihn schauderte bei dem Gedanken, wie es
seinem ehemaligen Kollegen dabei ergehen mochte. »Ich habe
bloß das Programm geschrieben. Ich hatte keine Ahnung, was
er vorhatte.«
Das entsprach, obwohl ihm das der Richter nicht geglaubt
hatte, der Wahrheit. Zumindest insoweit, dass Vincent nicht
im Detail gewusst hatte, was Craig mit dem Trojanerprogramm
vorgehabt hatte. Dass er etwas damit vorgehabt hatte, war ihm
durchaus klar gewesen; er hatte sich aber eingeredet, dass Craig
bestimmt nur jemandem bei der Bank, die sich als unerfreulicher
Kunde erwiesen hatte, einen Streich spielen wollte. In Wirklichkeit
hatte er einfach der Gelegenheit nicht widerstehen können,
Craig zu zeigen, wer der bessere Programmierer war.
»Und wieso hat man Sie erwischt?«
Vincent wand sich auf seinem Stuhl. »Weil ich meine Signatur
darin versteckt hatte. So eine Angewohnheit von mir.«
Das Trojanerprogramm hatte sich auf den Rechnern der Kreditkartenabteilung
eingenistet, sich deren Mitarbeitern gegenüber
als regulärer Login-Schirm ausgegeben und alle Passwörter
an Craig weitergeleitet. Der hatte sich damit Zugang verschafft,
Tausende von gültigen Kreditkartennummern abgerufen und
übers Internet verkauft.
Und nicht dran gedacht, den Trojaner wieder zu löschen.
Consuela lächelte von einem ihrer dicken roten Ohrclipse
zum anderen. »Wissen Sie was, Vincent? Sie sind ein Strolch, aber
Sie gefallen mir.« Sie streckte die Hand über den Tisch. »Willkommen
im Team.«
In der folgenden Zeit sollte Vincent feststellen, dass Consuela
eine ausgesprochene Vorliebe dafür hatte, gescheiterte Existenzen
um sich zu versammeln. Unter den Programmierern von SIT
wimmelte es von illegalen Einwanderern, ehemaligen Sträflingen,
pleitegegangenen Unternehmern, bankrotten Spielern und Drogenabhängigen
in sämtlichen Stadien der Sucht. Doch sie alle
einte ein Verlangen, das weitaus stärker war: das Fieber des Programmierens,
die Lust an der Beherrschung der Maschine, die Begierde
nach Bildschirm, Tastatur und Rechenleistung. Jeder von
ihnen, egal was er im Leben versiebt haben mochte, glaubte mit
jeder Faser seines Seins, es mit Computern aber so was von drauf
zu haben, dass dem Rest der Welt nichts blieb als ehrfurchtsvolle
Resignation.
Eine echte Herausforderung für Vincent.
Das Gehalt war nicht überwältigend, aber wenn die Geschäfte
gut liefen, spendierte Consuela allen, die nach sieben Uhr abends
noch da waren, Pizza oder was vom Mexikaner, Inder oder Chinesen,
je nach Wochentag. Also blieben sie, sorgten dafür, dass
die Geschäfte gut liefen, und schonten ihre Wohnungen. Sie entwickelten
ein Ausleihsystem für eine Musikbibliothek, komplett
mit Laserscannern und Diebstahlschutz, eine Immobilienverwaltung
für eine große Real Estate Agency, die laufend Sonderwünsche
nachreichte und am Ende um jeden Dollar feilschte, ein
Betriebssystem für einen Poolreinigungsroboter mit zu wenig
Speicherplatz, und im Frühjahr des Jahres 2000 hatte Vincent es
endlich geschafft: Consuela berief ihn zum Chefprogrammierer.
Falls er an seinem Leben noch etwas auszusetzen fand, dann
höchstens, dass man ihn beim Einkaufen immer noch fragte, ob
er neu in Florida sei, er sei so blass.
Seine neue Stellung umfasste tägliche Meetings mit Consuela
Margarita Sanchez, oft mit Kunden, Interessenten oder Beratern.
Was bei diesen Treffen besprochen und festgelegt wurde, musste
Vincent anschließend den übrigen Programmierern in geeigneter
Weise vermitteln, was sich einfacher anhörte, als es war: Huck
nahm grundsätzlich nicht an Besprechungen teil. Fernando bestand
auf handschriftlichen, durchnummerierten Listen mit klaren
Anweisungen. Alvin akzeptierte allenfalls Vorschläge und
wollte immer eigene Ideen einbringen, die leider immer schlechte
Ideen waren. Xuan sagte gern »Ja, kein Problem« und machte
hinterher, wozu er Lust hatte. Ramesh brauchte Druck, weil er
sonst tagelang an einer einzigen Zeile Code bastelte, während
Claudio anfing, Tippfehler zu machen und nervös aufs Klo zu
rennen, sowie das Wort »Termin« fiel. Steve schließlich schlug
jedes Mal vor, sie sollten sich einfach alle zusammensetzen und
das Konzept von Grund auf neu entwickeln, was, wenn man ihn
hätte machen lassen, dahin geführt hätte, erst einmal das binäre
System grundsätzlich in Frage zu stellen.
In seiner neuen Stellung bekam Vincent im Lauf der Zeit Einblick
in die Probleme der Geschäftsführung und die Sorgen und
Nöte einer Unternehmerin. Er erfuhr, dass sich SIT um Aufträge
der Staatsregierung bemühte. »Wenn man da erst mal drin ist«,
schwärmte Consuela, »kommt immer eins zum anderen. Dann
fließt regelmäßig Geld, und wir müssen uns keine Sorgen mehr
um die Gehälter machen.« Consuela machte sich nämlich immer
sehr viele Sorgen.
In einer dieser Besprechungen begegnete Vincent Ende August
des Jahres 2000 zum ersten Mal einem hochdynamisch wirkenden,
unverschämt gut aussehenden Mann, den Consuela ihm als
Frank Hill vorstellte. Hill war Abgeordneter der republikanischen
Partei und enger Vertrauter von Jeb Bush, dem Gouverneur von
Florida, für den er einige Jahre zuvor als Vizegouverneur kandidiert
hatte. Consuela war glühende Anhängerin der republikanischen
Partei, ihrer Überzeugung nach die einzige politische
Kraft, die Castro die Stirn zu bieten entschlossen war und damit
die einzige Hoffnung auf Freiheit für ihr Heimatland.
In der Besprechung ging es jedoch nicht um Politik, sondern
um Geschäfte. Der Abgeordnete war gekommen, um verschiedene
IT-Projekte der Staatsregierung durchzusprechen, um zu
sehen, welche davon SIT im Auftrag der Administration realisieren
konnte. Vincent nahm an diesen Gesprächen als technischer
Berater teil; an ihm war es, jeweils die Machbarkeit und den Aufwand
zu beurteilen.
In den folgenden Wochen fanden ein Dutzend solcher Besprechungen
statt, denen rasch einige überaus lukrative Aufträge
folgten. Vincent begriff, dass Hill sozusagen in einer Doppelrolle
anwesend war: Solange sie zu dritt beisammensaßen, war Frank
Hill der Auftraggeber, der Anforderungen definierte und Termine
aushandelte. Danach, wenn Frank Hill und Consuela die Besprechung
zu zweit fortsetzten, wurde der Abgeordnete zum Berater,
der ihr half, die Angebote so zu formulieren und die Preise so zu
gestalten, dass sie den Zuschlag erhielt.
Es dauerte eine Weile, ehe Vincent mitbekam, dass sich Frank
Hill für diese Tätigkeit als Berater und Lobbyist bezahlen ließ.
Die staatlichen Aufträge bescherten SIT einen nach den turbulenten
Zeiten der Dot-Com-Krise willkommenen Aufschwung.
Tatsächlich ging es der Firma bald so gut wie noch nie, seit Vincent
dabei war. Alle Programmierer bekamen komfortablere
Bürosessel, am Schwarzen Brett tauchten Bestellformulare edle-
rer Lieferdienste auf, und Consuela begann, über einen Anbau
nachzudenken, eine luxuriösere Eingangshalle und, vielleicht,
einen Pool für alle Mitarbeiter.
Während eines Meetings Ende September des Jahres 2000,
sechs Wochen vor der anstehenden Wahl des Präsidenten der
Vereinigten Staaten von Amerika, wollte der Abgeordnete Frank
Hill wissen, ob SIT ein Programm für Wahlcomputer entwickeln
könne, das imstande sei, das Endergebnis einer Abstimmung zu
verändern, ohne dass jemand die Manipulation entdecken würde.
Ein Prototyp genüge.
KAPITEL 2
Der Abgeordnete hatte überaus konkrete Vorstellungen hinsichtlich
des zu erstellenden Programms.
Er zählte sie an seinen sorgsam manikürten Fingern ab: »Erstens,
es muss für Touch-Screen-Geräte geeignet sein. Zweitens, ein eingeweihter
Benutzer muss ohne zusätzliche Ausrüstung imstande
sein, die Veränderung der Auszählung auszulösen. Drittens, die
Programmierung muss so gestaltet sein, dass diese Eingriffsmöglichkeiten
verborgen bleiben, selbst wenn der Quellcode inspiziert
werden sollte.«
An diesem Punkt faltete Frank Hill seine sorgsam manikürten
Hände und sah Vincent mit jenem treuherzig-freundlichen
Augenaufschlag an, der auch seine Wahlplakate zierte und ihm
in seinem Leben zweifellos schon viele Stimmen betagter Wählerinnen
eingebracht hatte. »Denken Sie, dass Sie das hinkriegen,
Vincent?«
Vincent hatte einen Moment lang das Gefühl, das alles nur
zu träumen. Bestimmt würde er gleich aufwachen und sich in
seinem Bett wiederfinden.
Dann war der Moment vorbei, und er saß immer noch im
Besprechungsraum, an dem großen Tisch aus falschem Teakholz
mit den zehn Stühlen darum herum. Ihm gegenüber saßen eine
Unternehmerin, die im Alter von 11 Jahren zusammen mit ihrer
Tante unter Lebensgefahr aus Kuba geflohen war, und ein Abgeordneter,
der gar nicht wusste, was Lebensgefahr war.
