Insel der blauen Delfine
Roman. Ausgezeichnet mit der John Newbery Medal 1961 und mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 1963
Auf einer Pazifik-Insel ist als einzige ihres Stammes ein Indianermädchen zurückgeblieben. Im täglichen Überlebenskampf wird Karana immer mehr Teil der Natur und Freundin der Tierwelt.
Ab 12 Jahren.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Insel der blauen Delfine “
Auf einer Pazifik-Insel ist als einzige ihres Stammes ein Indianermädchen zurückgeblieben. Im täglichen Überlebenskampf wird Karana immer mehr Teil der Natur und Freundin der Tierwelt.
Ab 12 Jahren.
Klappentext zu „Insel der blauen Delfine “
Auf einer von Kormoranen und See-Elefanten bevölkerten und von Delfinen umspielten Insel ist ein Mädchen als Einzige ihres Stammes zurückgeblieben. Im täglichen Überlebenskampf wird sie selbst immer mehr Teil der Natur und Freundin der Tierwelt. Lange Jahre abenteuerlichen Lebens vergehen, bis wieder ein menschliches Wort an das Ohr des Mädchens dringt. Deutscher Jugendliteraturpreis. Die Fortsetzung dieses Buches 'Das verlassene Boot am Strand' ist ebenfalls bei dtv junior erschienen.
Lese-Probe zu „Insel der blauen Delfine “
Insel der blauen Delfine von Scott O'DellDeutsch von Roswitha Plancherel-Walter
1
Ich erinnere mich lebhaft an den Tag, an dem das Aleuterschiff kam. Erst sah es aus wie eine kleine Muschel, die auf dem Meer dahintreibt. Dann begann sie zu wachsen und wurde zu einer Möwe mit gefalteten Flügeln. Zuletzt, als die Sonne aufging, erkannte ich, was es wirklich war - ein Schiff mit roten Segeln! Mein Bruder und ich waren auf einen Hügel gestiegen; unter uns lag eine Schlucht, die sich bis zu einem kleinen Hafen hinunterschlängelt. Dort liegt die Korallenbucht. Mein Bruder und ich wollten auf der Anhöhe nach Wurzeln graben. Im Frühjahr findet man dort immer welche. Mein Bruder war noch klein, halb so alt wie ich, und ich zählte damals zwölf Jahre. Gemessen an den vielen Sonnen und Monden, die er gesehen hatte, war Ramo klein, doch flink wie eine Grille, aber auch ebenso töricht, wenn er in Aufregung geriet. Darum sagte ich ihm nichts von der Muschel und der Möwe mit den gefalteten Flügeln, die ich entdeckt hatte, denn er sollte mir beim Wurzelsammeln helfen und nicht davonlaufen. Ich stocherte weiter mit meinem spitzen Stock, als wäre auf dem Meer nicht das Geringste zu sehen.
Selbst als ich sicher wusste, dass die Möwe ein großes, fremdes Schiff war, grub ich weiter im Gestrüpp.
Doch Ramos Augen entgingen wenige Dinge auf dieser Welt. Sie waren schwarz und groß wie die Augen einer Eidechse und sie konnten genauso schläfrig blicken; aber gerade dann nahmen sie alles am besten wahr. Die Augen halb geschlossen, schaute er jetzt blinzelnd aufs Meer hinaus wie eine Eidechse, bevor sie die Zunge herausschnellt, um nach einer Fliege zu schnappen.
»Das Meer ist glatt«, sagte Ramo, »wie ein flacher Stein, der keinen einzigen Kratzer hat.«
... mehr
Mein Bruder redete gerne so, als wäre etwas nicht das, was es war, sondern etwas anderes.
»Das Meer ist kein Stein, der keinen Kratzer hat«, sagte ich. »Es ist Wasser, das keine Wellen schlägt.«
»Für mich ist es ein blauer Stein«, sagte er. »Und ganz außen am Rand des Steins sitzt eine kleine Wolke.«
»Wolken sitzen nicht auf Steinen. Nicht auf blauen und nicht auf schwarzen und nicht auf irgendwelchen Steinen.«
»Dort sitzt aber eine.«
»Nicht auf dem Meer«, antwortete ich. »Dort gibt es Delfine, Möwen, Kormorane und Seeotter, auch Walfische, aber keine Wolken.«
»Vielleicht ist es ein Walfisch.«
Ramo trat von einem Fuß auf den anderen, während er zuschaute, wie das Schiff näherkam. Er wusste nicht, dass es ein Schiff war, denn er hatte noch nie eines gesehen. Auch ich hatte noch nie eines gesehen, aber ich wusste, wie Schiffe aussahen, weil mein Vater sie mir beschrieben hatte.
»Schau du nur ruhig aufs Meer hinaus«, sagte ich, »ich grabe inzwischen nach Wurzeln. Und ich werde sie aufessen und du bekommst nichts davon.«
Ramo begann mit seinem Stock auf den Boden zu schlagen, doch obgleich er die ganze Zeit so tat, als schaute er nicht hin, ließ er das Schiff nicht aus den Augen. Es kam immer näher und seine Segel schimmerten rot durch den Morgendunst.
»Hast du schon einmal einen roten Walfisch gesehen? «, fragte er.
»Ja«, sagte ich, aber das war gelogen.
»Die Walfische, die ich gesehen habe, sind grau.«
»Du bist sehr jung und hast noch längst nicht alles, was im Meer schwimmt, gesehen.«
Ramo hob eine Wurzel vom Boden auf und wollte sie eben in den Korb fallen lassen, als er plötzlich den Mund weit aufriss und dann langsam wieder schloss.
»Ein Kanu!«, schrie er. »Ein Riesenkanu, größer als alle unsere Kanus zusammen. Und rot!«
Ob Kanu oder Schiff, für Ramo gab's da keine Unterschiede. Im nächsten Augenblick hatte er die Wurzel in die Luft geschleudert und war verschwunden. Lärmend und rufend bahnte er sich einen Weg durchs Gestrüpp. Ich stocherte weiter, doch meine Hände zitterten, denn ich war noch aufgeregter als mein Bruder. Ich wusste, dass das dort unten kein großes Kanu, sondern ein Schiff war, und ein Schiff konnte vieles bedeuten. Am liebsten hätte ich den Stock weggeworfen, um hinter meinem Bruder her ins Dorf zu laufen; stattdessen arbeitete ich weiter, weil wir zum Essen nun einmal Wurzeln brauchten.
