Sternschanze
Roman
Ein Babyphon, eine unpassende Kostümierung und extrem ungünstige Umstände haben aus Nicola Lubitz über Nacht eine Frau ohne Mann, ohne Geld und ohne nennenswertes Selbstbewusstsein gemacht Sie kippt aus ihrem Luxusleben, fragt sich, wie man neu anfangen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sternschanze “
Ein Babyphon, eine unpassende Kostümierung und extrem ungünstige Umstände haben aus Nicola Lubitz über Nacht eine Frau ohne Mann, ohne Geld und ohne nennenswertes Selbstbewusstsein gemacht Sie kippt aus ihrem Luxusleben, fragt sich, wie man neu anfangen könnte und macht sich erstmal auf Wohnungssuche.
Klappentext zu „Sternschanze “
«Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, kannst du nur gewinnen!»Das ist keine Krise. Das ist eine Katastrophe!
Bis eben war ich noch wohlhabend, verheiratet und gut frisiert. Und jetzt? Mein Leben ist nicht mehr wiederzuerkennen.
Zurück auf Los. Neuanfang mit dreiundvierzig. Nichts, was ich mir schon immer erträumt habe. Mein Mann will die Scheidung, meinen Liebhaber möchte ich behalten, und meinen Friseur kann ich mir nicht mehr leisten.
In diesem Moment sitze ich in einem sehr preiswerten Motel mit Raufasertapete und schlechter Aussicht und frage mich: War mein Betrug wirklich unverzeihlich? Was will ich retten - meine Ehe, meine Affäre oder mich? Brauche ich Hummer und eine professionelle Fusspflege zu meinem Glück? Und: Wer könnte ich werden, jetzt, wo ich niemand mehr bin?
Ildikó von Kürthy ist Journalistin und Kolumnistin bei der BRIGITTE. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen im Hamburg. Ihre Romane wurden mehr als sechs Millionen Mal gekauft und in 21 Sprachen übersetzt. Zuletzt schrieb sie mit «Unter dem Herzen» ihr erstes Sachbuch, das auf Platz 1 der Bestsellerliste landete.
Es ist noch nicht Mitternacht, aber mein Leben ist bereits jetzt nicht mehr das, was es mal war.
Am Neujahrsmorgen erkennt sie sich selbst nicht mehr wieder. Aufgrund extrem ungünstiger Umstände, die mit einem Babyphon und einer unpassenden Kostümierung zu tun haben, ist aus ihr in der Silvesternacht eine Frau ohne Mann, ohne Geld, ohne Wohnung und ohne nennenswertes Selbstbewusstsein geworden.
Zurück auf Los. Neuanfang mit dreiundvierzig. Auch nichts, was man sich schon immer erträumt hat.
Sie kippt aus ihrem Luxusleben, verlässt das Penthouse mit zwei Taschen, landet in einem Motel mit Raufasertapete und fragt sich: "Wer könnte ich werden, jetzt, wo ich niemand mehr bin?"
Sie reisst alte Wunden auf, findet neue Freunde und eine neue Wohnung im Hamburger Stadtteil Sternschanze. Befristeter Mietvertrag. Rettung auf Zeit. Sie nimmt endlich endgültige Abschiede, verliert die Hoffnung und weint an einem leeren Grab. Sie erlebt die Tücken von digitalem Sex und bemerkt, dass sie zum erfolgreichen Seitensprung letztlich den Liebhaber genauso dringend braucht wie den Ehemann. Zwischendurch pflückt sie Pusteblumen, weil sie sich für frisch verliebt und siebzehn hält, versucht eine Hochzeit zu verhindern, überlegt, was man zur eigenen Scheidung anziehen soll, und findet zu der Überzeugung: "Ich habe schon viele Fehler in meinem Leben gemacht - und es waren nicht immer die schlechtesten."
Am Neujahrsmorgen erkennt sie sich selbst nicht mehr wieder. Aufgrund extrem ungünstiger Umstände, die mit einem Babyphon und einer unpassenden Kostümierung zu tun haben, ist aus ihr in der Silvesternacht eine Frau ohne Mann, ohne Geld, ohne Wohnung und ohne nennenswertes Selbstbewusstsein geworden.
Zurück auf Los. Neuanfang mit dreiundvierzig. Auch nichts, was man sich schon immer erträumt hat.
Sie kippt aus ihrem Luxusleben, verlässt das Penthouse mit zwei Taschen, landet in einem Motel mit Raufasertapete und fragt sich: "Wer könnte ich werden, jetzt, wo ich niemand mehr bin?"
Sie reisst alte Wunden auf, findet neue Freunde und eine neue Wohnung im Hamburger Stadtteil Sternschanze. Befristeter Mietvertrag. Rettung auf Zeit. Sie nimmt endlich endgültige Abschiede, verliert die Hoffnung und weint an einem leeren Grab. Sie erlebt die Tücken von digitalem Sex und bemerkt, dass sie zum erfolgreichen Seitensprung letztlich den Liebhaber genauso dringend braucht wie den Ehemann. Zwischendurch pflückt sie Pusteblumen, weil sie sich für frisch verliebt und siebzehn hält, versucht eine Hochzeit zu verhindern, überlegt, was man zur eigenen Scheidung anziehen soll, und findet zu der Überzeugung: "Ich habe schon viele Fehler in meinem Leben gemacht - und es waren nicht immer die schlechtesten."
Lese-Probe zu „Sternschanze “
Sternschaze von Ildikó von Kürhy... mehr
Es ist noch nicht Mitternacht, aber mein Leben ist bereits jetzt nicht mehr das, was es mal war.
Silvester.
Eigentlich ein völlig überschätztes Datum, das noch nie meine Hoffnungen erfüllt hat. Seit ich nichts mehr erwarte, ist es etwas besser geworden. Wobei ich finde, von Silvester nichts zu erwarten, verlangt eine resignierte Klugheit, auf die man nicht wirklich stolz sein kann. Das ist, wie von der Liebe keine Ewigkeit und von Diäten keine Wunder mehr zu erhoffen. Vernünftig. Durch Erfahrungen, Freundinnen und eselsohrige Psycho-Bücher vielfach bestätigt.
Aber schöner war es, als es noch anders und jeder Kuss und jeder Jahreswechsel ein herzschlagendes Versprechen für die Zukunft war und man noch dachte, dass man im Schlaf schlank und am Neujahrsmorgen ein anderer Mensch werden könne. Früher durfte man Beziehungen und Silvesternächte noch mit Erwartungen überfrachten.