Und der ihn immer noch treuherzig ansah. Seine Freundlichkeit
allerdings fing an, einer gewissen Ungeduld zu weichen.
»Verstehe«, sagte Vincent und räusperte sich, weil er nicht
wusste, was er sagen sollte. Ob er ein Programm für einen Wahl-
computer schreiben könne? Wollte ihn der Kerl auf den Arm nehmen?
Etwas Einfacheres gab es ja wohl nicht. Vielleicht abgesehen
von einem Programm für einen Getränkeautomaten. Wenn
Taste 1 gedrückt und Geldbetrag ausreichend, werfe eine Flasche Cola
aus. Wenn Taste 2 gedrückt und Geldbetrag ausreichend, werfe eine
Flasche SevenUp aus. Und so weiter. »Aber entschuldigen Sie, Sir,
ich fürchte, ich verstehe nicht, wozu das dienen soll. Ich meine,
diese Geräte werden von ihren Herstellern mit Software ausgestattet
-«
»Frank und ... andere machen sich Sorgen, dass die Demokraten
versuchen könnten, die Wahlen in Florida zu stehlen«,
mischte sich Consuela ein. Sie klang, als glaube sie das tatsächlich.
»Sie wollen anhand eines solchen Programmes herausfinden,
wie man Wahlmanipulationen erkennen und verhindern kann.«
Der Abgeordnete nickte bekräftigend. »Genau. Das habe ich
vergessen zu erwähnen.« Er hob die Schultern, lachte. »Ich habe
das jetzt schon so vielen Leuten erklärt, dass ich das Gefühl habe,
die ganze Welt weiß, worum es geht.«
Es klang so ehrlich, so aufrichtig, so geradeheraus, dass Vincent
ihm kein Wort davon abkaufte.
Andererseits war ihm klar, dass ihm seine Chefin die Hölle
heiß machen würde, wenn er jetzt eine moralische Diskussion
anfing, anstatt die Wünsche des Kunden zu besprechen.
»Grundsätzlich«, begann Vincent also, »sind die ersten beiden
Anforderungen kein Problem.«
Der Abgeordnete hob die Brauen. »Das heißt, die dritte ist
eines.«
»Wenn jemand, der etwas vom Programmieren versteht, die
Möglichkeit hat, den Quellcode einzusehen, ließe sich eine
Funktion zur Veränderung des Auszählungsergebnisses praktisch
nicht verbergen«, erklärte Vincent. »Wenn der Code jedoch kompiliert
wird, ehe ihn jemand zu sehen bekommt, trifft das genaue
Gegenteil zu: In dem Fall wäre es nahezu unmöglich, eine Manipulation
zu erkennen.«
Der Blick, mit dem der Abgeordnete ihn ansah, bewies klar,
dass Frank Hill nichts vom Programmieren verstand.
»Das müssen Sie mir erklären.«
»Okay.« Vincent räusperte sich. Lange her, dass er das jemandem
hatte erklären müssen. »Denken Sie sich den Quellcode eines
Programms als die Version, die ein Mensch lesen kann. Ein
Programm ist in einer bestimmten Programmiersprache geschrieben,
die aus verschiedenen Befehlen besteht. Ein Programm zu
kompilieren heißt, es in eine Version umzuwandeln, die eine Maschine
lesen kann. Diese Version nennt man Maschinencode oder
Binärcode, weil sie nur noch aus einer langen Reihe von Bits besteht,
aus lauter Nullen und Einsen, mit denen ein Mensch nichts
mehr anfangen kann. Wenn Sie nur das kompilierte Programm
vor sich haben, können Sie nicht feststellen, ob es dazu dient, eine
Waschmaschine zu steuern oder eine Interkontinentalrakete.«
Das ließ sich der Politiker durch den Kopf gehen, dann fragte
er: »Aber wenn man diese Version, von der Sie sprechen - die
eine Maschine lesen kann -, wieder in die andere umwandeln
würde? Dann könnte man es, oder?«
»Nein. Die Kompilation ist ein Prozess, bei dem Informationen
verloren gehen.« Wieder dieser glasige Blick. Er musste es
einfacher ausdrücken. »Es ist gewissermaßen eine Einbahnstraße,
Sir. Es geht nur in der Richtung vom Quellcode zum kompilierten
Programm, aber nicht umgekehrt.«
»Okay ...«, meinte Frank Hill und nickte bedächtig. »Und
diese Kompilation ... Wie geht die vonstatten?«
»Das bewerkstelligt ein anderes Programm, ein sogenannter
Compiler. Der liest den Quellcode und macht Maschinencode
daraus.«
In diesem Stil ging es ein paar Minuten hin und her, dann
mischte sich auch Consuela ein und erklärte alles noch einmal
von vorn, bis der Abgeordnete den zentralen Punkt begriffen
hatte: »Mit anderen Worten, wenn ein Wahlcomputer mit einem
fertig kompilierten Programm ausgestattet wäre, könnte das mit
den abgegebenen Stimmen machen, was es will?«
»Genau«, sagte Vincent.
Frank Hill nickte beifällig, lehnte sich in seinem Sessel zurück,
fuhr sich mit der Hand über das Kinn und den Hals, als müsse
er beides glatt streichen, und meinte: »Okay. Schreiben Sie mir
so etwas.«
»Einen Prototypen, meinen Sie«, hakte Consuela ein.
»Genau.«
»Den Sie sich anschauen können, nicht wahr? Testen. Mit dessen
Hilfe Sie den Verantwortlichen demonstrieren können, was
möglich ist.«
»Exakt«, sagte der Abgeordnete.
Consuela Sanchez setzte ihr kilometerbreites Lächeln auf.
»Das werden wir tun.«
»Bis wann können Sie liefern?«, fragte Frank Hill.
Dass Vincent daraufhin seinen Terminkalender zückte, schien
ihn misstrauisch zu machen. »Ich hätte jetzt erwartet, dass Sie
technisch auf dem neuesten Stand sind«, sagte er und holte einen
Organizer heraus, einen der neuen Palm Handhelds mit farbigem
TFT-Display.
Vincent musterte die chaotisch bekritzelten Seiten seines Kalenders,
der ihn nur drei Dollar gekostet hatte. Tatsächlich kannte
er keinen Programmierer, der einen elektronischen Organizer
benutzte. Die Dinger nannte man »Manager-Tamagotchis« und
betrachtete sie als Spielzeug für Wichtigtuer.
»Für wirklich wichtige Sachen finde ich Papier eigentlich das
Beste«, meinte er und blätterte die kommenden Wochen durch,
um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie einigten sich darauf,
dass Hill der Firma SIT ein Exemplar eines Wahlcomputers zur
Verfügung stellte; danach würde Vincent vierzehn Tage Zeit haben,
um einen ersten Prototypen zu erstellen.
Der Abgeordnete kämpfte einige Minuten mit seinem Mini-
Computer, bis er endlich alles in die entsprechenden Rubriken
eingefüttert hatte. »Ist noch ganz neu«, meinte er.
***
Ein paar Tage später fand Vincent morgens ein Exemplar eines
Wahlcomputers mit Touch-Screen auf seinem Schreibtisch vor,
und er begann mit der Arbeit.
Die vom Hersteller mitgelieferte Software lag natürlich ebenfalls
nur als Binärcode vor. Was Vincent dem Abgeordneten über
die Unzugänglichkeit von Binärcode erzählt hatte, stimmte nicht
ganz - es gab grundsätzlich die Möglichkeit, ein Binärprogramm
zumindest so weit zu entschlüsseln, dass man ermitteln konnte,
was es eigentlich tat. Man nannte das Dekompilation oder Disassemblierung,
doch wäre dies eine sehr schwierige, hochgradig
fehleranfällige Arbeit gewesen, die sich ohne Weiteres über Monate
hätte hinziehen können. Es war wesentlich einfacher, ein
komplett neues Programm zu schreiben, das später nur genauso
aussehen würde wie das mitgelieferte, und deswegen machte es
Vincent so.
Das Erste, was ein Wahlcomputer benötigte, war eine Möglichkeit,
die zur Wahl stehenden Kandidaten einzugeben. Vincent
schrieb eine Funktion, die auf dem Schirm exakt so aussah wie
das Original, und legte die erfassten Namen in einer Datenbank
ab, wobei jeder Eintrag über eine eindeutige Nummer angesprochen
werden konnte. Wenn er testhalber »Tarzan« und »Cheetah«
als Kandidaten eingab, entsprach »Tarzan« programmintern der
Nummer 1 und »Cheetah« der Nummer 2. In genau dieser Reihenfolge
wurden die Namen auch angezeigt, wenn das Gerät auf
den für die eigentliche Wahl bestimmten Modus eingestellt war.
Die Maschine arbeitete so, dass ein Wahlhelfer die Abstimmung
von außen freigeben musste. Danach betrat der Wähler
die Kabine mit dem Wahlcomputer, drückte auf das Feld, in dem
der Name des Kandidaten stand, für den er stimmen wollte, und
anschließend auf eine Bestätigungstaste. Daraufhin verschwand
die Kandidatenliste vom Schirm, eine Meldung »Sie haben Ihre
Stimme abgegeben« erschien, und das dem entsprechenden Kandidaten
zugeordnete Zählfeld wurde um eins hochgesetzt. Damit
war die Maschine wieder gesperrt, und es bedurfte einer erneuten
Freigabe für den nächsten Abstimmvorgang.
Am Ende der Wahl konnte man die Maschine mit dem entsprechenden
Schlüssel zurück in den Verwaltungsmodus schalten
und über einen anzuschließenden Drucker die aufaddierten
Stimmen ausdrucken: Fertig war die Auszählung.
Das alles nachzubauen war einfach. Vincent brauchte nur wenige
Tage, bis sein Programm dem Original so weit glich, dass
er die Versionen selber nicht mehr unterscheiden konnte. Aber
natürlich war das nicht das eigentliche Ziel. Das eigentliche Ziel
war ein Programm, das mehr konnte als das Original.
Vincent definierte unsichtbare Tasten in den Ecken des Bildschirms.