In der Zeit, da ich den Korb füllte, hatte das Aleuterschiff die breite Salzkrautbank vor unserer Insel umsegelt und war zwischen den beiden Felsen, welche die Korallenbucht abschließen, in den Hafen eingelaufen. Die Kunde von seinem Erscheinen war schon bis ins Dorf Ghalas-at gedrungen. Unsere Männer liefen mit ihren Waffen den gewundenen Pfad zur Küste hinunter, während sich die Frauen am Rande der Mesa zusammenscharten.
Ich arbeitete mich durch das Dickicht und stolperte dann die steile Schlucht hinab, bis ich die Klippen erreichte. Dort ließ ich mich auf Hände und Knie fallen. Unter mir lag die Bucht. Es war Ebbe und die Sonne glänzte auf dem weißen Küstensand. Etwa die Hälfte der Männer unseres Stammes hatte sich am Rande des Wassers versammelt; die übrigen hielten sich zwischen den Felsbrocken am Fuße des Pfades verborgen, bereit, über die Eindringlinge herzufallen, wenn sich deren Absichten als unfreundlich erweisen sollten.
Wie ich da in den Toyonbüschen kauerte, eben noch weit genug vom Klippenrand entfernt, um nicht hinunterzufallen, und doch so nahe, dass ich alles, was unter mir vorging, sehen und hören konnte, stieß ein Boot vom Schiff ab. Sechs Männer mit langen Rudern trieben es voran. Ihre Gesichter waren breit und glänzendes schwarzes Haar fiel ihnen in die Stirn. Als sie näher kamen, sah ich, dass sie Knochenspieße durch ihre Nasen gesteckt hatten.
Zuhinterst im Boot stand ein großer Mann mit einem gelben Bart. Ich hatte noch nie einen Russen gesehen, aber mein Vater hatte mir von den Russen erzählt, und als ich sah, wie der Mann im Boot dastand, die Füße gespreizt, die Fäuste in die Hüften gestützt, den Blick auf den kleinen Hafen gerichtet, als hätte er bereits davon Besitz ergriffen, fragte ich mich, ob er wohl einer jener Männer aus dem Norden war, die unser Volk fürchtete. Ich zweifelte nicht mehr daran, als das Boot an Land kam und der Mann rufend heraussprang.
Seine Stimme hallte von den felsigen Wänden der Bucht wider. Es waren seltsame Worte, wie ich sie nie zuvor gehört hatte. Dann sagte er langsam etwas in unserer Sprache.
»Ich komme im Frieden und will mit euch verhandeln «, sagte er zu den Männern an der Küste.
Keiner antwortete, doch dann trat zwischen den Felsblöcken mein Vater hervor. Er schritt den Abhang hinunter und warf seinen Speer in den Sand.
»Ich bin der Häuptling von Ghalas-at«, sagte er. »Ich bin der Häuptling Chowig.«
Dass er einem Fremden seinen richtigen Namen nannte, überraschte mich. Jeder Angehörige unseres Stammes hatte zwei Namen, den richtigen, der geheim war und selten benutzt wurde, und einen gewöhnlichen. Wenn der geheime Name ständig gebraucht wird, nutzt er sich ab und verliert seine Zauberkraft. Mich nannte man Won-a-pa-lei, »das Mädchen mit dem langen schwarzen Haar«, aber mein geheimer Name ist Karana. Der geheime Name meines Vaters war Chowig. Ich weiß nicht, warum er ihn einem Fremden verriet.
Der Russe lächelte, hob die Hand und sagte, er sei Kapitän Orloff. Auch mein Vater hob die Hand, doch obgleich ich sein Gesicht nicht sehen konnte, war ich sicher, dass er nicht lächelte.
»Ich bin mit vierzig Leuten gekommen«, sagte der Russe. »Wir sind gekommen, um Seeotter zu jagen. Wir möchten uns auf eurer Insel niederlassen, solange die Jagd dauert.«
Mein Vater antwortete nicht. Er war groß, wenn auch nicht ganz so groß wie Kapitän Orloff, und er reckte die bloßen Schultern, während er über die Worte des Russen nachdachte. Er ließ sich Zeit. Einmal schon waren die Aleuter gekommen, um Seeotter zu jagen. Das war lange her, doch mein Vater konnte sich noch immer daran erinnern.
»Du denkst an jene anderen Jäger zurück«, sagte Kapitän Orloff, als mein Vater beharrlich schwieg. »Ich habe von der Geschichte gehört. Es geschah unter Kapitän Mitriff. Mitriff war ein Narr und jetzt ist er tot. Aber du und dein Stamm, ihr habt alle Otter allein gejagt und deshalb nahm die Jagd kein gutes Ende.«
»Wir jagten«, antwortete mein Vater, »aber der, den du einen Narren nennst, hat es so gewollt. Er hieß uns von einem Mond bis zum anderen jagen, ohne Pause.«
»Wir werden euch nichts tun heißen«, sagte Kapitän Orloff. »Meine Leute werden jagen und wir werden uns die Beute teilen. Ein Drittel für euch, zahlbar in Waren, zwei Drittel für uns.«
»Die Anteile müssen gleich groß sein«, sagte mein Vater.
Kapitän Orloff starrte aufs Meer hinaus. »Darüber können wir später reden, wenn meine Vorräte an Land geschafft sind«, erwiderte er.
Der Morgen war klar und die Winde wehten sanft, aber in dieser Zeit des Jahres musste man stets auf Stürme gefasst sein. Ich wusste, weshalb der Russe auf unserer Insel landen wollte.
»Es ist besser, wir werden uns jetzt schon einig«, erklärte mein Vater.
Kapitän Orloff entfernte sich mit zwei langen Schritten, dann drehte er sich um und schaute meinen Vater an.
»Ein Drittel für euch ist ein anständiges Angebot, da wir doch die Arbeit und die Gefahr auf uns nehmen. « Mein Vater schüttelte den Kopf.
Der Russe griff sich in den Bart. »Das Meer ist nicht euer Eigentum. Ich weiß nicht, warum ich euch überhaupt beteiligen soll.«
»Das Meer, das die Insel der blauen Delfine umgibt, gehört uns«, antwortete mein Vater.
Er sprach leise, wie immer, wenn er zornig war.
»Du meinst von hier bis zur Küste von Santa Barbara - die ganzen zwanzig Seemeilen?«
»Nein, nur das Wasser, das an die Insel stößt und wo die Otter leben.«
Kapitän Orloff räusperte sich. Er schaute die Männer an, die am Strand standen, und dann die anderen, die jetzt zwischen den Felsblöcken hervorkamen. Er schaute meinen Vater an und zuckte die Achseln. Mit einem Male lächelte er, wobei er seine langen Zähne zeigte.
