Ruf des Dschungels
Sie war "das Dschungelkind" - doch seit Sabine Kuegler das Paradies ihrer Kindheit verlassen musste, liess die Sehnsucht sie nicht mehr los. Nun ist sie zurückgekehrt, um herauszufinden: Wo gehöre ich hin? Bei den Fayu, einem vergessenen Stamm in...
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Sie war "das Dschungelkind" - doch seit Sabine Kuegler das Paradies ihrer Kindheit verlassen musste, liess die Sehnsucht sie nicht mehr los. Nun ist sie zurückgekehrt, um herauszufinden: Wo gehöre ich hin? Bei den Fayu, einem vergessenen Stamm in West-Papua, war sie einst glücklich, hat gefühlt und gehandelt wie eine Eingeborene. Mit vielen der Freunde von einst feiert sie nun ein ergreifendes Wiedersehen. Doch der magische Ort von damals hat sich verändert. Als erwachsene Frau kann Sabine Kuegler die Augen nicht davor verschliessen, was in West-Papua geschieht: Das abgeschiedene Leben der Fayu ist bedroht. Menschen verschwinden, Menschen sterben. Und Sabine Kuegler erkennt: Sie muss das Kind in sich zurücklassen, um das Land und die Menschen zu schützen, die ihr so viel gegeben haben.
Ruf des Dschungels von Sabine Kuegler
LESEPROBE
Ich möchte Sie mit auf die Reise nehmen, auf eine Reisedurch die Zeit, auf eine Reise, die mitten in die Herzen derjenigen führt,deren Schreie ungehört verhallen.
Es war Ende Oktober 2005. Ich sass im Zug. Neben mir auf derSitzbank standen ein grosser Alukoffer und ein gelber Rucksack. Müde starrte ichaus dem Fenster. Es war noch immer dunkel, die aufgehende Sonne liess sich nichtmal erahnen.
Ich war auf dem Weg von München nach Frankfurt, zumFlughafen.
Eigentlich hätte ich vor Freude ausser mir sein sollen,aufgeregt und gespannt, doch mein Herz war schwer. Ich spürte, wie eineschleichende Angst von mir Besitz ergriff. Was, wenn ihnen etwas passiert,während ich weg bin? Was, wenn sie mich schrecklich vermissen und die ganzeZeit weinen? Ichschloss die Augen. Vor mir sah ich die Gesichter meiner Kinder, von denen ichmich gerade verabschiedet hatte. Am liebsten wäre ich am nächsten Bahnhof ausdem Zug gesprungen und umgehend zu ihnen zurückgekehrt.
Energisch verbannte ich die besorgten Gedanken aus meinemKopf. Ich verliess sie ja nicht für immer; in genau einem Monat würde ich meineKinder wieder in die Arme schliessen können. Ausserdem waren sie bestensaufgehoben, bei Menschen, die sie liebten. Ich musste mich jetzt auf daskonzentrieren, was vor mir lag. Nicht umsonst hatte ich gut fünfzehn Jahre langgekämpft, um endlich an dem Punkt zu sein, an dem ich heute war.
Um auf andere Gedanken zu kommen, holte ich die Zeitschriftaus dem Rucksack, die ich in München am Bahnhof noch schnell gekauft hatte. Ichbegann die glänzenden Seiten durchzublättern - perfekte Models, farbenfroheMode, Werbung für die neuesten Cremes, die in vier Wochen deutlich wenigerFalten versprachen. Dann blieb mein Blick hängen - an einem Artikel über meinletztes Buch, Dschungelkind. Mein Gesicht sprang mich geradezu vom Buchumschlag an.
Ich starrte darauf und fühlte mich mit einem Mal seltsamentfremdet von der jungen Frau auf dem Foto. Mir fiel die Reaktion meinerMutter ein, als ich ihr am Telefon erzählte, dass mein Buch auf derBestsellerliste stehe. »Oh wie schön, Sabine «, antwortete sie beiläufig undfuhr dann fort: »Weisst du, was der Arzt heute zu mir gesagt hat?«
Die Erinnerung an diese Situation brachte ein Lächeln aufmein Gesicht. Natürlich wusste ich, dass meine Eltern stolz auf mich waren,doch wie sagte Mama mal so schön? Ihr sei es wichtiger, dass ich privatglücklich bin, das bedeute mehr als beruflicher Erfolg, und sei der noch sogross. Und überhaupt, nach all den Jahren, die sie im Dschungel verbracht hatte- was mochte ihr da schon eine Bestsellerliste sagen?