Ein Eingeweihter brauchte diese Tasten nur in einer ganz
bestimmten Reihenfolge zu drücken, um an diese Zusatzfunktionen
heranzukommen. Vincent legte einen Code fest, der so aussah:
einmal oben links, zweimal oben rechts, einmal unten links,
noch einmal oben rechts. Wenn man anschließend auf eines der
mit den Namen der Kandidaten beschrifteten Felder tippte, wurden
die für diesen abgegebenen Stimmen mit der Gesamtzahl
der Stimmen verglichen. Hatte der Kandidat sowieso die Mehrheit,
passierte nichts. Führte ein anderer Kandidat, wurden die
gespeicherten Zahlen innerhalb von Sekundenbruchteilen so
abgeändert, dass der angetippte Kandidat mindestens 51 % der
Stimmen erhielt. Die übrigen Kandidaten bekamen die verbliebenen
49% der Stimmen in etwa dem Verhältnis zugeteilt, das
sie vor der Veränderung gehabt hatten.
Auf diese Weise würde der Austausch der Software unentdeckt
bleiben. Wenn anstatt der Herstellersoftware Vincents Programm
auf den Wahlcomputern installiert war, würde kein Testlauf vor
der Wahl, gleichgültig wie gründlich, einen Hinweis darauf liefern,
dass etwas nicht stimmte. Die Abstimmungsergebnisse
veränderten sich erst, wenn eine eingeweihte Person eingriff -
doch auch das würde unentdeckt bleiben, da dabei alle Daten
so abgeändert wurden, dass der interne Zusammenhang erhalten
blieb. Die einzige Möglichkeit, festzustellen, dass nicht die
originale Software lief, wäre gewesen, deren Bitmuster mit dem
von Vincents Programm zu vergleichen - was nicht ging, da der
Hersteller seine Software als Betriebsgeheimnis behandelte und
keinerlei Informationen darüber herausgab.
Am Tag vor dem vereinbarten Treffen mit dem Abgeordneten
rief Consuela Vincent zu einer Vorabbesprechung. Er nahm
eine CD mit, die das Programm enthielt, sowie ein Exemplar sei-
nes Berichts, in dem er dessen Funktionsweise genau beschrieb,
und erklärte, wie er sich das Treffen vorstellte: »Wir bauen die
Maschine im Besprechungszimmer auf. Wenn Mister Hill da ist,
stimmt jeder von uns einmal ab, und zwar für Tarzan. Wir drucken
die Auszählung aus und werden sehen, dass drei Stimmen
für Tarzan abgegeben wurden und keine für Cheetah. Anschließend
gebe ich den Geheimbefehl ein, wir drucken die Auszählung
noch einmal aus und werden das Ergebnis erhalten, dass
Cheetah mit zwei zu eins Stimmen gewonnen hat.«
Anschließend, fuhr er fort, würde er anhand des Quellcodes
erklären, wie die Funktion realisiert war und anhand welcher
Hinweise man die Manipulation aufdecken konnte. Vorausgesetzt,
man war im Besitz des Quellcodes.
Consuela streckte die Hand nach der CD aus und nahm sie an
sich. »Sie verstehen nicht, Vincent«, knurrte sie. »Wenn wir weiter
Staatsaufträge bekommen wollen, müssen wir die Manipulation
im Quellcode verborgen halten. Das Programm wird benötigt,
um die Wahl in Florida zu kontrollieren.«
Diese Worte bewirkten, dass sich Vincents Magen verkrampfte.
Was meinte sie damit? Er setzte an, nachzufragen, doch dann
sagte ihm etwas im Gesichtsausdruck seiner Chefin, dass er das
besser bleiben ließ, also ließ er es bleiben und sagte stattdessen:
»Das geht nicht. Das wissen Sie so gut wie ich. Wenn jemand den
Quellcode hat, kann er die Manipulation sehen.«
Consuela Sanchez stand auf. »Ich werde Frank geben, was Sie
gemacht haben. Ende der Diskussion.«
Damit verließ sie den Besprechungsraum.
Vincent blieb noch einen Moment sitzen, wie betäubt von
dem, was sich gerade abgespielt hatte.
Das in seinem Bauch war Angst, merkte er. Ihm war auf einmal,
als höre er wieder die mahnende Stimme des Ehrenwerten
Richters Alfred J. Straw. Und als röche er wieder den modrigfeuchten
Geruch eines gewissen Duschraums ...
Konnte das wahr sein? Dass die Republikaner vorhatten, die
Wahl zu stehlen?
Vincent gehörte keiner Partei an, und Politik interessierte ihn
nicht die Bohne. Wie die meisten Amerikaner war er nicht begeistert
von der Aussicht, den steifen, oberlehrerhaften Al Gore
als Präsidenten zu bekommen. Wie die meisten Amerikaner war
er aber gleichzeitig überzeugt, dass dieser den Kandidaten der Republikaner
schlagen würde, und zwar um Längen. Kein Mensch,
der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde den anderen wählen,
dessen einziger Vorzug darin bestand, der Sohn eines ehemaligen
Präsidenten zu sein und fast den gleichen Namen wie
dieser zu tragen.
KAPITEL 3
Am Nachmittag des 7. November 2000 begab sich
Vincent ins Wahllokal, um seine Stimme abzugeben.
Es war eigenartig, das zu tun, nachdem er sich einige Wochen
zuvor intensiv damit beschäftigt hatte, wie man eine solche Wahl
fälschen konnte. Er war froh, dass das Gerät, das er in der Kabine
vorfand, ein anderes war als das, für das er das Programm geschrieben
hatte.
Trotzdem. Es handelte sich auch um ein Touchscreen-Gerät.
Es sah ein wenig anders aus, funktionierte ein wenig anders - egal:
Vor seinem inneren Auge entstanden unwillkürlich Programmcodezeilen,
Funktionsaufrufe, Datenstrukturen. Beim zweiten
Mal entwickelt sich ein Stück Software viel leichter und schneller.
Vincent stimmte für Ralph Nader, den unabhängigen Kandidaten.
Nicht, weil ihm der als Anwalt der Verbraucher berühmt
gewordene Mann so sympathisch gewesen wäre, sondern weil
er sich nicht überwinden konnte, für Al Gore zu stimmen, der
sowieso haushoch gewinnen würde. Und seine Stimme George
W. Bush zu geben, kam natürlich überhaupt nicht in Frage.
Piep! machte das Gerät, als er die Bestätigungstaste drückte,
und auf dem Schirm erschien: Sie stimmen für: Ralph Nader. Bitte
bestätigen Sie, indem Sie auf »Ja« drücken, oder drücken Sie »Abbrechen
«, um von vorn zu beginnen.
Vincent drückte auf das Feld, in dem »Ja« stand. Die Beschriftung
des Schirms wechselte: Ihre Stimme ist gezählt worden. Sie
können die Wahlkabine nun verlassen.
War seine Stimme wirklich gezählt worden? Wie konnte er
das wissen? Was, wenn er gerade sein eigenes Programm benutzt
hatte? Dann würde es später keine Rolle spielen, wie er abgestimmt
hatte. Sicher, das war nicht genau sein Programm. Aber es
hätte nur einen Nachmittag Arbeit bedeutet, die Bildschirmausgaben
entsprechend anzupassen.
Ratlos verließ er die Wahlkabine, musterte die Schlange der
wartenden Wähler. Männer und Frauen jeden Alters, jeder Hautfarbe,
gut gelaunte, grimmige und gelangweilt dreinblickende.
Aber keiner darunter, der so wirkte, als mache er sich Sorgen, dass
seine Stimme verfälscht werden könnte.
Woher kam dieses Vertrauen? Die meisten Leute glaubten
doch kein Wort von dem, was ihnen ein Politiker erzählte. Eine
Menge Leute zweifelten an einer Menge Dinge - an ihren Stromrechnungen,
Steuerbescheiden oder daran, dass die Mondlandung
tatsächlich stattgefunden hatte.
Bloß an Wahlmaschinen schien niemand Anstoß zu nehmen.
Es lag daran, erkannte Vincent, dass normale Leute keine Ahnung
von Computern hatten. Sie waren es gewöhnt, dass Knöpfe
zu drücken genau das bewirkte, was es bewirken sollte. Wenn
man an einem Getränkeautomaten die Taste drückte, auf der
»SevenUp« stand, dann landete eine eisgekühlte Flasche SevenUp
im Ausgabefach. Wenn man am Telefon eine bestimmte Nummer
wählte, erreichte man die Person, der diese Nummer gehörte.
Wenn man an einem Bankautomaten das Feld berührte, auf dem
»$60« stand, dann bekam man sechzig Dollar ausgezahlt, nicht
mehr und nicht weniger.
Worüber sich niemand im Klaren zu sein schien, war, dass
all das nur deswegen funktionierte, weil keine anderweitigen Absichten
im Spiel waren. Niemand hatte etwas davon, jemandem,
der SevenUp trinken wollte, eine Flasche Cola zu verkaufen - das
hätte nur endlose Scherereien nach sich gezogen.
Tatsächlich aber existierte in modernen Maschinen keine
zwangsläufige Verbindung mehr zwischen einer Taste und dem,
was sie bewirkte. Wenn man das Feld »$60« auf dem Touchscreen
des Bankautomaten drückte, lieferte einfach ein Bildschirmtreiber
zwei Koordinaten, nämlich die des Punktes, an dem man
den Schirm berührt hatte. Eine zweite Softwareschicht errechnete
aus diesen Koordinaten, welches Feld gemeint war; gab vielleicht
gleichzeitig einen Impuls an einen anderen Prozess weiter, der
mit einem kleinen Lautsprecher gekoppelt war und bewirkte,
dass darüber ein Geräusch erzeugt wurde, das klang wie das Drücken
einer Taste. Oder auch nur ein Piepsen, je nachdem, wie das
programmiert worden war.
Erst der danach folgende Ablauf - zu ermitteln, ob das Konto
ausreichende Deckung aufwies und, wenn ja, die übrige Maschinerie
zu veranlassen, die entsprechenden Geldscheine aus dem
Reservoir zu holen und in das Ausgabefach zu legen - führte
dazu, dass man bekam, was man verlangt hatte. Aber man bekam
es, weil die Bank kein Interesse daran hatte, einem mehr oder
weniger Geld auszuhändigen als gewünscht.