»Die Anteile sollen gleich groß sein«, sagte er.
Er sagte noch mehr, doch ich hörte es nicht, denn in meiner Aufregung stieß ich an einen losen Stein, der klirrend hinunterfiel und zu Füßen des Fremden aufschlug. Alle Leute am Strand blickten auf. Ich kroch leise durch die Toyonbüsche davon. Auf halbem Weg begann ich zu laufen und ich lief, ohne ein einziges Mal Atem zu schöpfen, bis ich auf der Mesa ankam.
2
An jenem Morgen begannen Kapitän Orloff und seine Aleuterjäger, sich auf der Insel häuslich einzurichten. Ihre Kanus pendelten stundenlang zwischen dem Schiff und der Korallenbucht hin und her. Da der Strand klein war und bei Flut fast ganz unter Wasser stand, fragte der Russe, ob er seine Zelte weiter oben aufschlagen dürfe. Mein Vater erlaubte es ihm.
Es ist jetzt wohl an der Zeit, dass ich euch von unserer Insel erzähle, damit ihr wisst, wie sie aussieht, wo unser Dorf stand und wo die Aleuter mehr als einen halben Sommer lang hausten.
Unsere Insel ist zwei Seemeilen lang und eine Meile breit. Stand man auf einem der Hügel, die sich in ihrer Mitte erheben, dann musste man an einen Fisch denken. Sie sah aus wie ein Delfin, der auf der Seite liegt. Der Schwanz des Delfins zeigte nach der aufgehenden Sonne, seine Nase nach der untergehenden Sonne und seine Flossen waren die Riffe und zackigen Felsen längs der Küste. Ob in den Tagen, da die Erde noch neu war, wirklich ein Mensch auf einem dieser Hügel stand und sah, dass die Insel die Gestalt eines Delfins hatte, und ob er ihr deshalb ihren Namen gab, weiß ich nicht. In unseren Gewässern leben viele Delfine und auch das könnte der Grund sein, weshalb die Insel so heißt.
Ichglaube, das Erste, was ihr auf unserer Insel bemerken würdet, wäre der Wind. Er weht hier fast immer. Manchmal kommt er aus Nordwest, manchmal aus Ost, hier und da auch aus dem Süden. Sanft ist nur der Südwind; alle anderen Winde fegen heftig über die Insel. Deshalb sind die Hügel so blank gescheuert und die Bäume so klein und krumm, sogar in der Schlucht, die zur Korallenbucht hinunterführt.
Das Dorf Ghalas-at liegt an der Ostseite der Hügel, auf einer kleinen Ebene gleich oberhalb der Korallenbucht und in der Nähe einer Quelle. Etwa eine halbe Seemeile weiter nördlich sprudelt eine zweite Quelle und dort schlugen die Aleuter ihre Zelte auf. Diese waren aus Tierhäuten angefertigt und so niedrig, dass die Männer auf dem Bauch hineinkriechen mussten. Wenn es dunkelte, konnten wir den Schein ihrer Lagerfeuer sehen. Am ersten Abend warnte mein Vater alle Dorfbewohner von Ghalas-at davor, das Lager zu betreten.
»Die Aleuter kommen aus einem Land im fernen Norden«, sagte er. »Ihre Art ist nicht unsere Art, ihre Sprache nicht unsere Sprache. Sie sind gekommen, um Otter zu jagen, und sie werden uns den Anteil, der uns zusteht, mit Dingen bezahlen, die sie besitzen und die wir brauchen können. So werden wir einen Gewinn von ihnen haben. Wir werden aber keinen Gewinn von ihnen haben, wenn wir ihre Freundschaft suchen. Sie sind Menschen, die nicht wissen, was Freundschaft ist. Es sind nicht dieselben, die schon einmal hier waren, aber sie gehören dem gleichen Stamm an, der uns vor vielen Jahren großes Unheil brachte.«
Die warnenden Worte meines Vaters wurden beherzigt. Wir gingen nicht ins Lager der Aleuter und sie kamen nicht in unser Dorf. Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, wir hätten nicht gewusst, was sie taten - was sie aßen und wie sie ihre Mahlzeiten zubereiteten und wie viele Otter sie jeden Tag erlegten und noch manches andere -, denn immer hielt jemand Wache und beobachtete sie. Wenn sie jagten, stand einer von uns auf den Klippen; wenn sie ins Lager zurückkehrten, bezogen die Späher ihren Posten in der Schlucht.
Mein Bruder Ramo wusste immer etwas Neues zu berichten.
»Am Morgen«, sagte er, »wenn Kapitän Orloff aus seinem Zelt kriecht, setzt er sich auf einen Stein und kämmt sich den Bart, bis er glänzt wie der Flügel eines Kormorans.«
Meine Schwester Ulape, die zwei Jahre älter war als ich, brachte die sonderbarste Neuigkeit nach Hause. Sie könne beschwören, sagte sie, dass die Jäger ein Aleutermädchen bei sich hätten.
»Sie hat ein Kleid aus Häuten an, genau wie die Männer«, sagte Ulape. »Aber sie trägt eine Pelzmütze und unter der Mütze hat sie eine Menge Haar. Es reicht ihr bis zum Gürtel.«
Keiner glaubte ihr. Alles lachte beim Gedanken, dass es Jägern einfallen könnte, ihre Frauen mitzunehmen. Auch die Aleuter beobachteten unser Dorf; wie hätten sie sonst von dem Glück erfahren, das uns bald nach ihrer Ankunft beschieden wurde?
Mit diesem Glück verhielt es sich so:
Wenn es Frühling wird, ist mit dem Fischfang nicht viel auszurichten. Die Hochflut und die Winterwinde treiben die Fische ins tiefe Wasser, wo sie bleiben, bis das warme Wetter anhält. In dieser Zeit lassen sie sich nur mit Mühe fangen und im Dorf gibt es wenig zu essen. Die Bewohner leben zur Hauptsache von ihren Vorräten an Saatkörnern.
Die frohe Nachricht erreichte uns an einem stürmischen Nachmittag. Ulape, die nie müßig war, überbrachte sie uns. Sie war ans östliche Ende der Insel gegangen, um Muscheln zu sammeln. Als sie auf dem Heimweg eine Klippe erklomm, hörte sie einen sonderbaren Lärm.
