Lasset die Kinder zu mir kommen / Commissario Brunetti Bd.16
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Guido Brunetti lag an den Rücken seiner Frau geschmiegt und glitt sanft hinüber in den Schlaf der Gerechten. Er schwebte in jener nebelhaften Sphäre zwischen Traum und Wachen und mochte das Hochgefühl, das ihm dieser Tag beschert hatte, nur ungern loslassen. Sein Sohn hatte beim Abendessen beiläufig und ohne den erleichterten Blickwechsel seiner Eltern zu bemerken, einen seiner Klassenkameraden für ziemlich blöd erklärt, weil der mit Drogen experimentierte. Seine Tochter hatte sich bei ihrer Mutter für eine patzige Bemerkung vom Vortag entschuldigt, und die Worte »Berg« und »Prophet« drängten sich schemenhaft in Brunettis Bewußtsein. Seine Frau endlich, mit der er seit über zwanzig Jahren glücklich verheiratet war, hatte ihn mit einem Ansturm amourösen Verlangens überrascht, der ihn so erregte, daß diese zwei Jahrzehnte wie ausgelöscht waren.
Brunetti ließ sich treiben, vollauf zufrieden und begierig, alles noch einmal Revue passieren zu lassen. Die freiwillige Reue eines Teenagers: Sollte er die Presse alarmieren? Noch mehr allerdings wunderte er sich über Paolas Beteuerung, daß Chiara ihre Entschuldigung ganz uneigennützig und ohne nach irgendeiner Gegenleistung zu schielen, vorgebracht habe. Chiara war bestimmt klug genug, um zu wissen, wie gut ein solcher Trick funktioniert hätte, aber Brunetti zog es vor, seiner Frau zu glauben, die ihm versicherte, für so was sei ihre Tochter schlicht zu aufrichtig.
War das die größte Illusion, überlegte er, der Glaube an die Aufrichtigkeit unserer Kinder? Die Frage entglitt ihm unbeantwortet, und er schlief langsam ein.
Das Telefon schrillte.
Es klingelte fünfmal, ehe Brunetti sich mit der dumpfen Stimme eines Betäubten oder
»Ich bin’s, Vianello«, sagte die vertraute Stimme am anderen Ende. »Ich bin im Ospedale Civile. Wir haben ein Problem am Hals.«
Brunetti setzte sich auf und machte Licht. Nicht nur Via nel los Nachricht, sondern auch sein eindringlicher Ton sag te ihm, daß er wohl keine andere Wahl hatte, als dem Inspektor ins Krankenhaus zu folgen. »Was für ein Problem?«
»Einer der Mediziner hier, ein Kinderarzt, liegt in der Notaufnahme, und seine Kollegen befürchten eine Hirnschädigung.« Auch in weniger benommenem Zustand hätte Brunetti sich darauf keinen Reim machen können, aber da er wußte, daß Vianello rasch auf den Punkt kommen würde, fragte er nicht nach.
»Er wurde in seiner Wohnung überfallen«, fuhr der Inspektor fort. Dann, nach längerer Pause, setzte er hinzu: »Von der Polizei.«
»Von uns?« fragte Brunetti verblüfft.
»Nein, von den Carabinieri. Sie sind bei ihm eingedrungen und wollten ihn festnehmen. Der verantwortliche Hauptmann sagt, der Arzt hätte einen seiner Männer angegriffen«, erklärte Vianello. Brunetti kniff die Augen zusammen, während der Inspektor ergänzte: »Aber es ist ja klar, daß er sich auf so was rausredet, nicht wahr?«
»Zu wie vielen waren sie denn?« wollte Brunetti wissen.
»Zu fünft«, antwortete Vianello. »Drei im Haus und zwei draußen als Verstärkung.«
Brunetti stieg aus dem Bett. »Ich bin in zwanzig Minuten da.« Dann fragte er: »Weißt du, warum die Carabinieri dort waren?«
Vianellos Antwort kam zögernd. »Sie wollten seinen Sohn rausholen. Ein Baby von achtzehn Monaten, adoptiert. Laut den Carabinieri illegal.«
»In zwanzig Minuten«, wiederholte Brunetti und legte auf.
Erst als er aus dem Haus trat, vergewisserte sich der Commissario, wie spät es war. Viertel nach zwei. Die erste Herbstkühle schlug ihm entgegen, und er war froh, daß er daran gedacht hatte, eine Jacke überzuziehen. Am Ende der calle bog er rechts ab, Richtung Rialto. Wahrscheinlich hätte er ein Polizeiboot anfordern sollen, aber man wußte nie, wie lange die brauchten, wogegen Brunetti die Strecke zu Fuß auf die Minute genau taxieren konnte.