Das war bei einer Wahl anders: Da gab es jede Menge Leute,
die ein Interesse an einem bestimmten Wahlausgang hatten - darum
ging es ja schließlich.
Die dicke Frau in dem grün karierten Jackett, die nach ihm die
Wahlkabine betreten hatte, kam wieder zum Vorschein, sichtlich
froh, eine eher lästige Pflicht als abgehakt betrachten zu können.
Er stand hier nur im Weg herum, sagte sich Vincent und folgte
ihr nach draußen.
Vor der Tür trat jemand mit einem Klemmbrett in der Hand
auf ihn zu und wollte wissen, wie alt er sei und wen er gewählt
habe.
»Al Gore«, log Vincent. Was ging den das an?
Auf dem Heimweg sagte er sich, dass sein ungutes Gefühl bestimmt
nur eine Nachwirkung der Arbeit für Frank Hill, den Abgeordneten,
war und mit der Zeit vergehen würde.
***
Am Abend ging Vincent früher nach Hause, als er es an einem
normalen Tag getan hätte, fegte die Chipskrümel vom Sofa und
setzte sich mit einem Bier vor den Fernseher, um die Auszählung
der Stimmen zu verfolgen.
Bereits die ersten Ergebnisse, die hereinkamen, zeigten, dass
die Wahl knapper ausgehen würde als erwartet. Die Südstaaten
hatten für Bush gestimmt, der außerdem in Ohio, Indiana, den
meisten Staaten des mittleren Westens und der Rocky Mountains
gewonnen hatte. Gore hatte den Nordosten sicher - mit Ausnahme
von New Hampshire, wo Bush sehr knapp gesiegt hatte -,
die meisten der Staaten um die Großen Seen sowie entlang der
Pazifikküste. Den Hochrechnungen zufolge konnten sowohl
Al Gore wie auch George W. Bush jeweils achtundvierzig Prozent
der Wählerstimmen für sich verbuchen. Es würden die
verbleibenden vier Prozent sein, deren Verteilung die Wahl entschied.
Schließlich waren nur noch eine Handvoll Staaten offen. Wisconsin
und Iowa hatten noch kein verlässliches Ergebnis. Desgleichen
New Mexico und Oregon.
Und Florida. Florida bedeutete fünfundzwanzig Wahlmännerstimmen.
Fünfundzwanzig Stimmen, die nach dem Stand der
Dinge alles entscheiden würden. Derjenige, der Florida gewann,
würde der nächste Präsident der Vereinigten Staaten werden.
Zwölf Minuten vor acht Uhr gab NBC bekannt, nach Hochrechnung
der ersten Auszählungen sowie den Wählerbefragungen
ginge Florida an Al Gore. Zwei Minuten und elf Sekunden später
bestätigte CBS diese Einschätzung, und anderthalb Minuten
später erklärte auch der Voter News Service Gore zum Gewinner
in Florida und damit zum künftigen Präsidenten der Vereinigten
Staaten von Amerika.
In einem Interview mit George W. Bush erklärte dieser unbeeindruckt,
die Prognosen der Nachrichtensender seien »schrecklich
voreilig«.
Prophetische Worte: Tatsächlich begann gegen halb zehn alles
wieder ganz anders auszusehen. Nach und nach revidierten
die Sender ihre Hochrechnungen, die Wahl in Florida galt wieder
als unentschieden und die Wahl des Präsidenten ebenso.
Es versprach, eine lange Nacht zu werden. Vincent schob eine
Tiefkühlpizza in den Herd und holte sich ein neues Bier.
Richtig spannend wurde es erst nach Mitternacht. Kurz nach
zwei Uhr erklärten die Nachrichtensender Bush zum Sieger in
Florida; den Hochrechnungen zufolge mit einem Vorsprung von
über fünfzigtausend Stimmen.
Um halb drei machte Al Gore den üblichen Telefonanruf, um
seinem Konkurrenten den Wahlsieg zuzusprechen. Er hielt sich
zu dem Zeitpunkt in Nashville, Tennessee auf. Geplant war ein
anschließender öffentlicher Auftritt, um seinen Anhängern für
die Unterstützung zu danken. Doch noch ehe Gore die Bühne
erreichte, gingen neue Berichte ein, wonach die Differenz in Florida
tatsächlich nur um die tausend Stimmen betrug: Daraufhin
sagte Gore seinen Auftritt ab, kehrte ins Hotel zurück und rief
Bush erneut an, um das Eingeständnis seiner Niederlage zurückzuziehen.
Später wurde berichtet, Bush habe darauf geantwortet: »Na
gut, Mister Vice President, Sie müssen tun, was Sie tun müssen.«
Worauf Gore erwidert haben soll: »Sie brauchen nicht schnippisch
zu werden.«
Kurz vor vier Uhr zogen die Nachrichtensender ihre Hochrechnungen,
wonach Bush Florida gewonnen habe, erneut zurück.
Das Rennen war wieder offen - und Vincent so müde, dass
er ins Bett ging.
***
Am nächsten Morgen galt sein erster Handgriff dem Computer,
um per Internet den Stand der Dinge abzufragen.
Der sah so aus:
Al Gore hatte bundesweit 48976148 Stimmen gewonnen,
George W. Bush nur 48783510.
Bush hatte 29 Staaten gewonnen und damit 246 Wahlmännerstimmen.
Auf Gore entfielen 18 Staaten und der District of Columbia,
was ihm insgesamt 260 Wahlmännerstimmen sicherte.
Um Präsident zu werden, waren aber mindestens 270 Wahlmännerstimmen
erforderlich. Nach dem Stand der Dinge bedeutete
das weiterhin, dass die Wahl in Florida alles entschied.
Copyright © 2009 by Andreas Eschbach und
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,
30827 Garbsen
Textredaktion: Stefan Bauer
Umschlaggestaltung: Hilden Design, München
Einband-/Umschlagmotiv: Stefan Hilden, München
unter Verwendung eines Motives von granata 1111/Shutterstock
Autorenfoto: pro event, Andreas Biesenbach
Satz: Druck & Grafik Siebel, Lindlar
Gesetzt aus der ITC Giovanni
Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-7857-2374-6
Sonne, Strand und schöne Mädchen. Wenn er die Mühen eines
gesetzestreuen Lebens auf sich nehmen wollte, dann konnte er
das genauso gut im Warmen tun.
Nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis stellte er fest, dass
seine Freundin ausgezogen war, was ihn angesichts des Zustandes,
in dem ihre Beziehung zuletzt gewesen war, nicht im Geringsten
wunderte. Dass sie die meisten Möbel mitgenommen
hatte, auch solche, die ihr nicht gehörten, war eher hilfreich,
denn so passte seine restliche Habe ohne Probleme in seinen
rostigen Ford Kombi.
So überquerte Vincent Wayne Merrit im Alter von 21 Jahren
erstmals eine Staatsgrenze. Nicht, dass es ihm grundsätzlich an
Umzugserfahrung gemangelt hätte: Mit seiner Mutter Lila Merrit,
deren einziges und darüber hinaus uneheliches Kind er war,
hatte er in den ersten 18 Jahren seines Lebens 19-mal den Wohnsitz
gewechselt, allerdings immer innerhalb Pennsylvanias, meistens
von Philadelphia weg oder nach Philadelphia zurück und
stets im Zusammenhang mit irgendwelchen Liebesgeschichten
seiner Mutter, die ihm von Kindesbeinen an erklärt hatte: »Mach
dir nichts draus, wenn du ein schräger Vogel bist; deine Mutter
ist auch einer.« Über seinen Vater erzählte sie ihm nie etwas. Er
musste erst den Code des Schlosses an ihrem Tagebuch knacken,
um seinen Namen zu erfahren.
Besagte Tagebücher verwahrte seine Mutter in einem geräumigen
Regal neben ihrem Bett. Für jedes Jahr gab es ein eigenes
Buch, das die jeweilige Jahreszahl auf dem Rücken trug und mit
einem Zahlenschloss gesichert war, das über drei kleine, gerändelte
Zahlenräder verfügte. Der damals zehnjährige Vincent sagte
sich, dass der Code demzufolge aus einer dreistelligen Zahl bestehen
musste. Das wiederum hieß, dass er, wenn er bei 000 anfing
und alle Kombinationen bis 999 durchprobierte, unweigerlich
auf die richtige kommen würde. Eines Nachmittags, als seine
Mutter außer Haus war, schlich er sich in ihr Schlafzimmer, holte
das Tagebuch seines Geburtsjahrs heraus, probierte die Zahlen
zwischen 000 und 010 durch und stoppte die Zeit, die er dafür
benötigte: zwanzig Sekunden. Das multiplizierte er mit 100 und
gelangte zu dem überraschenden Resultat, dass er bei diesem
Tempo den Code in etwas mehr als einer halben Stunde knacken
konnte. Was weitaus schneller war, als er befürchtet hatte.
Tatsächlich brauchte er keine zehn Minuten, denn die gesuchte
Zahl lautete 216 - das Datum von Vincents Geburt, der
am 16. Februar 1977 das Licht der Welt erblickt hatte. Dies lehrte
Vincent etwas über die Art und Weise, wie Menschen Passwörter
und Geheimcodes wählen, das ihm später oft von Nutzen sein
sollte.
Er knackte gleich auch noch den Code des Tagebuchs vom
Jahr davor. Diesmal probierte er es sofort mit dem Geburtstag
seiner Mutter: mit Erfolg. Mit einer eigenartigen Erregung, die
damit zu tun hatte, in verbotenes Territorium einzudringen, las
er die Einträge seiner Mutter über seinen Vater, wie sie ihn kennengelernt
und wie sie ihn verführt hatte. Vieles von dem, was er
las, sollte er erst Jahre später verstehen, aber er fand den Namen
seines Vaters und seine Adresse. Eine Adresse in Deutschland. Er
musste auf einer Landkarte nachsehen, wo das lag. Nach einigem
Nachdenken schrieb er seinem Vater heimlich einen Brief, nicht
ahnend, dass er damit dessen Scheidung auslöste.