Erst wusste sie nicht, was dieses Geräusch bedeutete. Sie glaubte, es sei das Echo des Windes in einer Felsenhöhle, und sie wollte schon weiterklettern, als sie die silbernen Gestalten in der Tiefe erblickte. Die Gestalten bewegten sich und Ulape sah, dass es ein Rudel riesiger Bassbarsche war. Jeder Barschmochte etwa so groß sein wie sie. Verfolgt von räuberischen Walen, hatten die Barsche in der Richtung der Küste zu entkommen versucht. In ihrer Todesangst aber hatten sie die Wassertiefe falsch eingeschätzt und waren an das felsige Uferband geschleudert worden.
Ulape ließ ihren Muschelkorb fallen und lief ins Dorf, wo sie so atemlos eintraf, dass sie nur noch mit der Hand auf die Küste deuten konnte. Die Frauen, die eben mit Kochen beschäftigt waren, kamen aus ihren Hütten, umringten meine Schwester und warteten, bis sie wieder genügend Atem fand, um zu sprechen. »Weiße Barsche, ein ganzes Rudel«, stieß Ulape endlich hervor.
»Wo? Wo?«, fragten alle.
»Auf den Küstenfelsen. Mindestens ein Dutzend, vielleicht sogar mehr.«
Ehe Ulape zu Ende gesprochen hatte, liefen wir schon auf die Klippen zu. Wir hofften inständig, dass wir nicht zu spät kommen würden, dass die Fische nicht ins Meer zurückgeschwemmt oder von einer Welle hinuntergespült worden wären.
Von der Klippe aus schauten wir hinab in die Bucht. Die weißen Barsche waren immer noch auf dem Felsenabsatz versammelt, sie glitzerten in der Sonne. Doch die Flut stand hoch und die größten Wellen leckten schon nach den Fischen.
Wir zerrten einen um den anderen Fisch von der Stelle, wo die Flut sie erreichen konnte. Dann schleppten wir sie auf die Klippe, wobei je zwei Frauen einen Fisch trugen, alle Fische waren ungefähr gleich groß und gleich schwer. Von dort brachten wir die Beute nach Hause.
An diesem und am folgenden Abend konnte sich jeder Angehörige unseres Stammes wieder einmal satt essen, doch am dritten Tag kamen zwei Aleuter ins Dorf und verlangten meinen Vater zu sprechen.
»Ihr habt Fische«, sagte der eine.
»Gerade genug für meine Leute«, antwortete mein Vater.
»Ihr habt vierzehn Fische«, sagte der Aleuter.
»Jetzt noch sieben, weil wir sieben gegessen haben. «
»Zwei von den sieben Fischen könnt ihr entbehren. «
»In eurem Lager sind vierzig Leute«, erwiderte mein Vater. »Bei uns sind es mehr. Und ihr habt eure eigenen Fische mitgebracht, getrocknete Fische für vierzig Leute.«
»Sie sind uns verleidet«, antwortete der Aleuter.
Er war ein Mann von kleiner Gestalt. Er reichte meinem Vater nur bis zur Schulter und er hatte kleine Augen wie schwarze Kiesel und einen Mund wie die Klinge eines Steinmessers. Der andere Aleuter sah ihm sehr ähnlich.
»Ihr seid Jäger«, sagte mein Vater. »Geht und fangt euren eigenen Fisch, wenn ihr doch das, was ihr jetzt esst, satthabt. Ich muss an meine Leute denken.«
»Kapitän Orloff wird erfahren, dass ihr euch weigert, eure Fische mit uns zu teilen.«
»Ja, sagt es ihm«, gab mein Vater zurück. »Aber sagt ihm auch, warum wir uns weigern.«
Der Aleuter raunte seinem Gefährten etwas zu, dann stelzten beide auf ihren kurzen Beinen davon, quer durch die Sanddünen, die unser Dorf von ihrem Lager trennten.
Am Abend aßen wir alles auf, was von dem Rudel weißer Barsche übrig geblieben war, und es war ein großes Fest. Wie hätten wir wissen können, als wir da so fröhlich aßen und sangen, den Geschichten der alten Männer lauschten und uns des Glückes freuten, das uns so unvermutet in den Schoß gefallen war - wie hätten wir wissen können, dass dieses Glück bald so viel Leid über das Dorf Ghalas-at bringen würde?
3
Die breiten Salzkrautbänke umgeben unsere Insel von drei Seiten. Auf der einen Seite reichen sie bis nahe an die Küste heran, auf der anderen dehnen sie sich eine Meile weit ins Meer hinaus. In diesen tiefen Beeten jagten die Aleuter Tag für Tag, selbst wenn der Wind heftig blies. Sie ruderten im Morgengrauen hinaus und kehrten erst am späten Abend zurück, die erlegten Otter hinter sich nachschleppend.
Der Seeotter sieht, wenn er schwimmt, einem Seehund sehr ähnlich; in Wirklichkeit aber ist er ganz anders. Er hat eine kürzere Nase und kleine Füße mit Schwimmhäuten statt Flossen, sein Fell ist dicker und viel schöner. Der Otter liebt es, auf dem Rücken in den Salzkrautpolstern zu liegen, sich von den Wellen schaukeln zu lassen und in der Sonne zu schlafen. Es gibt keine lustigeren Tiere im Meer als die Seeotter.
Die Aleuter jagten sie, weil sie es auf ihre Felle abgesehen hatten.
Von der Klippe aus sah ich zu, wie die Häutekanus über den Salzkrautbänken hin und her flitzten, wobei sie das Wasser kaum berührten, und wie die langen Speere flogen, als wären sie Pfeile. Nachts brachten die Jäger ihre Beute in die Korallenbucht. Dort wurden die Tiere gehäutet und ausgenommen. Diese Arbeit wurde von zwei Männern besorgt, die auch die Speere schärften. Sie arbeiteten im Schein der Seetangfeuer bis tief in die Nacht hinein. Am Morgen war der Strand von Skeletten übersät und die Wellen glänzten rot von Blut.
Es gab viele in unserem Dorf, die jede Nacht zur Klippe gingen, um die getöteten Otter zu zählen. Sie zählten die toten Otter und dachten an die glitzernden Glasperlen und an die vielen anderen Dinge, die ihnen ein einziges Otterfell verschaffen konnte. Ich ging nie zur Bucht und jedes Mal, wenn ich die Jäger mit ihren langen Speeren über das Wasser stieben sah, wurde ich zornig, denn die Otter waren meine Freunde. Es machte mir Vergnügen, ihnen beim Spielen zuzusehen. Es machte mir mehr Spaß, als an eine Kette aus Glasperlen für meinen Hals zu denken.