Meine Gedanken wanderten nach West-Papua zurück, zu meinerZeit bei den Fayu.
Ich habe meine Kindheit nie als ungewöhnlich empfunden,schliesslich kannte ich nichts anderes. Erst die Reaktionen auf mein Buch habenmir gezeigt, wie einzigartig meine Kindheit gewesen sein muss. Immer wiederwerde ich gefragt, ob ich es meinen Eltern verüble, dass ich ihretwegen in derWildnis aufgewachsen bin. Warum aber sollte ich diese aufregende undwunderschöne Phase meines Lebens bedauern?
Natürlich war es für mich nicht leicht, mich nach einerKindheit im Dschungel in der westlichen Welt zurechtzufinden.
Es hatte mehr als zehn Jahre gedauert, mich in dieserfremden, sonderbaren Kultur zurechtzufinden - an sie gewöhnt habe ich michimmer noch nicht. Das, was ich in meinem
bisherigen Leben tatsächlich bedaure, ist, dass ich nichtzurück nach Hause zu meinem Stamm gegangen bin, als ich mit der Schule fertigwar. Wann immer ich dies jedoch meiner Mutter gegenüber erwähne, erinnert siemich daran, dass man erst am Ende seines Lebens anfangen sollte, dies oderjenes zu bedauern. »Schliesslich weisst du nie, was dich alles noch erwartet undwelche Aufgaben du noch zu erfüllen hast.«
Als ob ich irgendetwas wahrhaft Bedeutendes tun könnte, dachte ich mir, ich habe ja nochnicht mal mein eigenes Leben im Griff. Das einzig wirklich Gute, was ich bisher zustande gebrachthatte, waren meine Kinder.
Ich beobachtete, wie sich die Sonne allmählich hervorwagte,wie sich die ersten gelben Strahlen ihren Weg durch den dichten Morgennebelbahnten. Ein herrlicher Anblick, aber noch war es ziemlich kalt. Ich schauderteund zog meine Jacke fester um mich. Die Augen fielen mir zu, und der Schlafergriff von meinem Körper Besitz.
Wenige Stunden später erreichte ich mein Ziel, denFrankfurter Flughafen. Ich nahm meinen Rucksack, hievte den Koffer vom Sitzneben mir, stieg aus dem Zug und machte mich auf den Weg in die Abflughalle. Daich sehr früh dran war, waren die Check-in-Schalter für meinen Flug noch nichtgeöffnet.
Also stand ich herum und wartete. Ich beobachtete dieMenschenmassen, die sich an mir vorbeischoben, hektisch, ungeduldig, ständig inBewegung. Selbst nach all den Jahren, die ich nun schon in Europa lebe, habeich mich nicht an diese Geschäftigkeit und diese Eile gewöhnen können. Wiedermusste ich an meine Mutter denken und fragte mich, wie sie das damals mit unsdrei Kindern bewältigt hat. Zuerst von Nepal nach Deutschland, und zwei Jahrespäter dann nach West-Papua. Immer wenn wir darüber sprechen, betont sie, wiewohlerzogen wir waren - ganz im Gegensatz zu meinen eigenen Kindern. Ich musstelächeln. Ja, meine vier sind in der Tat wild, aber sie sind wunderbare Kinder,die mein Leben mit so viel Freude und Fröhlichkeit füllen.
Ich holte mein Handy hervor und tippte die erstenSMS-Abschiedsgrüsse an ein paar Freunde. Endlich wurde mein Flug aufgerufen, undich reihte mich in die Schlange am Check-in ein.
Nach dem Start lehnte ich mich in meinem Sitz zurück undschloss die Augen. Der Flug würde voraussichtlich elf Stunden dauern.
In Bangkok legten wir einen zweistündigen Zwischenstopp zumAuftanken ein, und die Passagiere verliessen die Maschine, um sich die müdenBeine zu vertreten. Dabei fiel mir ein junger Chinese auf, der mich schon seiteiner Weile beobachtete.
Ich fragte mich, wie er wohl aufgewachsen war. Ehertraditionsbewusst oder modern?