Wobei ich, das muss ich sagen, was Silvester angeht, wirklich abnorm schlechte Erfahrungen machen musste und schon mit sechs Jahren traumatisiert wurde, als ein schwererziehbarer Nachbarsjunge einen Kanonenschlag in der Kapuze meines Anoraks zündete. Ich blieb zwar unverletzt und konnte rechtzeitig mit Bier gelöscht werden, aber von da an stand ich den Feierlichkeiten zur Jahreswende mit gemischten Gefühlen gegenüber. Und Bier mag ich auch nicht.
Silvester war mir nie geheuer. Zu Recht, wie sich an den dreiundvierzig Silvestern meines Lebens Jahr für Jahrherausgestellt hat. Insgesamt bin ich dreimal um kurz nach zwölf verlassen worden - zweimal hatte sich die Sache allerdings bis kurz vor eins wieder eingerenkt. Ich musste realistisch geschätzte siebenundzwanzig Fondues und Raclettes essen, was ich beides noch nie mochte, aber niemals offen kommuniziert habe, um die Chance auf eine Einladung nicht gen null zu dezimieren. Streit gab es bisher nur ein einziges Mal nicht, nämlich als ich 2007wegen einer Magen-Darm-Grippe kurzfristig alleine zu Hause bleiben musste. Das habe ich als mein schönstes Silvester in Erinnerung. Jetzt mal abgesehen von denen, als ich noch nicht bis Mitternacht aufbleiben durfte.
Und genau das wünsche ich mir jetzt auch: Schlaf! Wäre ich doch bloß um neun ins Bett gegangen! Hätte ich doch bloß meinem Instinkt vertraut, der völlig degeneriert ist, heute jedoch laut Alarm geschlagen hatte, als ich in mein Kostüm stieg, die langen künstlichen Wimpern aufklebte, mein Gesicht bemalte und mit einem für mich eigentlich untypischen störrischen Stolz das Badezimmer verließ, um mich zu meinem Mann und in die Höhle des Löwen zu begeben.
Ich ahnte, dass irgendwas schiefgehen würde. Aber ich ahnte nicht, dass ich in dem Moment, als ich die Villa Stern betrat, unwissentlich ein verhängnisvolles Schicksal aktivierte, einer zeitgesteuerten Bombe gleich, die zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten später detonieren und mein Leben und all das, was ich glaubte zu sein, zerstören sollte.
Dieses Silvester wird garantiert unvergesslich sein. Es wird fortan ein Davor und ein Danach geben. Jetzt beginnt das Jahr, von dem ich in Zukunft als dem Jahr sprechen werde, in dem ich noch mal von vorne anfangen musste.
Bei null, um genau zu sein.
Das habe ich nicht gewollt.
Am 31. Dezember um 19 Uhr 10,
verkleidet im Penthouse: «Ich liebe lieber sehr als häufig.»
«Nicki!»
Es klopft an der Tür. Übrigens an der einzigen Tür in unserer Wohnung. Ich weiß nicht, wann Wände und Zimmer, so wie man sie früher kannte, aus der Mode gekommen sind. Die Zeiten, in denen Räume Funktionen hatten, die für jedermann nachvollziehbar durch eine Tür voneinander getrennt wurden, sind jedenfalls vorbei. Zumindest in den Penthouses und Villen Hamburgs, in denen ich seit zwei Jahren verkehren darf. Oder muss. Je nach tagesaktuellem Stand meines Selbstbewusstseins und meines Body-Mass- Indexes. Zwei Werte, die wie siamesische Zwillinge zusammengewachsen sind und sich ein Herz teilen, von dem Tag an, an dem mein Mann führender Finanz- und Steuerberater des größten Hamburger Reeders wurde.
Wenig später zogen wir um. Aus einer Dreizimmerwohnung mit fünfundneunzig Quadratmetern und fünf Türen in eine Einzimmerwohnung mit zweihundertachtzig Quadratmetern und einer Tür. Bei uns geht die offene Küche in das offene Esszimmer über, das wiederum in das offene Wohnzimmer mit angegliedertem offenem Arbeitsbereich mündet. Von dort führt eine Wendeltreppe, die betrunken und mit hochhackigen Schuhen eine echte Herausforderung darstellt, auf die Galerie mit dem offenen Schlafzimmer, an das sich ein selbstverständlich offenes Ankleidezimmer anschließt, das dreimal so groß ist wie das Kinderzimmer im Haus meiner Eltern.
«Nicki! Ich fahr dann schon mal los. Bitte sei unbedingt um zehn nach acht da.»
Wenn Hermann Stern, Gründer, Eigner und Namensgeber der Hamburger Reederei Stern, zu sich nach Hause einlädt, erwartet er von seinen Gästen, dass sie zehn bis zwanzig Minuten zu spät kommen. «Wer ein paar Minuten zu spät kommt, zeigt, dass er gesehen werden und einen großen Auftritt haben will» ist die Meinung des alten Stern. «Das zeugt von Ehrgeiz und Respekt für den Gastgeber. Wer dagegen eine halbe Stunde zu spät kommt, hat keine Termindisziplin oder ist ein Blender ohne Gespür für Stil. Und wer pünktlich ist, ist ein Langweiler.»
Bei Menschen, die zur Familie oder zum Personal gehören, geht Stern davon aus, dass sie zehn Minuten früher eintreffen, während sein Finanz- und Steuerberater eine halbe Stunde vor allen anderen da sein muss. Keine Ahnung, warum. Irgendwas gibt es bei diesen reichen Leuten ja immer zu besprechen, zu unterschreiben, oder ein herumliegendes Aktienpaket muss eilig verkauft werden. Mir soll es recht sein. So kann ich mich ungestört für meinen großen Auftritt um exakt zehn nach acht fertig machen.
Als Ehefrau eines höherrangigen Angestellten würde ich, so haben Oliver und ich nach längerer Diskussion beschlossen, mit einer Verspätung von exakt zehn Minuten nichts falschmachen.
«Keine Sorge. Ich werde pünktlich sein.»
Ich höre, wie Oliver die Treppe runtergeht. Auf halbem Weg hält er kurz inne. Ich stelle mir vor, wie er vor dem Spiegel stehen bleibt und verlegen die Krawatte und den Sitz seines Anzuges überprüft. Er mag es nicht, sich im Spiegel zu sehen. Er findet es eitel und unmännlich, und er hasst es, wenn man ihn dabei beobachtet. Im Grunde ist Oliver der Ansicht, dass ein echter Mann völlig ohne sein eigenes Spiegelbild auskommen sollte.
Dafür habe ich ihn mal geliebt. Das weiß ich noch.