Dies sagte ich eines Morgens meinem Vater.
»In den Bänken bei der Korallenbucht sind kaum ein Dutzend Seeotter übrig geblieben«, fügte ich hinzu. »Bevor die Aleuter kamen, waren es viele.«
Mein Vater lachte über meine Torheit. »Rings um die Insel gibt es noch viele andere Orte, wo eine Menge Seeotter leben«, antwortete er. »Sobald die Jäger fort sind, kommen sie zurück.«
»Ich glaube nicht, dass welche übrig bleiben«, sagte ich. »Die Jäger töten sie alle. Heute jagen sie im Süden, nächste Woche an einem anderen Ort.«
»Das Schiff ist mit Fellen beladen. In einer Woche werden die Aleuter aufbrechen.«
Copyright @ Deutsche Verlags Anstalt
Mein Bruder redete gerne so, als wäre etwas nicht das, was es war, sondern etwas anderes.
»Das Meer ist kein Stein, der keinen Kratzer hat«, sagte ich. »Es ist Wasser, das keine Wellen schlägt.«
»Für mich ist es ein blauer Stein«, sagte er. »Und ganz außen am Rand des Steins sitzt eine kleine Wolke.«
»Wolken sitzen nicht auf Steinen. Nicht auf blauen und nicht auf schwarzen und nicht auf irgendwelchen Steinen.«
»Dort sitzt aber eine.«
»Nicht auf dem Meer«, antwortete ich. »Dort gibt es Delfine, Möwen, Kormorane und Seeotter, auch Walfische, aber keine Wolken.«
»Vielleicht ist es ein Walfisch.«
Ramo trat von einem Fuß auf den anderen, während er zuschaute, wie das Schiff näherkam. Er wusste nicht, dass es ein Schiff war, denn er hatte noch nie eines gesehen. Auch ich hatte noch nie eines gesehen, aber ich wusste, wie Schiffe aussahen, weil mein Vater sie mir beschrieben hatte.
»Schau du nur ruhig aufs Meer hinaus«, sagte ich, »ich grabe inzwischen nach Wurzeln. Und ich werde sie aufessen und du bekommst nichts davon.«
Ramo begann mit seinem Stock auf den Boden zu schlagen, doch obgleich er die ganze Zeit so tat, als schaute er nicht hin, ließ er das Schiff nicht aus den Augen. Es kam immer näher und seine Segel schimmerten rot durch den Morgendunst.
»Hast du schon einmal einen roten Walfisch gesehen? «, fragte er.
»Ja«, sagte ich, aber das war gelogen.
»Die Walfische, die ich gesehen habe, sind grau.«
»Du bist sehr jung und hast noch längst nicht alles, was im Meer schwimmt, gesehen.«
Ramo hob eine Wurzel vom Boden auf und wollte sie eben in den Korb fallen lassen, als er plötzlich den Mund weit aufriss und dann langsam wieder schloss.
»Ein Kanu!«, schrie er. »Ein Riesenkanu, größer als alle unsere Kanus zusammen. Und rot!«
Ob Kanu oder Schiff, für Ramo gab's da keine Unterschiede. Im nächsten Augenblick hatte er die Wurzel in die Luft geschleudert und war verschwunden. Lärmend und rufend bahnte er sich einen Weg durchs Gestrüpp. Ich stocherte weiter, doch meine Hände zitterten, denn ich war noch aufgeregter als mein Bruder. Ich wusste, dass das dort unten kein großes Kanu, sondern ein Schiff war, und ein Schiff konnte vieles bedeuten. Am liebsten hätte ich den Stock weggeworfen, um hinter meinem Bruder her ins Dorf zu laufen; stattdessen arbeitete ich weiter, weil wir zum Essen nun einmal Wurzeln brauchten.
In der Zeit, da ich den Korb füllte, hatte das Aleuterschiff die breite Salzkrautbank vor unserer Insel umsegelt und war zwischen den beiden Felsen, welche die Korallenbucht abschließen, in den Hafen eingelaufen. Die Kunde von seinem Erscheinen war schon bis ins Dorf Ghalas-at gedrungen. Unsere Männer liefen mit ihren Waffen den gewundenen Pfad zur Küste hinunter, während sich die Frauen am Rande der Mesa zusammenscharten.
Ich arbeitete mich durch das Dickicht und stolperte dann die steile Schlucht hinab, bis ich die Klippen erreichte. Dort ließ ich mich auf Hände und Knie fallen. Unter mir lag die Bucht. Es war Ebbe und die Sonne glänzte auf dem weißen Küstensand. Etwa die Hälfte der Männer unseres Stammes hatte sich am Rande des Wassers versammelt; die übrigen hielten sich zwischen den Felsbrocken am Fuße des Pfades verborgen, bereit, über die Eindringlinge herzufallen, wenn sich deren Absichten als unfreundlich erweisen sollten.
Wie ich da in den Toyonbüschen kauerte, eben noch weit genug vom Klippenrand entfernt, um nicht hinunterzufallen, und doch so nahe, dass ich alles, was unter mir vorging, sehen und hören konnte, stieß ein Boot vom Schiff ab. Sechs Männer mit langen Rudern trieben es voran. Ihre Gesichter waren breit und glänzendes schwarzes Haar fiel ihnen in die Stirn. Als sie näher kamen, sah ich, dass sie Knochenspieße durch ihre Nasen gesteckt hatten.
Zuhinterst im Boot stand ein großer Mann mit einem gelben Bart. Ich hatte noch nie einen Russen gesehen, aber mein Vater hatte mir von den Russen erzählt, und als ich sah, wie der Mann im Boot dastand, die Füße gespreizt, die Fäuste in die Hüften gestützt, den Blick auf den kleinen Hafen gerichtet, als hätte er bereits davon Besitz ergriffen, fragte ich mich, ob er wohl einer jener Männer aus dem Norden war, die unser Volk fürchtete. Ich zweifelte nicht mehr daran, als das Boot an Land kam und der Mann rufend heraussprang.
Seine Stimme hallte von den felsigen Wänden der Bucht wider. Es waren seltsame Worte, wie ich sie nie zuvor gehört hatte. Dann sagte er langsam etwas in unserer Sprache.
»Ich komme im Frieden und will mit euch verhandeln «, sagte er zu den Männern an der Küste.