Vincent erreichte Florida im Mai des Jahres 1998, fuhr ohne
konkreteres Ziel umher und landete schließlich in Daytona
Beach. Hier verbrachte er ein paar Wochen in einem winzigen
Haus zwischen Palmen, von dem aus es nicht weit bis zum
Strand war, und stellte in dieser Zeit Folgendes fest: Erstens, dass
er es langweilig fand, an einem Strand herumzuliegen. Zweitens,
dass der Monitor seines Computers empfindlich spiegelte, eine
Eigenschaft, die sich in einer sonnigen Gegend unangenehmer
bemerkbar machte als im eher trüben Pennsylvania. Und drittens,
dass es zwar schrecklich lange dauerte, Ersparnisse anzusammeln,
sie aber schrecklich schnell zur Neige gingen, wenn man davon
zu leben versuchte.
Mit anderen Worten: Er brauchte einen Job.
Vincent hatte sich das Programmieren selbst beigebracht und
war gut darin. Um genau zu sein, war er der Beste, seiner Überzeugung
nach zumindest. Seine bisherigen Arbeitgeber hatten
diese Überzeugung zwar nicht unbedingt geteilt, waren im Prinzip
aber zufrieden mit seiner Arbeit gewesen, und hätte er nicht
mehr gemacht als diese - hätte Vincent seine Freizeit mit, sagen
wir, Baseball, Fernsehen oder Mädchen verbracht -, es hätte nie
Probleme gegeben. Aber Vincent hielt wenig von Sport, ertrug
das Stillsitzen vor einem Fernseher nicht und war in Bezug auf
Mädchen der Ansicht, dass sie einen bei allen Vorzügen doch
sehr von der Arbeit abhielten. Denn Vincent verbrachte auch
seine Freizeit am liebsten mit Arbeit, vorausgesetzt, diese Arbeit
hatte mit Computern zu tun.
An Jobangeboten für derart disponierte Leute herrschte auch
in Florida kein Mangel. Leider erfuhren aber die meisten Firmen,
bei denen er vorstellig wurde, auf irgendeine Weise - bei der
zweifellos ebenfalls Computer eine tragende Rolle spielten - von
seiner Verurteilung und seiner Gefängnisstrafe und zeigten sich
danach wenig geneigt, ihn einzustellen. So vergingen die Wochen,
und seine Ersparnisse nahmen mit bedenklicher Geschwindigkeit
weiter ab, nicht zuletzt, weil er den Radius seiner Suche immer
mehr ausdehnen und deswegen mehr fahren musste.
In Oviedo, einem Ort in der Nähe von Orlando, fand er
schließlich ein Unternehmen, das sich an seinem Vorleben nicht
störte. Es handelte sich um eine Softwarefirma namens SIT, Sanchez
Information Technology, deren Inhaberin, Consuela Margarita
Sanchez, eine dralle kleine Exilkubanerin, sich im Gegenteil an
den fachlichen Details seiner Untat überaus interessiert zeigte.
»Ein Trojaner?«, wiederholte sie mit unverkennbarer Faszination.
»Und Sie haben fünfzigtausend Kreditkartennummern damit gestohlen?«
Vincent schüttelte entschieden den Kopf. »Das war der andere.
Der sitzt noch.« Ihn schauderte bei dem Gedanken, wie es
seinem ehemaligen Kollegen dabei ergehen mochte. »Ich habe
bloß das Programm geschrieben. Ich hatte keine Ahnung, was
er vorhatte.«
Das entsprach, obwohl ihm das der Richter nicht geglaubt
hatte, der Wahrheit. Zumindest insoweit, dass Vincent nicht
im Detail gewusst hatte, was Craig mit dem Trojanerprogramm
vorgehabt hatte. Dass er etwas damit vorgehabt hatte, war ihm
durchaus klar gewesen; er hatte sich aber eingeredet, dass Craig
bestimmt nur jemandem bei der Bank, die sich als unerfreulicher
Kunde erwiesen hatte, einen Streich spielen wollte. In Wirklichkeit
hatte er einfach der Gelegenheit nicht widerstehen können,
Craig zu zeigen, wer der bessere Programmierer war.
»Und wieso hat man Sie erwischt?«
Vincent wand sich auf seinem Stuhl. »Weil ich meine Signatur
darin versteckt hatte. So eine Angewohnheit von mir.«
Das Trojanerprogramm hatte sich auf den Rechnern der Kreditkartenabteilung
eingenistet, sich deren Mitarbeitern gegenüber
als regulärer Login-Schirm ausgegeben und alle Passwörter
an Craig weitergeleitet. Der hatte sich damit Zugang verschafft,
Tausende von gültigen Kreditkartennummern abgerufen und
übers Internet verkauft.
Und nicht dran gedacht, den Trojaner wieder zu löschen.
Consuela lächelte von einem ihrer dicken roten Ohrclipse
zum anderen. »Wissen Sie was, Vincent? Sie sind ein Strolch, aber
Sie gefallen mir.« Sie streckte die Hand über den Tisch. »Willkommen
im Team.«
In der folgenden Zeit sollte Vincent feststellen, dass Consuela
eine ausgesprochene Vorliebe dafür hatte, gescheiterte Existenzen
um sich zu versammeln. Unter den Programmierern von SIT
wimmelte es von illegalen Einwanderern, ehemaligen Sträflingen,
pleitegegangenen Unternehmern, bankrotten Spielern und Drogenabhängigen
in sämtlichen Stadien der Sucht. Doch sie alle
einte ein Verlangen, das weitaus stärker war: das Fieber des Programmierens,
die Lust an der Beherrschung der Maschine, die Begierde
nach Bildschirm, Tastatur und Rechenleistung. Jeder von
ihnen, egal was er im Leben versiebt haben mochte, glaubte mit
jeder Faser seines Seins, es mit Computern aber so was von drauf
zu haben, dass dem Rest der Welt nichts blieb als ehrfurchtsvolle
Resignation.
Eine echte Herausforderung für Vincent.
Das Gehalt war nicht überwältigend, aber wenn die Geschäfte
gut liefen, spendierte Consuela allen, die nach sieben Uhr abends
noch da waren, Pizza oder was vom Mexikaner, Inder oder Chinesen,
je nach Wochentag. Also blieben sie, sorgten dafür, dass
die Geschäfte gut liefen, und schonten ihre Wohnungen. Sie entwickelten
ein Ausleihsystem für eine Musikbibliothek, komplett
mit Laserscannern und Diebstahlschutz, eine Immobilienverwaltung
für eine große Real Estate Agency, die laufend Sonderwünsche
nachreichte und am Ende um jeden Dollar feilschte, ein
Betriebssystem für einen Poolreinigungsroboter mit zu wenig
Speicherplatz, und im Frühjahr des Jahres 2000 hatte Vincent es
endlich geschafft: Consuela berief ihn zum Chefprogrammierer.
Falls er an seinem Leben noch etwas auszusetzen fand, dann
höchstens, dass man ihn beim Einkaufen immer noch fragte, ob
er neu in Florida sei, er sei so blass.
Seine neue Stellung umfasste tägliche Meetings mit Consuela
Margarita Sanchez, oft mit Kunden, Interessenten oder Beratern.
Was bei diesen Treffen besprochen und festgelegt wurde, musste
Vincent anschließend den übrigen Programmierern in geeigneter
Weise vermitteln, was sich einfacher anhörte, als es war: Huck
nahm grundsätzlich nicht an Besprechungen teil. Fernando bestand
auf handschriftlichen, durchnummerierten Listen mit klaren
Anweisungen. Alvin akzeptierte allenfalls Vorschläge und
wollte immer eigene Ideen einbringen, die leider immer schlechte
Ideen waren. Xuan sagte gern »Ja, kein Problem« und machte
hinterher, wozu er Lust hatte. Ramesh brauchte Druck, weil er
sonst tagelang an einer einzigen Zeile Code bastelte, während
Claudio anfing, Tippfehler zu machen und nervös aufs Klo zu
rennen, sowie das Wort »Termin« fiel. Steve schließlich schlug
jedes Mal vor, sie sollten sich einfach alle zusammensetzen und
das Konzept von Grund auf neu entwickeln, was, wenn man ihn
hätte machen lassen, dahin geführt hätte, erst einmal das binäre
System grundsätzlich in Frage zu stellen.
In seiner neuen Stellung bekam Vincent im Lauf der Zeit Einblick
in die Probleme der Geschäftsführung und die Sorgen und
Nöte einer Unternehmerin. Er erfuhr, dass sich SIT um Aufträge
der Staatsregierung bemühte. »Wenn man da erst mal drin ist«,
schwärmte Consuela, »kommt immer eins zum anderen. Dann
fließt regelmäßig Geld, und wir müssen uns keine Sorgen mehr
um die Gehälter machen.« Consuela machte sich nämlich immer
sehr viele Sorgen.
In einer dieser Besprechungen begegnete Vincent Ende August
des Jahres 2000 zum ersten Mal einem hochdynamisch wirkenden,
unverschämt gut aussehenden Mann, den Consuela ihm als
Frank Hill vorstellte. Hill war Abgeordneter der republikanischen
Partei und enger Vertrauter von Jeb Bush, dem Gouverneur von
Florida, für den er einige Jahre zuvor als Vizegouverneur kandidiert
hatte. Consuela war glühende Anhängerin der republikanischen
Partei, ihrer Überzeugung nach die einzige politische
Kraft, die Castro die Stirn zu bieten entschlossen war und damit
die einzige Hoffnung auf Freiheit für ihr Heimatland.
In der Besprechung ging es jedoch nicht um Politik, sondern
um Geschäfte. Der Abgeordnete war gekommen, um verschiedene
IT-Projekte der Staatsregierung durchzusprechen, um zu
sehen, welche davon SIT im Auftrag der Administration realisieren
konnte. Vincent nahm an diesen Gesprächen als technischer
Berater teil; an ihm war es, jeweils die Machbarkeit und den Aufwand
zu beurteilen.
In den folgenden Wochen fanden ein Dutzend solcher Besprechungen
statt, denen rasch einige überaus lukrative Aufträge
folgten. Vincent begriff, dass Hill sozusagen in einer Doppelrolle
anwesend war: Solange sie zu dritt beisammensaßen, war Frank
Hill der Auftraggeber, der Anforderungen definierte und Termine
aushandelte. Danach, wenn Frank Hill und Consuela die Besprechung
zu zweit fortsetzten, wurde der Abgeordnete zum Berater,
der ihr half, die Angebote so zu formulieren und die Preise so zu
gestalten, dass sie den Zuschlag erhielt.