Andere Menschen und ihre Geschichte haben mich schon immerfasziniert, ein jeder mit seiner individuellen Vergangenheit, Persönlichkeit,Erziehung und Kultur. Ein Buch über meine eigene Kindheit und Jugend zuschreiben war befreiend für mich, weil ich mich dadurch von aussen betrachtenkonnte. Manchmal vor dem Einschlafen denke ich an die vielen Menschen, die meinBuch gelesen haben und nun wissen, wie hart ich darum gekämpft habe, in der mirfremden westlichen Welt Fuss zu fassen. Durch Dschungelkind habe ich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, wie sehr die Fayu mein Denken geprägt haben. Sie haben mich alseine der ihren aufgezogen und mich auf das Leben in der Wildnis vorbereitet,auf das Überleben in einer Welt, in der die Natur die Regeln bestimmt und nichtdie moderne Technik.
Den Einfluss dieser Erziehung auf mein Leben spüre ich bisheute.
Wieder zurück an Bord, setzten wir unsere lange Reise nachBrunei und anschliessend Bali fort, wo ein weiterer Zwischenstopp von mehrerenStunden geplant war. Bei der Landung sah ich aus dem Fenster und betrachteteden kristallblauen Ozean, die endlos langen Strände, wo sich ein Hotel ansnächste reihte. In mir wuchs langsam die Aufregung.
Als ich die Maschine in Bali verliess, umfing mich die heisseLuft wie eine tosende Welle. Wie wunderbar die Hitze sich anfühlte. Tief atmeteich den süssen Duft der Tropen ein. Wie sehr hatte ich genau das vermisst, dieseWärme, diesen herrlichen Geruch.
Im Taxi auf dem Weg zum Hotel betrachtete ich dievorbeiziehende Landschaft und wunderte mich über die leeren Strassen,Restaurants und Geschäfte. Auf Englisch fragte ich den Fahrer, warum die ganzeStadt wie ausgestorben wirkte. Er erklärte mir, dass der Tourismus seit demBombenanschlag auf eine Diskothek abrupt nachgelassen hatte. Vor allem dieAustralier und Japaner mieden das einst so beliebte Urlaubsziel.
Angekommen im Hotel, sprang ich schnell unter die Dusche undversuchte, die wenigen Stunden bis zum Weiterflug zu nutzen, um ein bisschen zuschlafen.
Um ein Uhr nachts stand ich wieder am Flughafen. Ich warmüde und schlecht gelaunt. Ausserdem hatte ich Durst, und nach einer längerenerfolglosen Suchaktion stellte ich genervt fest, dass sämtliche Läden bereitsgeschlossen waren. Wieder zurück am Schalter, musterte ich die anderenwartenden Passagiere. Bis auf einen stammten sie alle aus Indonesien oderWest-Papua. Die meisten wirkten gelassen, während sie auf einen alten,dröhnenden Fernseher starrten, in dem irgendeine Show lief.
Endlich durften wir an Bord, und ich liess mich erleichtertauf meinen Platz sinken. Nach wenigen Minuten fiel ich in einen tiefen Schlafund wachte erst wieder auf, als der Pilot zur Landung ansetzte. Ich blickte ausdem Fenster, in der Hoffnung, etwas wiederzuerkennen, aber ich sah nichts alsWolken vor mir. Mein Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, als dieMaschine die Wolkendecke durchbrach. Was ich nun sah, verwirrte mich völlig.Nichts, aber auch gar nichts wirkte vertraut. Das hatte ich nun wahrlich nichterwartet.
Wo zum Teufel war ich hier? Sollten wir nicht in Jayapuralanden?
Als die Stewardess an meiner Sitzreihe vorbeiging, erklärte siemir, dass wir zunächst in Timika landen würden, einer Stadt im Süden vonWest-Papua, und dass wir in etwa einer Stunde nach Jayapura weiterflögen. Ichnickte nur stumm und schaute erneut aus dem Fenster.
Da blieb mein Blick unvermittelt an etwas hängen.Eigenartig.