Keiner antwortete, doch dann trat zwischen den Felsblöcken mein Vater hervor. Er schritt den Abhang hinunter und warf seinen Speer in den Sand.
»Ich bin der Häuptling von Ghalas-at«, sagte er. »Ich bin der Häuptling Chowig.«
Dass er einem Fremden seinen richtigen Namen nannte, überraschte mich. Jeder Angehörige unseres Stammes hatte zwei Namen, den richtigen, der geheim war und selten benutzt wurde, und einen gewöhnlichen. Wenn der geheime Name ständig gebraucht wird, nutzt er sich ab und verliert seine Zauberkraft. Mich nannte man Won-a-pa-lei, »das Mädchen mit dem langen schwarzen Haar«, aber mein geheimer Name ist Karana. Der geheime Name meines Vaters war Chowig. Ich weiß nicht, warum er ihn einem Fremden verriet.
Der Russe lächelte, hob die Hand und sagte, er sei Kapitän Orloff. Auch mein Vater hob die Hand, doch obgleich ich sein Gesicht nicht sehen konnte, war ich sicher, dass er nicht lächelte.
»Ich bin mit vierzig Leuten gekommen«, sagte der Russe. »Wir sind gekommen, um Seeotter zu jagen. Wir möchten uns auf eurer Insel niederlassen, solange die Jagd dauert.«
Mein Vater antwortete nicht. Er war groß, wenn auch nicht ganz so groß wie Kapitän Orloff, und er reckte die bloßen Schultern, während er über die Worte des Russen nachdachte. Er ließ sich Zeit. Einmal schon waren die Aleuter gekommen, um Seeotter zu jagen. Das war lange her, doch mein Vater konnte sich noch immer daran erinnern.
»Du denkst an jene anderen Jäger zurück«, sagte Kapitän Orloff, als mein Vater beharrlich schwieg. »Ich habe von der Geschichte gehört. Es geschah unter Kapitän Mitriff. Mitriff war ein Narr und jetzt ist er tot. Aber du und dein Stamm, ihr habt alle Otter allein gejagt und deshalb nahm die Jagd kein gutes Ende.«
»Wir jagten«, antwortete mein Vater, »aber der, den du einen Narren nennst, hat es so gewollt. Er hieß uns von einem Mond bis zum anderen jagen, ohne Pause.«
»Wir werden euch nichts tun heißen«, sagte Kapitän Orloff. »Meine Leute werden jagen und wir werden uns die Beute teilen. Ein Drittel für euch, zahlbar in Waren, zwei Drittel für uns.«
»Die Anteile müssen gleich groß sein«, sagte mein Vater.
Kapitän Orloff starrte aufs Meer hinaus. »Darüber können wir später reden, wenn meine Vorräte an Land geschafft sind«, erwiderte er.
Der Morgen war klar und die Winde wehten sanft, aber in dieser Zeit des Jahres musste man stets auf Stürme gefasst sein. Ich wusste, weshalb der Russe auf unserer Insel landen wollte.
»Es ist besser, wir werden uns jetzt schon einig«, erklärte mein Vater.
Kapitän Orloff entfernte sich mit zwei langen Schritten, dann drehte er sich um und schaute meinen Vater an.
»Ein Drittel für euch ist ein anständiges Angebot, da wir doch die Arbeit und die Gefahr auf uns nehmen. « Mein Vater schüttelte den Kopf.
Der Russe griff sich in den Bart. »Das Meer ist nicht euer Eigentum. Ich weiß nicht, warum ich euch überhaupt beteiligen soll.«
»Das Meer, das die Insel der blauen Delfine umgibt, gehört uns«, antwortete mein Vater.
Er sprach leise, wie immer, wenn er zornig war.
»Du meinst von hier bis zur Küste von Santa Barbara - die ganzen zwanzig Seemeilen?«
»Nein, nur das Wasser, das an die Insel stößt und wo die Otter leben.«
Kapitän Orloff räusperte sich. Er schaute die Männer an, die am Strand standen, und dann die anderen, die jetzt zwischen den Felsblöcken hervorkamen. Er schaute meinen Vater an und zuckte die Achseln. Mit einem Male lächelte er, wobei er seine langen Zähne zeigte.
»Die Anteile sollen gleich groß sein«, sagte er.
Er sagte noch mehr, doch ich hörte es nicht, denn in meiner Aufregung stieß ich an einen losen Stein, der klirrend hinunterfiel und zu Füßen des Fremden aufschlug. Alle Leute am Strand blickten auf. Ich kroch leise durch die Toyonbüsche davon. Auf halbem Weg begann ich zu laufen und ich lief, ohne ein einziges Mal Atem zu schöpfen, bis ich auf der Mesa ankam.
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An jenem Morgen begannen Kapitän Orloff und seine Aleuterjäger, sich auf der Insel häuslich einzurichten. Ihre Kanus pendelten stundenlang zwischen dem Schiff und der Korallenbucht hin und her. Da der Strand klein war und bei Flut fast ganz unter Wasser stand, fragte der Russe, ob er seine Zelte weiter oben aufschlagen dürfe. Mein Vater erlaubte es ihm.
Es ist jetzt wohl an der Zeit, dass ich euch von unserer Insel erzähle, damit ihr wisst, wie sie aussieht, wo unser Dorf stand und wo die Aleuter mehr als einen halben Sommer lang hausten.
Unsere Insel ist zwei Seemeilen lang und eine Meile breit. Stand man auf einem der Hügel, die sich in ihrer Mitte erheben, dann musste man an einen Fisch denken. Sie sah aus wie ein Delfin, der auf der Seite liegt. Der Schwanz des Delfins zeigte nach der aufgehenden Sonne, seine Nase nach der untergehenden Sonne und seine Flossen waren die Riffe und zackigen Felsen längs der Küste. Ob in den Tagen, da die Erde noch neu war, wirklich ein Mensch auf einem dieser Hügel stand und sah, dass die Insel die Gestalt eines Delfins hatte, und ob er ihr deshalb ihren Namen gab, weiß ich nicht. In unseren Gewässern leben viele Delfine und auch das könnte der Grund sein, weshalb die Insel so heißt.
Ichglaube, das Erste, was ihr auf unserer Insel bemerken würdet, wäre der Wind. Er weht hier fast immer. Manchmal kommt er aus Nordwest, manchmal aus Ost, hier und da auch aus dem Süden. Sanft ist nur der Südwind; alle anderen Winde fegen heftig über die Insel. Deshalb sind die Hügel so blank gescheuert und die Bäume so klein und krumm, sogar in der Schlucht, die zur Korallenbucht hinunterführt.