Es ist eigenartig und bedauerlich, dass Gefühle im Lauf der Zeit verblassen wie Polaroids im Schuhkarton. Irgendwann fühlt man die Liebe nichtmehr, sondern kann sich nur noch daran erinnern, dass man sie mal gefühlt hat. Und im schlechtesten Fall versteht man nicht einmal mehr, warum.
Ich habe nicht oft geliebt. Das verträgt sich nicht mit meinem Hang zum großen Gefühl. Ich liebe lieber sehr als häufig, und ich hatte nie Interesse an kurzen Beziehungen, zu nichts und niemandem.
Ich tue nichts ohne viel Gefühl. Nicht mal Spaghetti essen.
Meine beste Freundin Birgit - die westfälische Aussprache ihres Namens ist wichtig, ein träges Langziehen der ersten Silbe in Richtung alkoholhaltiges Hefegetränk: «Biergit » - kenne ich, seit wir mit drei Jahren Nachbarskinder wurden. Kein Mensch versteht mich besser. Das ist nicht immer angenehm, denn verstanden zu werden, heißt auch, dass man weder dem anderen noch sich selbst besonders viel vormachen kann.
Und es kann so herrlich sein, sich ungestört etwas vorzumachen! Manchmal will man nicht hören, dass man dabei ist, einen altbekannten Fehler zu wiederholen, dass man sich gerade absolut professionell und ergiebig reinsteigert in Glück und Kummer, Eifersucht, Hass und Selbstunter- oder -überschätzung.
Deswegen hatte es mich tatsächlich Überwindung gekostet, Birgit von dem Gefühls-Tsunami zu erzählen, der mich herumwirbelte. Gerade noch ist das Meer völlig unbewegt, und Sekunden später befindest du dich in einem atemberaubenden Sturm und kannst als überrumpelter Tourist nur hoffen, dass nachher nicht alles in Trümmern liegt.
Birgit nahm meine Emotionskatastrophe mit ihrer typischen provozierenden Unaufgeregtheit hin und sagte kaltblütig: «Warte sechs Monate. Erst dann bist du wieder zurechnungsfähig. Vorher triffst du keine Entscheidung. Verstanden?»
Zwei Monate sind vergangen.
Der Ausnahmezustand nicht.
Heute bleibt Oliver länger als gewöhnlich vor dem Spiegel stehen.
Ich kann mir vorstellen, wie er sich unwillig betrachtet. Er ist nervös. Verständlich. Die erste Silvestereinladung bei seinem Chef zu Hause. Ich bin auch nervös. Ich war noch nie in der Villa Stern, und ich war seit ewigen Zeiten nichtmehr auf einer Mottoparty.
Hermann Stern lädt zur festlichen Silvester-Gala in die Villa Stern.
Kostüm obligatorisch.
Thema: «Die Stars unserer Kindheit»
Beginn: 20 Uhr
Um verbindliche Zu- oder Absage wird bis zum
1. November gebeten.
So hatte es in der Einladung auf schwerem elfenbeinfarbenem Papier geheißen. Auf dem Umschlag stand: «An Oliver Lubitz und Begleitung».
Auch wenn ich den Ton etwas ruppig und die Bezeichnung Begleitung einen Hauch degradierend fand - schließlich bin ich seit sieben Jahren Frau Lubitz, ganz offiziell mit Ring und Stammbucheintrag -, so brach doch augenblicklich die Karnevalistin in mir in schier unbeherrschbare Begeisterung aus.
Ich habe wunderbare Erinnerungen an Mottopartys!
Wie ich betrunken als mopsiges Hawaii-Mädchen in den Karpfenteich der Familie Lücke in Münster-Roxel fiel. Wie ich mit Anfang zwanzig, damals noch als knackige Möhre, von einem Elvis Presley befingert wurde. Und als Hippie-Mädchen mit blonder Langhaarperücke und zwei Paar Socken im BH an einem Abend so viele Verehrer um mich scharte wie vorher in zwei Jahrzehnten nicht.
Anschließend hatte ich einen Wechsel der Haarfarbe und der Körbchengröße in Erwägung gezogen, bis Birgit mich darauf aufmerksam machte, dass keiner der Männer, denen ich an diesem Abend gefallen hatte, mir gefiel.
Ich war so mit meiner Wirkung beschäftigt gewesen, dass die, auf die ich wirkte, gänzlich nebensächlich wurden.
Ein bei Frauen im Übrigen weitverbreitetes Phänomen: Hauptsache gut gefunden werden statt jemanden gut finden. Völlig dämlich. So wird das nichts mit der Emanzipation, ganz klar.
Birgit bin ich bis heute dankbar. Nicht auszudenken, wenn ich aus Versehen einen Typen geheiratet hätte, der auf blonde Haare und große Brüste steht. So eine Frau bin ich nun mal nicht - selbst nicht mit blonden Haaren und großen Brüsten.
Ich glaube, ich erschließe mich auf den zweiten Blick. Eventuell auch erst auf den dritten oder vierten, je nachdem wie verblendet mein Gegenüber durch konventionelle Schönheitsideale ist.
Ich bin beispielsweise nicht das, was man gemeinhin als zierlich bezeichnet. Mit etwas Wohlwollen könnte man meinen Figurtypus sportlich nennen, zumindest wenn ich Sport machen würde.
Ich bin etwas zu groß und habe etwas zu breite Schultern, um schutzbedürftig zu wirken, was ich aber eigentlich bin. Ich sehe belastbar aus und patent und wohl genährt. Wie eine westfälische Pferdeart, deren Name mir jetzt nicht einfällt, die sich aber dadurch auszeichnet, dass sie draußen überwintern kann.
Sommersprossen auf meiner Nase und meinen Unterarmen verleihen mir stets etwas Gesundes und Fröhliches, sodass ich schon von der ersten Beziehung an meine jeweiligen Partner sehr darum bitten musste, bei einer Erkältung eine heiße Zitrone gemacht zu bekommen und bei Kummer in den Arm genommen zu werden.
Oft sehe ich besser aus, als es mir geht, und stärker, als ich bin. Ich werde auf der Straße ständig nach dem Weg gefragt oder ob ich Geld wechseln könne oder eine gute Reinigung in der Nähe kennen würde. Ich sehe so aus, als könnte ich gut kochen und als wüsste ich von jedem Flecken, wie man ihn am besten rauskriegt.
Nie käme jemand auf die Idee, mir zuliebe das Fenster zu schließen, mir galant sein Sakko über die Schultern zu legen, ein Sitzkissen unter den Hintern zu schieben oder meine Hände zwischen seinen zu reiben. Ich bin einfach zu gut durchblutet.