Was war das unter mir? Es sah aus wie ein riesiger Fluss,ungemein breit, der sich auf seinem Weg aus den Bergen ins Meer durch dieLandschaft schlängelte. Doch das da unten konnte beim besten Willen kein Flusssein. Es hatte die Farbe von hellgrauem, glänzendem Lehm. Das Wasser darüberwirkte glasklar, und was das Absonderlichste überhaupt war: Ich erkannte nichteinen Baum, kein Grün, nicht einmal einen Grasstreifen, der in dieser Zonewuchs. Es sah aus wie Brachland. Ich konnte den Blick während der Landung nichtvon diesem seltsamen Phänomen abwenden und fragte mich, was mit diesem StückNatur nur passiert sein konnte.
Mit etwa einer Stunde Verspätung ging es zurück an Bord, undder letzte Teil meiner Reise begann. Was erwartete mich wohl in den kommendenWochen? Würde ich alles wiedererkennen, oder hatte sich die Welt, die mireinmal so vertraut war, im Laufe der Zeit völlig verändert? Und inwieweit hatteich mich selbst verändert?
Beim Landeanflug auf Jayapura hielt ich den Atem an. Dann sahich sie, meine geliebten Hügel, deren helle, grasbewachsene Kuppen nun in Sichtkamen, und gleich dahinter das traumhaft schöne dunkelblaue Meer, das sich biszum Horizont erstreckte. Mein Atem ging schneller, ich vergass die Welt um michherum und hörte auch nicht, als über Lautsprecher die bevorstehende Landungangekündigt wurde.
Wie lange hatte ich von genau diesem Augenblick geträumt!
Wie hart hatte ich dafür gekämpft, jetzt hier zu sitzen, mitBlick auf diese vertraute Landschaft!
Ein Ruck durchfuhr mich, als die Maschine auf der Landebahnaufsetzte, als die Bremsen das Flugzeug zum Stehen brachten. Völlig versunkenstarrte ich aus dem Fenster. Allmählich erkannte ich die einzelnen Gebäude amRande der Piste wieder. Ja, es waren ein paar neue dabei. Aber dort drüben, zumeiner Linken, stand noch immer der Hangar, wo ich als Kind so oft gespielthatte. Dort hatten die kleinen Flugzeuge gestanden, mit denen wir nach DanauBira geflogen waren, der Dschungelbasis, wo wir anfangs lebten. Und jetzt sah icheine dieser Propellermaschinen, die, weiss und hellblau, in der Sonneschimmerte. Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden, alles war wie damals -angefangen von dem Berg, auf dem man ein Flugzeugwrack aus dem ZweitenWeltkrieg gefunden hatte, über die Grashügel, die vertrauten Bäume und dieHolzhäuser bis hin zu den Menschen! Das Herz schlug mir bis zum Halse, als ichdie Papua sah. Wie schön sie waren mit ihrer dunklen, schimmernden Haut, demschwarzen, lockigen Haar, den grossen dunklen Augen und charakteristischenNasen. Auch wenn ich es gar nicht wollte, ich musste sie einfach anstarren undhätte am liebsten gar nicht mehr aufhören mögen.
Jemand schob mich den Gang zwischen den Sitzreihen entlang,und ich setzte mechanisch einen Fuss vor den anderen, bis ich den Ausgang derMaschine erreicht hatte. Endlich!
Mein erster Schritt nach draussen. Ein heisser Windstosserfasste mich, eine Wolke von Düften, so aufregend, so heimatlich.
Langsam ging ich die Gangway hinunter, Stufe für Stufe, undbetrat nach mehr als fünfzehn Jahren erstmals wieder vertrauten Boden.
Ich lief los. Und mit jedem Schritt veränderte ich mich. Mitjedem einzelnen Schritt fiel eine Last von mir ab, mit jedem Schritt liess icheinen anderen Schmerz hinter mir, eine andere Angst. Je näher ich meinem Zielkam, desto leichter fühlte ich mich. Ich hob den Kopf, straffte den Rücken,und auf einmal spürte ich, wie mein Herz zu fliegen begann. Jede Zelle inmeinem Körper erwachte zu neuem Leben, Wärme durchfloss mich, und als ich inden klaren blauen Himmel hinaufsah, hatte ich nur einen Gedanken: Ich binwieder zu Hause!
© Droemer/Knaur Verlag
- Autor: Sabine Kuegler
- 2007, 9. Aufl., 384 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Angela Troni
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426779722
- ISBN-13: 9783426779729
- Erscheinungsdatum: 01.10.2007
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