Das Dorf Ghalas-at liegt an der Ostseite der Hügel, auf einer kleinen Ebene gleich oberhalb der Korallenbucht und in der Nähe einer Quelle. Etwa eine halbe Seemeile weiter nördlich sprudelt eine zweite Quelle und dort schlugen die Aleuter ihre Zelte auf. Diese waren aus Tierhäuten angefertigt und so niedrig, dass die Männer auf dem Bauch hineinkriechen mussten. Wenn es dunkelte, konnten wir den Schein ihrer Lagerfeuer sehen. Am ersten Abend warnte mein Vater alle Dorfbewohner von Ghalas-at davor, das Lager zu betreten.
»Die Aleuter kommen aus einem Land im fernen Norden«, sagte er. »Ihre Art ist nicht unsere Art, ihre Sprache nicht unsere Sprache. Sie sind gekommen, um Otter zu jagen, und sie werden uns den Anteil, der uns zusteht, mit Dingen bezahlen, die sie besitzen und die wir brauchen können. So werden wir einen Gewinn von ihnen haben. Wir werden aber keinen Gewinn von ihnen haben, wenn wir ihre Freundschaft suchen. Sie sind Menschen, die nicht wissen, was Freundschaft ist. Es sind nicht dieselben, die schon einmal hier waren, aber sie gehören dem gleichen Stamm an, der uns vor vielen Jahren großes Unheil brachte.«
Die warnenden Worte meines Vaters wurden beherzigt. Wir gingen nicht ins Lager der Aleuter und sie kamen nicht in unser Dorf. Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, wir hätten nicht gewusst, was sie taten - was sie aßen und wie sie ihre Mahlzeiten zubereiteten und wie viele Otter sie jeden Tag erlegten und noch manches andere -, denn immer hielt jemand Wache und beobachtete sie. Wenn sie jagten, stand einer von uns auf den Klippen; wenn sie ins Lager zurückkehrten, bezogen die Späher ihren Posten in der Schlucht.
Mein Bruder Ramo wusste immer etwas Neues zu berichten.
»Am Morgen«, sagte er, »wenn Kapitän Orloff aus seinem Zelt kriecht, setzt er sich auf einen Stein und kämmt sich den Bart, bis er glänzt wie der Flügel eines Kormorans.«
Meine Schwester Ulape, die zwei Jahre älter war als ich, brachte die sonderbarste Neuigkeit nach Hause. Sie könne beschwören, sagte sie, dass die Jäger ein Aleutermädchen bei sich hätten.
»Sie hat ein Kleid aus Häuten an, genau wie die Männer«, sagte Ulape. »Aber sie trägt eine Pelzmütze und unter der Mütze hat sie eine Menge Haar. Es reicht ihr bis zum Gürtel.«
Keiner glaubte ihr. Alles lachte beim Gedanken, dass es Jägern einfallen könnte, ihre Frauen mitzunehmen. Auch die Aleuter beobachteten unser Dorf; wie hätten sie sonst von dem Glück erfahren, das uns bald nach ihrer Ankunft beschieden wurde?
Mit diesem Glück verhielt es sich so:
Wenn es Frühling wird, ist mit dem Fischfang nicht viel auszurichten. Die Hochflut und die Winterwinde treiben die Fische ins tiefe Wasser, wo sie bleiben, bis das warme Wetter anhält. In dieser Zeit lassen sie sich nur mit Mühe fangen und im Dorf gibt es wenig zu essen. Die Bewohner leben zur Hauptsache von ihren Vorräten an Saatkörnern.
Die frohe Nachricht erreichte uns an einem stürmischen Nachmittag. Ulape, die nie müßig war, überbrachte sie uns. Sie war ans östliche Ende der Insel gegangen, um Muscheln zu sammeln. Als sie auf dem Heimweg eine Klippe erklomm, hörte sie einen sonderbaren Lärm.
Erst wusste sie nicht, was dieses Geräusch bedeutete. Sie glaubte, es sei das Echo des Windes in einer Felsenhöhle, und sie wollte schon weiterklettern, als sie die silbernen Gestalten in der Tiefe erblickte. Die Gestalten bewegten sich und Ulape sah, dass es ein Rudel riesiger Bassbarsche war. Jeder Barschmochte etwa so groß sein wie sie. Verfolgt von räuberischen Walen, hatten die Barsche in der Richtung der Küste zu entkommen versucht. In ihrer Todesangst aber hatten sie die Wassertiefe falsch eingeschätzt und waren an das felsige Uferband geschleudert worden.
Ulape ließ ihren Muschelkorb fallen und lief ins Dorf, wo sie so atemlos eintraf, dass sie nur noch mit der Hand auf die Küste deuten konnte. Die Frauen, die eben mit Kochen beschäftigt waren, kamen aus ihren Hütten, umringten meine Schwester und warteten, bis sie wieder genügend Atem fand, um zu sprechen. »Weiße Barsche, ein ganzes Rudel«, stieß Ulape endlich hervor.
»Wo? Wo?«, fragten alle.
»Auf den Küstenfelsen. Mindestens ein Dutzend, vielleicht sogar mehr.«
Ehe Ulape zu Ende gesprochen hatte, liefen wir schon auf die Klippen zu. Wir hofften inständig, dass wir nicht zu spät kommen würden, dass die Fische nicht ins Meer zurückgeschwemmt oder von einer Welle hinuntergespült worden wären.
Von der Klippe aus schauten wir hinab in die Bucht. Die weißen Barsche waren immer noch auf dem Felsenabsatz versammelt, sie glitzerten in der Sonne. Doch die Flut stand hoch und die größten Wellen leckten schon nach den Fischen.
Wir zerrten einen um den anderen Fisch von der Stelle, wo die Flut sie erreichen konnte. Dann schleppten wir sie auf die Klippe, wobei je zwei Frauen einen Fisch trugen, alle Fische waren ungefähr gleich groß und gleich schwer. Von dort brachten wir die Beute nach Hause.
An diesem und am folgenden Abend konnte sich jeder Angehörige unseres Stammes wieder einmal satt essen, doch am dritten Tag kamen zwei Aleuter ins Dorf und verlangten meinen Vater zu sprechen.
»Ihr habt Fische«, sagte der eine.
»Gerade genug für meine Leute«, antwortete mein Vater.