Deswegen habe ich leider eine sehr anziehende Wirkung auf schlimmste Versagertypen, die sich bei mir anlehnen wollen. Was in der Vergangenheit nicht selten dazu geführt hat, dass wir prompt beide umfielen.
So gesehen bin ich eine Produktenttäuschung. Von innen schmal, von außen nicht. Von außen standfest, von innen verzagt. Ich halte nicht, was mein Aussehen verspricht.
Der Erste, der sich davon nicht enttäuschen ließ, war Oliver. Der blieb einfach und liebte mich weiter. Selbst als ihm klarwurde, dass ich immer kalte Füße habe, Kuchen nur mit Unterstützung von Backmischungen zubereiten kann und oft noch die einzige Zutat vergesse, die man selbsttätig hinzugeben muss, Eier beispielsweise.
Das werde ich Oliver nicht vergessen.
Egal, was passiert. Egal, wie das hier ausgeht.
Muss es ausgehen?
Ja, wahrscheinlich. So was geht immer aus. Und meistens nicht gut.
So, ich muss los. Ich schaue noch mal in den Spiegel.
Silvester kann beginnen, ich bin bereit.
Ich finde, ich sehe großartig aus.
Und der Taxifahrer findet das auch. Er lächelt anerkennend, als ich einsteige.
«In die Elbchaussee bitte, Villa Stern. Ein Moment, die Hausnummer müsste auf der Einladung stehen.»
«Lassen Sie mal stecken, Villa Stern ist bekannt», sagt der Mann, und einen Moment lang bin ich stolz und von mir selbst beeindruckt, dass ich den Silvesterabend bei Leuten verbringe, die keine Hausnummer brauchen.
«Hätte ich nicht gedacht, dass die da solche Partys feiern.» Der Fahrer dreht den Rückspiegel so, dass er mich sehen kann. Mein Outfit scheint ihn wirklich zu begeistern. Absolut verständlich, wenn man mich fragt.
«Die Sterns sind auch nur ganz normale Menschen wie Sie und ich», höre ich mich sagen und frage mich, wer diesen unfassbaren Blödsinn eigentlich glauben soll. Der Taxifahrer tut es jedenfalls nicht.
«So normal wie Sie vielleicht, so normal wie ich bestimmt nicht», sagt er und dreht den Rückspiegel wieder in die alte Position. Genauso gut hätte er eine Panzerglasscheibe zwischen uns hochfahren lassen können.
Ich bin so beschämt, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Jetzt bloß nicht weinen! Die falschen Wimpern und das ausgeklügelte Make-up mit den aufeinander aufbauenden Schichten verzeihen keinen Schweiß und keine Tränen. Ich schaue blinzelnd in meinen Schoß.
Was soll ich tun? Gegen die imaginäre Panzerglasscheibe trommeln und theatralisch rufen: «Das stimmt nicht! Ich bin nicht reich, ich tu nur so. Bis vor zwei Jahren wusste ich noch sehr genau, was ein Liter Milch kostet. Okay, in meinem Schrank hängt ein Kleid, das zweitausend Euro gekostet hat. Aber wenn ich es trage, habe ich Angst, dass ich entführt werde, weil die Entführer Lösegeld für das Kleid erpressen wollen. Ich komme vom Dorf, und der einzige Schminktipp, den mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben hat, lautet: ‹Du kannst Lippenstift auch als Rouge benutzen. ›Hallo, lieber Taxifahrer, bitte glauben Sie mir, meine Zieladresse passt nicht zu mir. Ich bin ganz anders!»?
Ich schweige selbstverständlich und schicke eine SMS an den einzigen Menschen, von dem ich dieser Tage den Eindruck habe, dass er weiß, wie ich wirklich bin oder wie ich war oder wie auch immer.
«Bin auf dem Weg. Ob ich das durchhalte: der alte Stern, seine hauchdünne Tochter, Blick auf die Elbe und Hummer ohne Ende? Ich gehöre da nicht hin. Und das wissen die. Das riechen die. Du fehlst mir!!!»
Die Antwort kommt innerhalb von Sekunden:
«Du riechst phantastisch! Und natürlich gehörst du da nicht hin. Zum Glück! Halt durch. Ich esse Pizza statt Hummer und schaue in den Fernseher statt auf die Elbe. Du fehlst mir auch.»
Ich lösche die Nachricht sofort. So viel habe ich gelernt in den letzten zwei Monaten: keine Nostalgie, keine Spuren, bloß nichts aufbewahren.
Ich halte das Handy noch ein paar Sekunden in der Hand wie einen kraftspendenden Talisman - und denke, dass ich manchmal selbst nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin.
Pünktlich um 20 Uhr 10
«Frau Nicola Lubitz.»
Ich werde angekündigt wie bei Hofe, und als ich den fußballplatzgroßen Salon der Sterns betrete, wird mir blitzartig klar: Das wird mit Sicherheit kein angenehmer Abend für mich!
Wenn du in Hamburg auf einer Mottoparty eingeladen bist, tust du gut daran, vorher das Folgende zu bedenken:
Diese Menschen haben keine Ahnung von Karneval, lustigen Kostümen und Mut zur Hässlichkeit.
Was ich sehe, trifft mich wie ein Schlag. Und was die sehen, trifft sie auch wie ein Schlag. Das kann ich den Gesichtern deutlich entnehmen.
«Die Stars unserer Kindheit» sind ausschließlich Cinderellas, Sissis, Anna Kareninas und Audrey Hepburns. Frauen in kostbaren Abendroben, mit tiefen Ausschnitten, in denen echter Schmuck und falsche Brüste aufeinandertreffen.
Die Männer sehen im schlechtesten Fall aus wie Pan Tau, meist jedoch wie der große Gatsby, John F. Kennedy oder ein Kriegsheld der Royal Navy in Ausgehuniform.
Man muss es ganz klar sagen: Als Biene Maja bin ich hier deplatziert!
So würdevoll, wie es mir meine gelb-schwarz gestreiften Lack-Plateau-Pumps erlauben, durchschreite ich den Salon. Um mich herum verstummt die Konversation. Ich fühle mich wie in einer Zeitlupe gefangen. Und beginne zu schwitzen unter meinem puscheligen Plüsch-Einteiler mit angenähten Flügeln und integrierter Fühler-Kapuze.
Ich habe Oliver entdeckt. Er steht mit dem Rücken zu mir und sagt etwas in Lavinias Ohr.