Es dauerte eine Weile, ehe Vincent mitbekam, dass sich Frank
Hill für diese Tätigkeit als Berater und Lobbyist bezahlen ließ.
Die staatlichen Aufträge bescherten SIT einen nach den turbulenten
Zeiten der Dot-Com-Krise willkommenen Aufschwung.
Tatsächlich ging es der Firma bald so gut wie noch nie, seit Vincent
dabei war. Alle Programmierer bekamen komfortablere
Bürosessel, am Schwarzen Brett tauchten Bestellformulare edle-
rer Lieferdienste auf, und Consuela begann, über einen Anbau
nachzudenken, eine luxuriösere Eingangshalle und, vielleicht,
einen Pool für alle Mitarbeiter.
Während eines Meetings Ende September des Jahres 2000,
sechs Wochen vor der anstehenden Wahl des Präsidenten der
Vereinigten Staaten von Amerika, wollte der Abgeordnete Frank
Hill wissen, ob SIT ein Programm für Wahlcomputer entwickeln
könne, das imstande sei, das Endergebnis einer Abstimmung zu
verändern, ohne dass jemand die Manipulation entdecken würde.
Ein Prototyp genüge.
KAPITEL 2
Der Abgeordnete hatte überaus konkrete Vorstellungen hinsichtlich
des zu erstellenden Programms.
Er zählte sie an seinen sorgsam manikürten Fingern ab: »Erstens,
es muss für Touch-Screen-Geräte geeignet sein. Zweitens, ein eingeweihter
Benutzer muss ohne zusätzliche Ausrüstung imstande
sein, die Veränderung der Auszählung auszulösen. Drittens, die
Programmierung muss so gestaltet sein, dass diese Eingriffsmöglichkeiten
verborgen bleiben, selbst wenn der Quellcode inspiziert
werden sollte.«
An diesem Punkt faltete Frank Hill seine sorgsam manikürten
Hände und sah Vincent mit jenem treuherzig-freundlichen
Augenaufschlag an, der auch seine Wahlplakate zierte und ihm
in seinem Leben zweifellos schon viele Stimmen betagter Wählerinnen
eingebracht hatte. »Denken Sie, dass Sie das hinkriegen,
Vincent?«
Vincent hatte einen Moment lang das Gefühl, das alles nur
zu träumen. Bestimmt würde er gleich aufwachen und sich in
seinem Bett wiederfinden.
Dann war der Moment vorbei, und er saß immer noch im
Besprechungsraum, an dem großen Tisch aus falschem Teakholz
mit den zehn Stühlen darum herum. Ihm gegenüber saßen eine
Unternehmerin, die im Alter von 11 Jahren zusammen mit ihrer
Tante unter Lebensgefahr aus Kuba geflohen war, und ein Abgeordneter,
der gar nicht wusste, was Lebensgefahr war.
Und der ihn immer noch treuherzig ansah. Seine Freundlichkeit
allerdings fing an, einer gewissen Ungeduld zu weichen.
»Verstehe«, sagte Vincent und räusperte sich, weil er nicht
wusste, was er sagen sollte. Ob er ein Programm für einen Wahl-
computer schreiben könne? Wollte ihn der Kerl auf den Arm nehmen?
Etwas Einfacheres gab es ja wohl nicht. Vielleicht abgesehen
von einem Programm für einen Getränkeautomaten. Wenn
Taste 1 gedrückt und Geldbetrag ausreichend, werfe eine Flasche Cola
aus. Wenn Taste 2 gedrückt und Geldbetrag ausreichend, werfe eine
Flasche SevenUp aus. Und so weiter. »Aber entschuldigen Sie, Sir,
ich fürchte, ich verstehe nicht, wozu das dienen soll. Ich meine,
diese Geräte werden von ihren Herstellern mit Software ausgestattet
-«
»Frank und ... andere machen sich Sorgen, dass die Demokraten
versuchen könnten, die Wahlen in Florida zu stehlen«,
mischte sich Consuela ein. Sie klang, als glaube sie das tatsächlich.
»Sie wollen anhand eines solchen Programmes herausfinden,
wie man Wahlmanipulationen erkennen und verhindern kann.«
Der Abgeordnete nickte bekräftigend. »Genau. Das habe ich
vergessen zu erwähnen.« Er hob die Schultern, lachte. »Ich habe
das jetzt schon so vielen Leuten erklärt, dass ich das Gefühl habe,
die ganze Welt weiß, worum es geht.«
Es klang so ehrlich, so aufrichtig, so geradeheraus, dass Vincent
ihm kein Wort davon abkaufte.
Andererseits war ihm klar, dass ihm seine Chefin die Hölle
heiß machen würde, wenn er jetzt eine moralische Diskussion
anfing, anstatt die Wünsche des Kunden zu besprechen.
»Grundsätzlich«, begann Vincent also, »sind die ersten beiden
Anforderungen kein Problem.«
Der Abgeordnete hob die Brauen. »Das heißt, die dritte ist
eines.«
»Wenn jemand, der etwas vom Programmieren versteht, die
Möglichkeit hat, den Quellcode einzusehen, ließe sich eine
Funktion zur Veränderung des Auszählungsergebnisses praktisch
nicht verbergen«, erklärte Vincent. »Wenn der Code jedoch kompiliert
wird, ehe ihn jemand zu sehen bekommt, trifft das genaue
Gegenteil zu: In dem Fall wäre es nahezu unmöglich, eine Manipulation
zu erkennen.«
Der Blick, mit dem der Abgeordnete ihn ansah, bewies klar,
dass Frank Hill nichts vom Programmieren verstand.
»Das müssen Sie mir erklären.«
»Okay.« Vincent räusperte sich. Lange her, dass er das jemandem
hatte erklären müssen. »Denken Sie sich den Quellcode eines
Programms als die Version, die ein Mensch lesen kann. Ein
Programm ist in einer bestimmten Programmiersprache geschrieben,
die aus verschiedenen Befehlen besteht. Ein Programm zu
kompilieren heißt, es in eine Version umzuwandeln, die eine Maschine
lesen kann. Diese Version nennt man Maschinencode oder
Binärcode, weil sie nur noch aus einer langen Reihe von Bits besteht,
aus lauter Nullen und Einsen, mit denen ein Mensch nichts
mehr anfangen kann. Wenn Sie nur das kompilierte Programm
vor sich haben, können Sie nicht feststellen, ob es dazu dient, eine
Waschmaschine zu steuern oder eine Interkontinentalrakete.«
Das ließ sich der Politiker durch den Kopf gehen, dann fragte
er: »Aber wenn man diese Version, von der Sie sprechen - die
eine Maschine lesen kann -, wieder in die andere umwandeln
würde? Dann könnte man es, oder?«
»Nein. Die Kompilation ist ein Prozess, bei dem Informationen
verloren gehen.« Wieder dieser glasige Blick. Er musste es
einfacher ausdrücken. »Es ist gewissermaßen eine Einbahnstraße,
Sir. Es geht nur in der Richtung vom Quellcode zum kompilierten
Programm, aber nicht umgekehrt.«
»Okay ...«, meinte Frank Hill und nickte bedächtig. »Und
diese Kompilation ... Wie geht die vonstatten?«
»Das bewerkstelligt ein anderes Programm, ein sogenannter
Compiler. Der liest den Quellcode und macht Maschinencode
daraus.«
In diesem Stil ging es ein paar Minuten hin und her, dann
mischte sich auch Consuela ein und erklärte alles noch einmal
von vorn, bis der Abgeordnete den zentralen Punkt begriffen
hatte: »Mit anderen Worten, wenn ein Wahlcomputer mit einem
fertig kompilierten Programm ausgestattet wäre, könnte das mit
den abgegebenen Stimmen machen, was es will?«
»Genau«, sagte Vincent.
Frank Hill nickte beifällig, lehnte sich in seinem Sessel zurück,
fuhr sich mit der Hand über das Kinn und den Hals, als müsse
er beides glatt streichen, und meinte: »Okay. Schreiben Sie mir
so etwas.«
»Einen Prototypen, meinen Sie«, hakte Consuela ein.
»Genau.«
»Den Sie sich anschauen können, nicht wahr? Testen. Mit dessen
Hilfe Sie den Verantwortlichen demonstrieren können, was
möglich ist.«
»Exakt«, sagte der Abgeordnete.
Consuela Sanchez setzte ihr kilometerbreites Lächeln auf.
»Das werden wir tun.«
»Bis wann können Sie liefern?«, fragte Frank Hill.
Dass Vincent daraufhin seinen Terminkalender zückte, schien
ihn misstrauisch zu machen. »Ich hätte jetzt erwartet, dass Sie
technisch auf dem neuesten Stand sind«, sagte er und holte einen
Organizer heraus, einen der neuen Palm Handhelds mit farbigem
TFT-Display.
Vincent musterte die chaotisch bekritzelten Seiten seines Kalenders,
der ihn nur drei Dollar gekostet hatte. Tatsächlich kannte
er keinen Programmierer, der einen elektronischen Organizer
benutzte. Die Dinger nannte man »Manager-Tamagotchis« und
betrachtete sie als Spielzeug für Wichtigtuer.
»Für wirklich wichtige Sachen finde ich Papier eigentlich das
Beste«, meinte er und blätterte die kommenden Wochen durch,
um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie einigten sich darauf,
dass Hill der Firma SIT ein Exemplar eines Wahlcomputers zur
Verfügung stellte; danach würde Vincent vierzehn Tage Zeit haben,
um einen ersten Prototypen zu erstellen.
Der Abgeordnete kämpfte einige Minuten mit seinem Mini-
Computer, bis er endlich alles in die entsprechenden Rubriken
eingefüttert hatte. »Ist noch ganz neu«, meinte er.
***
Ein paar Tage später fand Vincent morgens ein Exemplar eines
Wahlcomputers mit Touch-Screen auf seinem Schreibtisch vor,
und er begann mit der Arbeit.