»Ihr habt vierzehn Fische«, sagte der Aleuter.
»Jetzt noch sieben, weil wir sieben gegessen haben. «
»Zwei von den sieben Fischen könnt ihr entbehren. «
»In eurem Lager sind vierzig Leute«, erwiderte mein Vater. »Bei uns sind es mehr. Und ihr habt eure eigenen Fische mitgebracht, getrocknete Fische für vierzig Leute.«
»Sie sind uns verleidet«, antwortete der Aleuter.
Er war ein Mann von kleiner Gestalt. Er reichte meinem Vater nur bis zur Schulter und er hatte kleine Augen wie schwarze Kiesel und einen Mund wie die Klinge eines Steinmessers. Der andere Aleuter sah ihm sehr ähnlich.
»Ihr seid Jäger«, sagte mein Vater. »Geht und fangt euren eigenen Fisch, wenn ihr doch das, was ihr jetzt esst, satthabt. Ich muss an meine Leute denken.«
»Kapitän Orloff wird erfahren, dass ihr euch weigert, eure Fische mit uns zu teilen.«
»Ja, sagt es ihm«, gab mein Vater zurück. »Aber sagt ihm auch, warum wir uns weigern.«
Der Aleuter raunte seinem Gefährten etwas zu, dann stelzten beide auf ihren kurzen Beinen davon, quer durch die Sanddünen, die unser Dorf von ihrem Lager trennten.
Am Abend aßen wir alles auf, was von dem Rudel weißer Barsche übrig geblieben war, und es war ein großes Fest. Wie hätten wir wissen können, als wir da so fröhlich aßen und sangen, den Geschichten der alten Männer lauschten und uns des Glückes freuten, das uns so unvermutet in den Schoß gefallen war - wie hätten wir wissen können, dass dieses Glück bald so viel Leid über das Dorf Ghalas-at bringen würde?
3
Die breiten Salzkrautbänke umgeben unsere Insel von drei Seiten. Auf der einen Seite reichen sie bis nahe an die Küste heran, auf der anderen dehnen sie sich eine Meile weit ins Meer hinaus. In diesen tiefen Beeten jagten die Aleuter Tag für Tag, selbst wenn der Wind heftig blies. Sie ruderten im Morgengrauen hinaus und kehrten erst am späten Abend zurück, die erlegten Otter hinter sich nachschleppend.
Der Seeotter sieht, wenn er schwimmt, einem Seehund sehr ähnlich; in Wirklichkeit aber ist er ganz anders. Er hat eine kürzere Nase und kleine Füße mit Schwimmhäuten statt Flossen, sein Fell ist dicker und viel schöner. Der Otter liebt es, auf dem Rücken in den Salzkrautpolstern zu liegen, sich von den Wellen schaukeln zu lassen und in der Sonne zu schlafen. Es gibt keine lustigeren Tiere im Meer als die Seeotter.
Die Aleuter jagten sie, weil sie es auf ihre Felle abgesehen hatten.
Von der Klippe aus sah ich zu, wie die Häutekanus über den Salzkrautbänken hin und her flitzten, wobei sie das Wasser kaum berührten, und wie die langen Speere flogen, als wären sie Pfeile. Nachts brachten die Jäger ihre Beute in die Korallenbucht. Dort wurden die Tiere gehäutet und ausgenommen. Diese Arbeit wurde von zwei Männern besorgt, die auch die Speere schärften. Sie arbeiteten im Schein der Seetangfeuer bis tief in die Nacht hinein. Am Morgen war der Strand von Skeletten übersät und die Wellen glänzten rot von Blut.
Es gab viele in unserem Dorf, die jede Nacht zur Klippe gingen, um die getöteten Otter zu zählen. Sie zählten die toten Otter und dachten an die glitzernden Glasperlen und an die vielen anderen Dinge, die ihnen ein einziges Otterfell verschaffen konnte. Ich ging nie zur Bucht und jedes Mal, wenn ich die Jäger mit ihren langen Speeren über das Wasser stieben sah, wurde ich zornig, denn die Otter waren meine Freunde. Es machte mir Vergnügen, ihnen beim Spielen zuzusehen. Es machte mir mehr Spaß, als an eine Kette aus Glasperlen für meinen Hals zu denken.
Dies sagte ich eines Morgens meinem Vater.
»In den Bänken bei der Korallenbucht sind kaum ein Dutzend Seeotter übrig geblieben«, fügte ich hinzu. »Bevor die Aleuter kamen, waren es viele.«
Mein Vater lachte über meine Torheit. »Rings um die Insel gibt es noch viele andere Orte, wo eine Menge Seeotter leben«, antwortete er. »Sobald die Jäger fort sind, kommen sie zurück.«
»Ich glaube nicht, dass welche übrig bleiben«, sagte ich. »Die Jäger töten sie alle. Heute jagen sie im Süden, nächste Woche an einem anderen Ort.«
»Das Schiff ist mit Fellen beladen. In einer Woche werden die Aleuter aufbrechen.«
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Autoren-Porträt von Scott O'Dell
Scott O'Dell wurde 1898 in Los Angeles geboren und starb 1989. Geprägt durch die damals noch urwüchsige Landschaft Kaliforniens bilden Heimat, Kindheits- und Jugenderlebnisse nach seinen eigenen Angaben den Hintergrund seiner Jugendbücher. Er studierte an den Universitäten Occidental, Stanford und Wisconsin Psychologie, Geschichte und Englisch und arbeitete zunächst als Kameramann, dann als Journalist und als Herausgeber einer Zeitung. Im Mittelpunkt seiner Erzählungen stehen häufig historische Gestalten, die als Identifikationsfiguren angelegt sind. Neben seinen eigenen Erfahrungen bilden sehr umfangreiche Quellenstudien das Gerüst seiner Bücher. Sein erstes Buch 'The Island of the Blue Dolphins' (1960), dt. 'Insel der blauen Delphine' (dtv junior 7257), wurde ein Welterfolg, der auch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Es ist die Geschichte eines Indianermädchens, das, historisch nachgewiesen, von 1835 bis 1853 auf einer einsamen Insel im Pazifik lebte. Dieser Band wurde allein in elf Sprachen übersetzt. Scott O'Dells schriftstellerisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit der Newbery Medal und dem Hans-Christian-Andersen-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Scott O'Dell
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2010, 53. Aufl., 192 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Roswitha Plancherel-Walter
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423072571
- ISBN-13: 9783423072571
- Erscheinungsdatum: 01.02.2001
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