Lavinia, die falsche Natter! Ich habe die Tochter des Hauses bei meiner Kostümwahl als Einzige zu Rate gezogen, und sie hat mir versichert, dass ich mit meiner Wahl goldrichtig läge. Sie selbst würde noch schwanken zwischen Wilma Feuerstein und Klementine, der Ariel-Waschfrau in weißer Latzhose und rot-weiß karierter Bluse. Ihr Vater würde voraussichtlich als Pu der Bär gehen.
Ich muss hier und jetzt einsehen, dass ich in eine üble Falle gelockt worden bin. Hermann Stern ist kein Geringerer als Julius Cäsar, und Lavinia verkörpert eine Mischung aus Kleopatra und Prinzessin Lillifee.
Die Hand meines Mannes liegt auf Lavinias nackten Schultern. Ihr Rückenausschnitt zieht sich hinunter bis zum Steißbein. Einen Büstenhalter braucht Madame selbstverständlich nicht. Der Büstenhalter der Hamburger Gesellschaft heißt Dr. Roland Zielinsky und macht in seiner Privatklinik am Neuen Wall bis zu zwölf Brustvergrößerungen am Tag. Außerdem hat er sich auf die Wiederherstellung von Jungfernhäutchen spezialisiert. Väter aus dem arabischen Raum zahlen angeblich jeden Preis, wenn es darum geht, ihren sündigen Töchtern vor der Hochzeitsnacht die Unschuld zurückzugeben.
Lavinia stößt ein perlendes Lachen aus. Oliver muss irgendwas Lustiges gesagt haben, oder, was ich für wahrscheinlicher halte, Lavinia möchte ihm das Gefühl geben, er habe etwas Lustiges gesagt. Diese Frau ist eine Meisterin darin, jedem beliebigen Trottel - und mit Trottel meine ich ausdrücklich nicht meinen Mann - vorzugaukeln, er sei etwas Außergewöhnliches.
Sie gurrt und schnurrt und reißt die braunen Augen voller Bewunderung auf, allerdings nur, solange sie Interesse an dem Spiel oder dem Mann hat. Ich durfte schon Zeugin werden, wie sie Typen abservierte, denen sie vortags noch zu Füßen gelegen hatte.
Mich betrachtet Lavinia als kurioses Accessoire, als ulkiges Anhängsel eines Mannes, der plötzlich für ihre Familie wichtig geworden ist.
Wenn ihr gerade der Sinn danach steht, tut sie so, als sei sie die Vorsitzende der Hilfe-für-Nicki-Charity. Dann schickt sie mir Adressen von guten Friseuren, zuverlässigen Caterern und neuen Clubs, in denen sie mich auf die Gästeliste setzen lässt.
Offiziell ist Lavinia zweiunddreißig, aber Oliver kennt sämtliche Geburtsurkunden der Familie Stern und hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten, dass sie bereits siebenunddreißig ist und ihr Vorname nicht Lavinia, sondern Petra lautet, nach der früh verstorbenen Mutter des alten Stern.
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.
Es ist noch nicht Mitternacht, aber mein Leben ist bereits jetzt nicht mehr das, was es mal war.
Silvester.
Eigentlich ein völlig überschätztes Datum, das noch nie meine Hoffnungen erfüllt hat. Seit ich nichts mehr erwarte, ist es etwas besser geworden. Wobei ich finde, von Silvester nichts zu erwarten, verlangt eine resignierte Klugheit, auf die man nicht wirklich stolz sein kann. Das ist, wie von der Liebe keine Ewigkeit und von Diäten keine Wunder mehr zu erhoffen. Vernünftig. Durch Erfahrungen, Freundinnen und eselsohrige Psycho-Bücher vielfach bestätigt.
Aber schöner war es, als es noch anders und jeder Kuss und jeder Jahreswechsel ein herzschlagendes Versprechen für die Zukunft war und man noch dachte, dass man im Schlaf schlank und am Neujahrsmorgen ein anderer Mensch werden könne. Früher durfte man Beziehungen und Silvesternächte noch mit Erwartungen überfrachten.
Wobei ich, das muss ich sagen, was Silvester angeht, wirklich abnorm schlechte Erfahrungen machen musste und schon mit sechs Jahren traumatisiert wurde, als ein schwererziehbarer Nachbarsjunge einen Kanonenschlag in der Kapuze meines Anoraks zündete. Ich blieb zwar unverletzt und konnte rechtzeitig mit Bier gelöscht werden, aber von da an stand ich den Feierlichkeiten zur Jahreswende mit gemischten Gefühlen gegenüber. Und Bier mag ich auch nicht.
Silvester war mir nie geheuer. Zu Recht, wie sich an den dreiundvierzig Silvestern meines Lebens Jahr für Jahrherausgestellt hat. Insgesamt bin ich dreimal um kurz nach zwölf verlassen worden - zweimal hatte sich die Sache allerdings bis kurz vor eins wieder eingerenkt. Ich musste realistisch geschätzte siebenundzwanzig Fondues und Raclettes essen, was ich beides noch nie mochte, aber niemals offen kommuniziert habe, um die Chance auf eine Einladung nicht gen null zu dezimieren. Streit gab es bisher nur ein einziges Mal nicht, nämlich als ich 2007wegen einer Magen-Darm-Grippe kurzfristig alleine zu Hause bleiben musste. Das habe ich als mein schönstes Silvester in Erinnerung. Jetzt mal abgesehen von denen, als ich noch nicht bis Mitternacht aufbleiben durfte.
Und genau das wünsche ich mir jetzt auch: Schlaf! Wäre ich doch bloß um neun ins Bett gegangen! Hätte ich doch bloß meinem Instinkt vertraut, der völlig degeneriert ist, heute jedoch laut Alarm geschlagen hatte, als ich in mein Kostüm stieg, die langen künstlichen Wimpern aufklebte, mein Gesicht bemalte und mit einem für mich eigentlich untypischen störrischen Stolz das Badezimmer verließ, um mich zu meinem Mann und in die Höhle des Löwen zu begeben.
Ich ahnte, dass irgendwas schiefgehen würde. Aber ich ahnte nicht, dass ich in dem Moment, als ich die Villa Stern betrat, unwissentlich ein verhängnisvolles Schicksal aktivierte, einer zeitgesteuerten Bombe gleich, die zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten später detonieren und mein Leben und all das, was ich glaubte zu sein, zerstören sollte.
Dieses Silvester wird garantiert unvergesslich sein. Es wird fortan ein Davor und ein Danach geben. Jetzt beginnt das Jahr, von dem ich in Zukunft als dem Jahr sprechen werde, in dem ich noch mal von vorne anfangen musste.
Bei null, um genau zu sein.
Das habe ich nicht gewollt.