Die vom Hersteller mitgelieferte Software lag natürlich ebenfalls
nur als Binärcode vor. Was Vincent dem Abgeordneten über
die Unzugänglichkeit von Binärcode erzählt hatte, stimmte nicht
ganz - es gab grundsätzlich die Möglichkeit, ein Binärprogramm
zumindest so weit zu entschlüsseln, dass man ermitteln konnte,
was es eigentlich tat. Man nannte das Dekompilation oder Disassemblierung,
doch wäre dies eine sehr schwierige, hochgradig
fehleranfällige Arbeit gewesen, die sich ohne Weiteres über Monate
hätte hinziehen können. Es war wesentlich einfacher, ein
komplett neues Programm zu schreiben, das später nur genauso
aussehen würde wie das mitgelieferte, und deswegen machte es
Vincent so.
Das Erste, was ein Wahlcomputer benötigte, war eine Möglichkeit,
die zur Wahl stehenden Kandidaten einzugeben. Vincent
schrieb eine Funktion, die auf dem Schirm exakt so aussah wie
das Original, und legte die erfassten Namen in einer Datenbank
ab, wobei jeder Eintrag über eine eindeutige Nummer angesprochen
werden konnte. Wenn er testhalber »Tarzan« und »Cheetah«
als Kandidaten eingab, entsprach »Tarzan« programmintern der
Nummer 1 und »Cheetah« der Nummer 2. In genau dieser Reihenfolge
wurden die Namen auch angezeigt, wenn das Gerät auf
den für die eigentliche Wahl bestimmten Modus eingestellt war.
Die Maschine arbeitete so, dass ein Wahlhelfer die Abstimmung
von außen freigeben musste. Danach betrat der Wähler
die Kabine mit dem Wahlcomputer, drückte auf das Feld, in dem
der Name des Kandidaten stand, für den er stimmen wollte, und
anschließend auf eine Bestätigungstaste. Daraufhin verschwand
die Kandidatenliste vom Schirm, eine Meldung »Sie haben Ihre
Stimme abgegeben« erschien, und das dem entsprechenden Kandidaten
zugeordnete Zählfeld wurde um eins hochgesetzt. Damit
war die Maschine wieder gesperrt, und es bedurfte einer erneuten
Freigabe für den nächsten Abstimmvorgang.
Am Ende der Wahl konnte man die Maschine mit dem entsprechenden
Schlüssel zurück in den Verwaltungsmodus schalten
und über einen anzuschließenden Drucker die aufaddierten
Stimmen ausdrucken: Fertig war die Auszählung.
Das alles nachzubauen war einfach. Vincent brauchte nur wenige
Tage, bis sein Programm dem Original so weit glich, dass
er die Versionen selber nicht mehr unterscheiden konnte. Aber
natürlich war das nicht das eigentliche Ziel. Das eigentliche Ziel
war ein Programm, das mehr konnte als das Original.
Vincent definierte unsichtbare Tasten in den Ecken des Bildschirms.
Ein Eingeweihter brauchte diese Tasten nur in einer ganz
bestimmten Reihenfolge zu drücken, um an diese Zusatzfunktionen
heranzukommen. Vincent legte einen Code fest, der so aussah:
einmal oben links, zweimal oben rechts, einmal unten links,
noch einmal oben rechts. Wenn man anschließend auf eines der
mit den Namen der Kandidaten beschrifteten Felder tippte, wurden
die für diesen abgegebenen Stimmen mit der Gesamtzahl
der Stimmen verglichen. Hatte der Kandidat sowieso die Mehrheit,
passierte nichts. Führte ein anderer Kandidat, wurden die
gespeicherten Zahlen innerhalb von Sekundenbruchteilen so
abgeändert, dass der angetippte Kandidat mindestens 51 % der
Stimmen erhielt. Die übrigen Kandidaten bekamen die verbliebenen
49% der Stimmen in etwa dem Verhältnis zugeteilt, das
sie vor der Veränderung gehabt hatten.
Auf diese Weise würde der Austausch der Software unentdeckt
bleiben. Wenn anstatt der Herstellersoftware Vincents Programm
auf den Wahlcomputern installiert war, würde kein Testlauf vor
der Wahl, gleichgültig wie gründlich, einen Hinweis darauf liefern,
dass etwas nicht stimmte. Die Abstimmungsergebnisse
veränderten sich erst, wenn eine eingeweihte Person eingriff -
doch auch das würde unentdeckt bleiben, da dabei alle Daten
so abgeändert wurden, dass der interne Zusammenhang erhalten
blieb. Die einzige Möglichkeit, festzustellen, dass nicht die
originale Software lief, wäre gewesen, deren Bitmuster mit dem
von Vincents Programm zu vergleichen - was nicht ging, da der
Hersteller seine Software als Betriebsgeheimnis behandelte und
keinerlei Informationen darüber herausgab.
Am Tag vor dem vereinbarten Treffen mit dem Abgeordneten
rief Consuela Vincent zu einer Vorabbesprechung. Er nahm
eine CD mit, die das Programm enthielt, sowie ein Exemplar sei-
nes Berichts, in dem er dessen Funktionsweise genau beschrieb,
und erklärte, wie er sich das Treffen vorstellte: »Wir bauen die
Maschine im Besprechungszimmer auf. Wenn Mister Hill da ist,
stimmt jeder von uns einmal ab, und zwar für Tarzan. Wir drucken
die Auszählung aus und werden sehen, dass drei Stimmen
für Tarzan abgegeben wurden und keine für Cheetah. Anschließend
gebe ich den Geheimbefehl ein, wir drucken die Auszählung
noch einmal aus und werden das Ergebnis erhalten, dass
Cheetah mit zwei zu eins Stimmen gewonnen hat.«
Anschließend, fuhr er fort, würde er anhand des Quellcodes
erklären, wie die Funktion realisiert war und anhand welcher
Hinweise man die Manipulation aufdecken konnte. Vorausgesetzt,
man war im Besitz des Quellcodes.
Consuela streckte die Hand nach der CD aus und nahm sie an
sich. »Sie verstehen nicht, Vincent«, knurrte sie. »Wenn wir weiter
Staatsaufträge bekommen wollen, müssen wir die Manipulation
im Quellcode verborgen halten. Das Programm wird benötigt,
um die Wahl in Florida zu kontrollieren.«
Diese Worte bewirkten, dass sich Vincents Magen verkrampfte.
Was meinte sie damit? Er setzte an, nachzufragen, doch dann
sagte ihm etwas im Gesichtsausdruck seiner Chefin, dass er das
besser bleiben ließ, also ließ er es bleiben und sagte stattdessen:
»Das geht nicht. Das wissen Sie so gut wie ich. Wenn jemand den
Quellcode hat, kann er die Manipulation sehen.«
Consuela Sanchez stand auf. »Ich werde Frank geben, was Sie
gemacht haben. Ende der Diskussion.«
Damit verließ sie den Besprechungsraum.
Vincent blieb noch einen Moment sitzen, wie betäubt von
dem, was sich gerade abgespielt hatte.
Das in seinem Bauch war Angst, merkte er. Ihm war auf einmal,
als höre er wieder die mahnende Stimme des Ehrenwerten
Richters Alfred J. Straw. Und als röche er wieder den modrigfeuchten
Geruch eines gewissen Duschraums ...
Konnte das wahr sein? Dass die Republikaner vorhatten, die
Wahl zu stehlen?
Vincent gehörte keiner Partei an, und Politik interessierte ihn
nicht die Bohne. Wie die meisten Amerikaner war er nicht begeistert
von der Aussicht, den steifen, oberlehrerhaften Al Gore
als Präsidenten zu bekommen. Wie die meisten Amerikaner war
er aber gleichzeitig überzeugt, dass dieser den Kandidaten der Republikaner
schlagen würde, und zwar um Längen. Kein Mensch,
der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde den anderen wählen,
dessen einziger Vorzug darin bestand, der Sohn eines ehemaligen
Präsidenten zu sein und fast den gleichen Namen wie
dieser zu tragen.
KAPITEL 3
Am Nachmittag des 7. November 2000 begab sich
Vincent ins Wahllokal, um seine Stimme abzugeben.
Es war eigenartig, das zu tun, nachdem er sich einige Wochen
zuvor intensiv damit beschäftigt hatte, wie man eine solche Wahl
fälschen konnte. Er war froh, dass das Gerät, das er in der Kabine
vorfand, ein anderes war als das, für das er das Programm geschrieben
hatte.
Trotzdem. Es handelte sich auch um ein Touchscreen-Gerät.
Es sah ein wenig anders aus, funktionierte ein wenig anders - egal:
Vor seinem inneren Auge entstanden unwillkürlich Programmcodezeilen,
Funktionsaufrufe, Datenstrukturen. Beim zweiten
Mal entwickelt sich ein Stück Software viel leichter und schneller.
Vincent stimmte für Ralph Nader, den unabhängigen Kandidaten.
Nicht, weil ihm der als Anwalt der Verbraucher berühmt
gewordene Mann so sympathisch gewesen wäre, sondern weil
er sich nicht überwinden konnte, für Al Gore zu stimmen, der
sowieso haushoch gewinnen würde. Und seine Stimme George
W. Bush zu geben, kam natürlich überhaupt nicht in Frage.
Piep! machte das Gerät, als er die Bestätigungstaste drückte,
und auf dem Schirm erschien: Sie stimmen für: Ralph Nader. Bitte
bestätigen Sie, indem Sie auf »Ja« drücken, oder drücken Sie »Abbrechen
«, um von vorn zu beginnen.
Vincent drückte auf das Feld, in dem »Ja« stand. Die Beschriftung
des Schirms wechselte: Ihre Stimme ist gezählt worden. Sie
können die Wahlkabine nun verlassen.
War seine Stimme wirklich gezählt worden? Wie konnte er
das wissen? Was, wenn er gerade sein eigenes Programm benutzt
hatte? Dann würde es später keine Rolle spielen, wie er abgestimmt
hatte. Sicher, das war nicht genau sein Programm. Aber es
hätte nur einen Nachmittag Arbeit bedeutet, die Bildschirmausgaben
entsprechend anzupassen.
Ratlos verließ er die Wahlkabine, musterte die Schlange der
wartenden Wähler. Männer und Frauen jeden Alters, jeder Hautfarbe,
gut gelaunte, grimmige und gelangweilt dreinblickende.