© Diogenes Verlag Übersetzung: Christa E. Seibicke
Die Erfinderin des berühmten Commissario Brunetti wurde 1942 in New Jersey geboren. Schon früh machte sich ihr Fernweh bemerkbar. Als sie 1965 eine Freundin auf einer Italienreise begleitete, beschloss sie, Amerika den Rücken zu kehren und in Perugia und Siena zu studieren. Donna Leon lebt seit dieser Zeit ständig im Ausland. Sie arbeitete unter anderem als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London. Später unterrichtete sie an amerikanischen Schulen in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien. 1981 gab sie ihr Nomadenleben auf und ließ sich in Venedig nieder. Zur Zeit hat sie eine Professur für englische und amerikanische Literatur in Vicenza inne.
Leons erster Kriminalroman mit der Figur des Commissario Brunetti erschien 1993 und wurde mit dem japanischen Suntory-Preis ausgezeichnet. Inspiriert wurde Leon dazu in der Oper. Als sie mit einem Bekannten eine Probe im venezianischen Opernhaus besuchte, meinte dieser: „Ich könnte den Dirigenten umbringen!“ „Ich mach’s für dich“, antwortete Leon, „aber in einem Roman.“ So entstand „Venezianisches Finale“. Seitdem hat Leon jedes Jahr einen Brunetti-Krimi geschrieben und den sympathischen Kommissar zu einer der bekanntesten Kriminalfiguren in der Literatur gemacht. Für die ARD wurden bereits mehrere Folgen mit Joachim Król in der Rolle des Brunetti sehr erfolgreich verfilmt. „Sanft entschlafen“, hatte beispielsweise über sieben Millionen Zuschauer. Fortsetzung folgt, garantiert!
Wie entsteht ein Donna Leon-Krimi. Können Sie uns ein bisschen aus Ihrer „Werkstatt“ erzählen?
Meine Schreibmethode ist ziemlich einfach. Ich beginne mit einem Verbrechen, und dann verwende ich 300 Seiten darauf, zu schildern, wer es begangen haben könnte und warum.
Brunetti prangert präzise und manchmal sarkastisch die politischen Verhältnisse in Italien an – die Korruption, den Filz und den Waffenhandel. Spricht aus ihm eigentlich auch ein bisschen Donna Leon?
Wenn Sie glauben, dass ich mich hier über Italien äußere, dann sollten Sie mich mal über die Vereinigten Staaten reden hören. Es ist eine große Freude und ein großes Glück für mich, in Italien leben zu dürfen. Wenn ich Geschichten aus anderen Ländern höre, dann ist da auch einiges dabei an Korruption, Filz und Waffenhandel.
In den letzten beinahe anderthalb Jahrzehnten, in denen Sie Krimis schreiben, haben Sie immer auch staatliche und kirchliche Institutionen ins Visier genommen. Ist Ihnen das persönlich übel genommen wurden? Wurden Sie jemals bedroht?
Bedroht? In Italien? Sie machen wohl Scherze! Anders als in meinem Heimatland können die Leute in Italien schreiben und sagen, was sie wollen.
In der Zeichnung Ihrer Charaktere sind Sie immer nah an einer plausiblen Realität. Dies bezieht sich durchaus auch auf die negativen Eigenschaften der Protagonisten. Ist Commissario Brunetti eine Ausnahme? Wofür steht der gute, kluge Kommissar?
Gott im Himmel, wofür steht eine Person denn schon? Ich glaube, für sehr wenig. Wir gehen einfach durch unser Leben und bemühen uns darum, es angenehm und anständig zu verbringen. Und ein paar negative Eigenschaften hat Brunetti doch auch: Er mag zum Beispiel die Süditaliener
Die „heile Welt“ der Familie Brunetti steht in einem starken Kontrast zu den Verbrechen, die in und um Venedig herum passieren. Welchen Stellenwert hat das detailliert geschilderte Familienleben für ihre Bücher?
Die Familie ist der Ruhepol im Leben von Brunetti. Ich glaube, jemand, der eine Arbeit wie Brunetti macht, braucht so etwas. Außerdem muss ich doch dem Leser plausibel machen, warum Brunetti ein ehrenwerter Mann bleibt. Meiner Meinung nach trägt die Familie sehr viel dazu bei.
Sie sagten einmal, Sie hätten keinen Fernseher zu Hause und würden auch nicht ins Kino gehen. Was halten Sie grundsätzlich von Romanverfilmungen?
Es stimmt, was ich gesagt habe. Ich habe keinen Fernseher, hatte auch nie einen. Und ich gehe höchst selten ins Kino. Deshalb kann ich Ihre Frage leider auch nicht beantworten.
Die Fragen stellte Mathias Voigt, Literaturtest.
- Autor: Donna Leon
- 2009, 02. Aufl., 368 Seiten, Masse: 11,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christa E. Seibicke
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257240112
- ISBN-13: 9783257240115
- Erscheinungsdatum: 22.10.2009
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