Am 31. Dezember um 19 Uhr 10,
verkleidet im Penthouse: «Ich liebe lieber sehr als häufig.»
«Nicki!»
Es klopft an der Tür. Übrigens an der einzigen Tür in unserer Wohnung. Ich weiß nicht, wann Wände und Zimmer, so wie man sie früher kannte, aus der Mode gekommen sind. Die Zeiten, in denen Räume Funktionen hatten, die für jedermann nachvollziehbar durch eine Tür voneinander getrennt wurden, sind jedenfalls vorbei. Zumindest in den Penthouses und Villen Hamburgs, in denen ich seit zwei Jahren verkehren darf. Oder muss. Je nach tagesaktuellem Stand meines Selbstbewusstseins und meines Body-Mass- Indexes. Zwei Werte, die wie siamesische Zwillinge zusammengewachsen sind und sich ein Herz teilen, von dem Tag an, an dem mein Mann führender Finanz- und Steuerberater des größten Hamburger Reeders wurde.
Wenig später zogen wir um. Aus einer Dreizimmerwohnung mit fünfundneunzig Quadratmetern und fünf Türen in eine Einzimmerwohnung mit zweihundertachtzig Quadratmetern und einer Tür. Bei uns geht die offene Küche in das offene Esszimmer über, das wiederum in das offene Wohnzimmer mit angegliedertem offenem Arbeitsbereich mündet. Von dort führt eine Wendeltreppe, die betrunken und mit hochhackigen Schuhen eine echte Herausforderung darstellt, auf die Galerie mit dem offenen Schlafzimmer, an das sich ein selbstverständlich offenes Ankleidezimmer anschließt, das dreimal so groß ist wie das Kinderzimmer im Haus meiner Eltern.
«Nicki! Ich fahr dann schon mal los. Bitte sei unbedingt um zehn nach acht da.»
Wenn Hermann Stern, Gründer, Eigner und Namensgeber der Hamburger Reederei Stern, zu sich nach Hause einlädt, erwartet er von seinen Gästen, dass sie zehn bis zwanzig Minuten zu spät kommen. «Wer ein paar Minuten zu spät kommt, zeigt, dass er gesehen werden und einen großen Auftritt haben will» ist die Meinung des alten Stern. «Das zeugt von Ehrgeiz und Respekt für den Gastgeber. Wer dagegen eine halbe Stunde zu spät kommt, hat keine Termindisziplin oder ist ein Blender ohne Gespür für Stil. Und wer pünktlich ist, ist ein Langweiler.»
Bei Menschen, die zur Familie oder zum Personal gehören, geht Stern davon aus, dass sie zehn Minuten früher eintreffen, während sein Finanz- und Steuerberater eine halbe Stunde vor allen anderen da sein muss. Keine Ahnung, warum. Irgendwas gibt es bei diesen reichen Leuten ja immer zu besprechen, zu unterschreiben, oder ein herumliegendes Aktienpaket muss eilig verkauft werden. Mir soll es recht sein. So kann ich mich ungestört für meinen großen Auftritt um exakt zehn nach acht fertig machen.
Als Ehefrau eines höherrangigen Angestellten würde ich, so haben Oliver und ich nach längerer Diskussion beschlossen, mit einer Verspätung von exakt zehn Minuten nichts falschmachen.
«Keine Sorge. Ich werde pünktlich sein.»
Ich höre, wie Oliver die Treppe runtergeht. Auf halbem Weg hält er kurz inne. Ich stelle mir vor, wie er vor dem Spiegel stehen bleibt und verlegen die Krawatte und den Sitz seines Anzuges überprüft. Er mag es nicht, sich im Spiegel zu sehen. Er findet es eitel und unmännlich, und er hasst es, wenn man ihn dabei beobachtet. Im Grunde ist Oliver der Ansicht, dass ein echter Mann völlig ohne sein eigenes Spiegelbild auskommen sollte.
Dafür habe ich ihn mal geliebt. Das weiß ich noch.
Es ist eigenartig und bedauerlich, dass Gefühle im Lauf der Zeit verblassen wie Polaroids im Schuhkarton. Irgendwann fühlt man die Liebe nichtmehr, sondern kann sich nur noch daran erinnern, dass man sie mal gefühlt hat. Und im schlechtesten Fall versteht man nicht einmal mehr, warum.
Ich habe nicht oft geliebt. Das verträgt sich nicht mit meinem Hang zum großen Gefühl. Ich liebe lieber sehr als häufig, und ich hatte nie Interesse an kurzen Beziehungen, zu nichts und niemandem.
Ich tue nichts ohne viel Gefühl. Nicht mal Spaghetti essen.
Meine beste Freundin Birgit - die westfälische Aussprache ihres Namens ist wichtig, ein träges Langziehen der ersten Silbe in Richtung alkoholhaltiges Hefegetränk: «Biergit » - kenne ich, seit wir mit drei Jahren Nachbarskinder wurden. Kein Mensch versteht mich besser. Das ist nicht immer angenehm, denn verstanden zu werden, heißt auch, dass man weder dem anderen noch sich selbst besonders viel vormachen kann.
Und es kann so herrlich sein, sich ungestört etwas vorzumachen! Manchmal will man nicht hören, dass man dabei ist, einen altbekannten Fehler zu wiederholen, dass man sich gerade absolut professionell und ergiebig reinsteigert in Glück und Kummer, Eifersucht, Hass und Selbstunter- oder -überschätzung.
Deswegen hatte es mich tatsächlich Überwindung gekostet, Birgit von dem Gefühls-Tsunami zu erzählen, der mich herumwirbelte. Gerade noch ist das Meer völlig unbewegt, und Sekunden später befindest du dich in einem atemberaubenden Sturm und kannst als überrumpelter Tourist nur hoffen, dass nachher nicht alles in Trümmern liegt.
Birgit nahm meine Emotionskatastrophe mit ihrer typischen provozierenden Unaufgeregtheit hin und sagte kaltblütig: «Warte sechs Monate. Erst dann bist du wieder zurechnungsfähig. Vorher triffst du keine Entscheidung. Verstanden?»
Zwei Monate sind vergangen.
Der Ausnahmezustand nicht.
Heute bleibt Oliver länger als gewöhnlich vor dem Spiegel stehen.
Ich kann mir vorstellen, wie er sich unwillig betrachtet. Er ist nervös. Verständlich. Die erste Silvestereinladung bei seinem Chef zu Hause. Ich bin auch nervös. Ich war noch nie in der Villa Stern, und ich war seit ewigen Zeiten nichtmehr auf einer Mottoparty.
Hermann Stern lädt zur festlichen Silvester-Gala in die Villa Stern.