Aber keiner darunter, der so wirkte, als mache er sich Sorgen, dass
seine Stimme verfälscht werden könnte.
Woher kam dieses Vertrauen? Die meisten Leute glaubten
doch kein Wort von dem, was ihnen ein Politiker erzählte. Eine
Menge Leute zweifelten an einer Menge Dinge - an ihren Stromrechnungen,
Steuerbescheiden oder daran, dass die Mondlandung
tatsächlich stattgefunden hatte.
Bloß an Wahlmaschinen schien niemand Anstoß zu nehmen.
Es lag daran, erkannte Vincent, dass normale Leute keine Ahnung
von Computern hatten. Sie waren es gewöhnt, dass Knöpfe
zu drücken genau das bewirkte, was es bewirken sollte. Wenn
man an einem Getränkeautomaten die Taste drückte, auf der
»SevenUp« stand, dann landete eine eisgekühlte Flasche SevenUp
im Ausgabefach. Wenn man am Telefon eine bestimmte Nummer
wählte, erreichte man die Person, der diese Nummer gehörte.
Wenn man an einem Bankautomaten das Feld berührte, auf dem
»$60« stand, dann bekam man sechzig Dollar ausgezahlt, nicht
mehr und nicht weniger.
Worüber sich niemand im Klaren zu sein schien, war, dass
all das nur deswegen funktionierte, weil keine anderweitigen Absichten
im Spiel waren. Niemand hatte etwas davon, jemandem,
der SevenUp trinken wollte, eine Flasche Cola zu verkaufen - das
hätte nur endlose Scherereien nach sich gezogen.
Tatsächlich aber existierte in modernen Maschinen keine
zwangsläufige Verbindung mehr zwischen einer Taste und dem,
was sie bewirkte. Wenn man das Feld »$60« auf dem Touchscreen
des Bankautomaten drückte, lieferte einfach ein Bildschirmtreiber
zwei Koordinaten, nämlich die des Punktes, an dem man
den Schirm berührt hatte. Eine zweite Softwareschicht errechnete
aus diesen Koordinaten, welches Feld gemeint war; gab vielleicht
gleichzeitig einen Impuls an einen anderen Prozess weiter, der
mit einem kleinen Lautsprecher gekoppelt war und bewirkte,
dass darüber ein Geräusch erzeugt wurde, das klang wie das Drücken
einer Taste. Oder auch nur ein Piepsen, je nachdem, wie das
programmiert worden war.
Erst der danach folgende Ablauf - zu ermitteln, ob das Konto
ausreichende Deckung aufwies und, wenn ja, die übrige Maschinerie
zu veranlassen, die entsprechenden Geldscheine aus dem
Reservoir zu holen und in das Ausgabefach zu legen - führte
dazu, dass man bekam, was man verlangt hatte. Aber man bekam
es, weil die Bank kein Interesse daran hatte, einem mehr oder
weniger Geld auszuhändigen als gewünscht.
Das war bei einer Wahl anders: Da gab es jede Menge Leute,
die ein Interesse an einem bestimmten Wahlausgang hatten - darum
ging es ja schließlich.
Die dicke Frau in dem grün karierten Jackett, die nach ihm die
Wahlkabine betreten hatte, kam wieder zum Vorschein, sichtlich
froh, eine eher lästige Pflicht als abgehakt betrachten zu können.
Er stand hier nur im Weg herum, sagte sich Vincent und folgte
ihr nach draußen.
Vor der Tür trat jemand mit einem Klemmbrett in der Hand
auf ihn zu und wollte wissen, wie alt er sei und wen er gewählt
habe.
»Al Gore«, log Vincent. Was ging den das an?
Auf dem Heimweg sagte er sich, dass sein ungutes Gefühl bestimmt
nur eine Nachwirkung der Arbeit für Frank Hill, den Abgeordneten,
war und mit der Zeit vergehen würde.
***
Am Abend ging Vincent früher nach Hause, als er es an einem
normalen Tag getan hätte, fegte die Chipskrümel vom Sofa und
setzte sich mit einem Bier vor den Fernseher, um die Auszählung
der Stimmen zu verfolgen.
Bereits die ersten Ergebnisse, die hereinkamen, zeigten, dass
die Wahl knapper ausgehen würde als erwartet. Die Südstaaten
hatten für Bush gestimmt, der außerdem in Ohio, Indiana, den
meisten Staaten des mittleren Westens und der Rocky Mountains
gewonnen hatte. Gore hatte den Nordosten sicher - mit Ausnahme
von New Hampshire, wo Bush sehr knapp gesiegt hatte -,
die meisten der Staaten um die Großen Seen sowie entlang der
Pazifikküste. Den Hochrechnungen zufolge konnten sowohl
Al Gore wie auch George W. Bush jeweils achtundvierzig Prozent
der Wählerstimmen für sich verbuchen. Es würden die
verbleibenden vier Prozent sein, deren Verteilung die Wahl entschied.
Schließlich waren nur noch eine Handvoll Staaten offen. Wisconsin
und Iowa hatten noch kein verlässliches Ergebnis. Desgleichen
New Mexico und Oregon.
Und Florida. Florida bedeutete fünfundzwanzig Wahlmännerstimmen.
Fünfundzwanzig Stimmen, die nach dem Stand der
Dinge alles entscheiden würden. Derjenige, der Florida gewann,
würde der nächste Präsident der Vereinigten Staaten werden.
Zwölf Minuten vor acht Uhr gab NBC bekannt, nach Hochrechnung
der ersten Auszählungen sowie den Wählerbefragungen
ginge Florida an Al Gore. Zwei Minuten und elf Sekunden später
bestätigte CBS diese Einschätzung, und anderthalb Minuten
später erklärte auch der Voter News Service Gore zum Gewinner
in Florida und damit zum künftigen Präsidenten der Vereinigten
Staaten von Amerika.
In einem Interview mit George W. Bush erklärte dieser unbeeindruckt,
die Prognosen der Nachrichtensender seien »schrecklich
voreilig«.
Prophetische Worte: Tatsächlich begann gegen halb zehn alles
wieder ganz anders auszusehen. Nach und nach revidierten
die Sender ihre Hochrechnungen, die Wahl in Florida galt wieder
als unentschieden und die Wahl des Präsidenten ebenso.
Es versprach, eine lange Nacht zu werden. Vincent schob eine
Tiefkühlpizza in den Herd und holte sich ein neues Bier.
Richtig spannend wurde es erst nach Mitternacht. Kurz nach
zwei Uhr erklärten die Nachrichtensender Bush zum Sieger in
Florida; den Hochrechnungen zufolge mit einem Vorsprung von
über fünfzigtausend Stimmen.
Um halb drei machte Al Gore den üblichen Telefonanruf, um
seinem Konkurrenten den Wahlsieg zuzusprechen. Er hielt sich
zu dem Zeitpunkt in Nashville, Tennessee auf. Geplant war ein
anschließender öffentlicher Auftritt, um seinen Anhängern für
die Unterstützung zu danken. Doch noch ehe Gore die Bühne
erreichte, gingen neue Berichte ein, wonach die Differenz in Florida
tatsächlich nur um die tausend Stimmen betrug: Daraufhin
sagte Gore seinen Auftritt ab, kehrte ins Hotel zurück und rief
Bush erneut an, um das Eingeständnis seiner Niederlage zurückzuziehen.
Später wurde berichtet, Bush habe darauf geantwortet: »Na
gut, Mister Vice President, Sie müssen tun, was Sie tun müssen.«
Worauf Gore erwidert haben soll: »Sie brauchen nicht schnippisch
zu werden.«
Kurz vor vier Uhr zogen die Nachrichtensender ihre Hochrechnungen,
wonach Bush Florida gewonnen habe, erneut zurück.
Das Rennen war wieder offen - und Vincent so müde, dass
er ins Bett ging.
***
Am nächsten Morgen galt sein erster Handgriff dem Computer,
um per Internet den Stand der Dinge abzufragen.
Der sah so aus:
Al Gore hatte bundesweit 48976148 Stimmen gewonnen,
George W. Bush nur 48783510.
Bush hatte 29 Staaten gewonnen und damit 246 Wahlmännerstimmen.
Auf Gore entfielen 18 Staaten und der District of Columbia,
was ihm insgesamt 260 Wahlmännerstimmen sicherte.
Um Präsident zu werden, waren aber mindestens 270 Wahlmännerstimmen
erforderlich. Nach dem Stand der Dinge bedeutete
das weiterhin, dass die Wahl in Florida alles entschied.
Copyright © 2009 by Andreas Eschbach und
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,
30827 Garbsen
Textredaktion: Stefan Bauer
Umschlaggestaltung: Hilden Design, München
Einband-/Umschlagmotiv: Stefan Hilden, München
unter Verwendung eines Motives von granata 1111/Shutterstock
Autorenfoto: pro event, Andreas Biesenbach
Satz: Druck & Grafik Siebel, Lindlar
Gesetzt aus der ITC Giovanni
Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-7857-2374-6
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Autoren-Porträt von Andreas Eschbach
Andreas Eschbach, geboren 1959, studierte Luft- und Raumfahrttechnik und arbeitete zunächst als Softwareentwickler, bevor er sich ausschliesslich der Schriftstellerei widmete. Er lebt als freier Schriftsteller mit seiner Frau an der französischen Atlantikküste.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Eschbach
- 2011, 3. Aufl., 496 Seiten, Masse: 12,6 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404160185
- ISBN-13: 9783404160181
- Erscheinungsdatum: 21.06.2011
Pressezitat
"Eschbach denkt konsequent weiter, was schon längst Gegenwart ist und kaum jemand wahrhaben will." Deutsche Welle "Andreas Eschbach erzählt eine Geschichte, die so weit von der Realität gar nicht entfernt zu sein scheint. Sorgfältig recherchiert, mit zahlreichen Fussnoten fast eine Doktorarbeit - aber eine äusserst spannende geschriebene!" Lausitzer Rundschau "Andreas Eschbach zeigt in seinem aussergewöhnlichen Thriller auf, wohin uns ein naives Vertrauen in die Computer-Technik führen kann." Der Grundstein
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