Kostüm obligatorisch.
Thema: «Die Stars unserer Kindheit»
Beginn: 20 Uhr
Um verbindliche Zu- oder Absage wird bis zum
1. November gebeten.
So hatte es in der Einladung auf schwerem elfenbeinfarbenem Papier geheißen. Auf dem Umschlag stand: «An Oliver Lubitz und Begleitung».
Auch wenn ich den Ton etwas ruppig und die Bezeichnung Begleitung einen Hauch degradierend fand - schließlich bin ich seit sieben Jahren Frau Lubitz, ganz offiziell mit Ring und Stammbucheintrag -, so brach doch augenblicklich die Karnevalistin in mir in schier unbeherrschbare Begeisterung aus.
Ich habe wunderbare Erinnerungen an Mottopartys!
Wie ich betrunken als mopsiges Hawaii-Mädchen in den Karpfenteich der Familie Lücke in Münster-Roxel fiel. Wie ich mit Anfang zwanzig, damals noch als knackige Möhre, von einem Elvis Presley befingert wurde. Und als Hippie-Mädchen mit blonder Langhaarperücke und zwei Paar Socken im BH an einem Abend so viele Verehrer um mich scharte wie vorher in zwei Jahrzehnten nicht.
Anschließend hatte ich einen Wechsel der Haarfarbe und der Körbchengröße in Erwägung gezogen, bis Birgit mich darauf aufmerksam machte, dass keiner der Männer, denen ich an diesem Abend gefallen hatte, mir gefiel.
Ich war so mit meiner Wirkung beschäftigt gewesen, dass die, auf die ich wirkte, gänzlich nebensächlich wurden.
Ein bei Frauen im Übrigen weitverbreitetes Phänomen: Hauptsache gut gefunden werden statt jemanden gut finden. Völlig dämlich. So wird das nichts mit der Emanzipation, ganz klar.
Birgit bin ich bis heute dankbar. Nicht auszudenken, wenn ich aus Versehen einen Typen geheiratet hätte, der auf blonde Haare und große Brüste steht. So eine Frau bin ich nun mal nicht - selbst nicht mit blonden Haaren und großen Brüsten.
Ich glaube, ich erschließe mich auf den zweiten Blick. Eventuell auch erst auf den dritten oder vierten, je nachdem wie verblendet mein Gegenüber durch konventionelle Schönheitsideale ist.
Ich bin beispielsweise nicht das, was man gemeinhin als zierlich bezeichnet. Mit etwas Wohlwollen könnte man meinen Figurtypus sportlich nennen, zumindest wenn ich Sport machen würde.
Ich bin etwas zu groß und habe etwas zu breite Schultern, um schutzbedürftig zu wirken, was ich aber eigentlich bin. Ich sehe belastbar aus und patent und wohl genährt. Wie eine westfälische Pferdeart, deren Name mir jetzt nicht einfällt, die sich aber dadurch auszeichnet, dass sie draußen überwintern kann.
Sommersprossen auf meiner Nase und meinen Unterarmen verleihen mir stets etwas Gesundes und Fröhliches, sodass ich schon von der ersten Beziehung an meine jeweiligen Partner sehr darum bitten musste, bei einer Erkältung eine heiße Zitrone gemacht zu bekommen und bei Kummer in den Arm genommen zu werden.
Oft sehe ich besser aus, als es mir geht, und stärker, als ich bin. Ich werde auf der Straße ständig nach dem Weg gefragt oder ob ich Geld wechseln könne oder eine gute Reinigung in der Nähe kennen würde. Ich sehe so aus, als könnte ich gut kochen und als wüsste ich von jedem Flecken, wie man ihn am besten rauskriegt.
Nie käme jemand auf die Idee, mir zuliebe das Fenster zu schließen, mir galant sein Sakko über die Schultern zu legen, ein Sitzkissen unter den Hintern zu schieben oder meine Hände zwischen seinen zu reiben. Ich bin einfach zu gut durchblutet.
Deswegen habe ich leider eine sehr anziehende Wirkung auf schlimmste Versagertypen, die sich bei mir anlehnen wollen. Was in der Vergangenheit nicht selten dazu geführt hat, dass wir prompt beide umfielen.
So gesehen bin ich eine Produktenttäuschung. Von innen schmal, von außen nicht. Von außen standfest, von innen verzagt. Ich halte nicht, was mein Aussehen verspricht.
Der Erste, der sich davon nicht enttäuschen ließ, war Oliver. Der blieb einfach und liebte mich weiter. Selbst als ihm klarwurde, dass ich immer kalte Füße habe, Kuchen nur mit Unterstützung von Backmischungen zubereiten kann und oft noch die einzige Zutat vergesse, die man selbsttätig hinzugeben muss, Eier beispielsweise.
Das werde ich Oliver nicht vergessen.
Egal, was passiert. Egal, wie das hier ausgeht.
Muss es ausgehen?
Ja, wahrscheinlich. So was geht immer aus. Und meistens nicht gut.
So, ich muss los. Ich schaue noch mal in den Spiegel.
Silvester kann beginnen, ich bin bereit.
Ich finde, ich sehe großartig aus.
Und der Taxifahrer findet das auch. Er lächelt anerkennend, als ich einsteige.
«In die Elbchaussee bitte, Villa Stern. Ein Moment, die Hausnummer müsste auf der Einladung stehen.»
«Lassen Sie mal stecken, Villa Stern ist bekannt», sagt der Mann, und einen Moment lang bin ich stolz und von mir selbst beeindruckt, dass ich den Silvesterabend bei Leuten verbringe, die keine Hausnummer brauchen.
«Hätte ich nicht gedacht, dass die da solche Partys feiern.» Der Fahrer dreht den Rückspiegel so, dass er mich sehen kann. Mein Outfit scheint ihn wirklich zu begeistern. Absolut verständlich, wenn man mich fragt.
«Die Sterns sind auch nur ganz normale Menschen wie Sie und ich», höre ich mich sagen und frage mich, wer diesen unfassbaren Blödsinn eigentlich glauben soll. Der Taxifahrer tut es jedenfalls nicht.
«So normal wie Sie vielleicht, so normal wie ich bestimmt nicht», sagt er und dreht den Rückspiegel wieder in die alte Position. Genauso gut hätte er eine Panzerglasscheibe zwischen uns hochfahren lassen können.
Ich bin so beschämt, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Jetzt bloß nicht weinen! Die falschen Wimpern und das ausgeklügelte Make-up mit den aufeinander aufbauenden Schichten verzeihen keinen Schweiß und keine Tränen. Ich schaue blinzelnd in meinen Schoß.
Was soll ich tun? Gegen die imaginäre Panzerglasscheibe trommeln und theatralisch rufen: «Das stimmt nicht! Ich bin nicht reich, ich tu nur so. Bis vor zwei Jahren wusste ich noch sehr genau, was ein Liter Milch kostet. Okay, in meinem Schrank hängt ein Kleid, das zweitausend Euro gekostet hat. Aber wenn ich es trage, habe ich Angst, dass ich entführt werde, weil die Entführer Lösegeld für das Kleid erpressen wollen. Ich komme vom Dorf, und der einzige Schminktipp, den mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben hat, lautet: ‹Du kannst Lippenstift auch als Rouge benutzen. ›Hallo, lieber Taxifahrer, bitte glauben Sie mir, meine Zieladresse passt nicht zu mir. Ich bin ganz anders!»?
Ich schweige selbstverständlich und schicke eine SMS an den einzigen Menschen, von dem ich dieser Tage den Eindruck habe, dass er weiß, wie ich wirklich bin oder wie ich war oder wie auch immer.
«Bin auf dem Weg. Ob ich das durchhalte: der alte Stern, seine hauchdünne Tochter, Blick auf die Elbe und Hummer ohne Ende? Ich gehöre da nicht hin. Und das wissen die. Das riechen die. Du fehlst mir!!!»
Die Antwort kommt innerhalb von Sekunden:
«Du riechst phantastisch! Und natürlich gehörst du da nicht hin. Zum Glück! Halt durch. Ich esse Pizza statt Hummer und schaue in den Fernseher statt auf die Elbe. Du fehlst mir auch.»
Ich lösche die Nachricht sofort. So viel habe ich gelernt in den letzten zwei Monaten: keine Nostalgie, keine Spuren, bloß nichts aufbewahren.
Ich halte das Handy noch ein paar Sekunden in der Hand wie einen kraftspendenden Talisman - und denke, dass ich manchmal selbst nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin.
Pünktlich um 20 Uhr 10
«Frau Nicola Lubitz.»
Ich werde angekündigt wie bei Hofe, und als ich den fußballplatzgroßen Salon der Sterns betrete, wird mir blitzartig klar: Das wird mit Sicherheit kein angenehmer Abend für mich!
Wenn du in Hamburg auf einer Mottoparty eingeladen bist, tust du gut daran, vorher das Folgende zu bedenken:
Diese Menschen haben keine Ahnung von Karneval, lustigen Kostümen und Mut zur Hässlichkeit.
Was ich sehe, trifft mich wie ein Schlag. Und was die sehen, trifft sie auch wie ein Schlag. Das kann ich den Gesichtern deutlich entnehmen.
«Die Stars unserer Kindheit» sind ausschließlich Cinderellas, Sissis, Anna Kareninas und Audrey Hepburns. Frauen in kostbaren Abendroben, mit tiefen Ausschnitten, in denen echter Schmuck und falsche Brüste aufeinandertreffen.
Die Männer sehen im schlechtesten Fall aus wie Pan Tau, meist jedoch wie der große Gatsby, John F. Kennedy oder ein Kriegsheld der Royal Navy in Ausgehuniform.
Man muss es ganz klar sagen: Als Biene Maja bin ich hier deplatziert!
So würdevoll, wie es mir meine gelb-schwarz gestreiften Lack-Plateau-Pumps erlauben, durchschreite ich den Salon. Um mich herum verstummt die Konversation. Ich fühle mich wie in einer Zeitlupe gefangen. Und beginne zu schwitzen unter meinem puscheligen Plüsch-Einteiler mit angenähten Flügeln und integrierter Fühler-Kapuze.
Ich habe Oliver entdeckt. Er steht mit dem Rücken zu mir und sagt etwas in Lavinias Ohr.
Lavinia, die falsche Natter! Ich habe die Tochter des Hauses bei meiner Kostümwahl als Einzige zu Rate gezogen, und sie hat mir versichert, dass ich mit meiner Wahl goldrichtig läge. Sie selbst würde noch schwanken zwischen Wilma Feuerstein und Klementine, der Ariel-Waschfrau in weißer Latzhose und rot-weiß karierter Bluse. Ihr Vater würde voraussichtlich als Pu der Bär gehen.
Ich muss hier und jetzt einsehen, dass ich in eine üble Falle gelockt worden bin. Hermann Stern ist kein Geringerer als Julius Cäsar, und Lavinia verkörpert eine Mischung aus Kleopatra und Prinzessin Lillifee.
Die Hand meines Mannes liegt auf Lavinias nackten Schultern. Ihr Rückenausschnitt zieht sich hinunter bis zum Steißbein. Einen Büstenhalter braucht Madame selbstverständlich nicht. Der Büstenhalter der Hamburger Gesellschaft heißt Dr. Roland Zielinsky und macht in seiner Privatklinik am Neuen Wall bis zu zwölf Brustvergrößerungen am Tag. Außerdem hat er sich auf die Wiederherstellung von Jungfernhäutchen spezialisiert. Väter aus dem arabischen Raum zahlen angeblich jeden Preis, wenn es darum geht, ihren sündigen Töchtern vor der Hochzeitsnacht die Unschuld zurückzugeben.
Lavinia stößt ein perlendes Lachen aus. Oliver muss irgendwas Lustiges gesagt haben, oder, was ich für wahrscheinlicher halte, Lavinia möchte ihm das Gefühl geben, er habe etwas Lustiges gesagt. Diese Frau ist eine Meisterin darin, jedem beliebigen Trottel - und mit Trottel meine ich ausdrücklich nicht meinen Mann - vorzugaukeln, er sei etwas Außergewöhnliches.
Sie gurrt und schnurrt und reißt die braunen Augen voller Bewunderung auf, allerdings nur, solange sie Interesse an dem Spiel oder dem Mann hat. Ich durfte schon Zeugin werden, wie sie Typen abservierte, denen sie vortags noch zu Füßen gelegen hatte.
Mich betrachtet Lavinia als kurioses Accessoire, als ulkiges Anhängsel eines Mannes, der plötzlich für ihre Familie wichtig geworden ist.
Wenn ihr gerade der Sinn danach steht, tut sie so, als sei sie die Vorsitzende der Hilfe-für-Nicki-Charity. Dann schickt sie mir Adressen von guten Friseuren, zuverlässigen Caterern und neuen Clubs, in denen sie mich auf die Gästeliste setzen lässt.
Offiziell ist Lavinia zweiunddreißig, aber Oliver kennt sämtliche Geburtsurkunden der Familie Stern und hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten, dass sie bereits siebenunddreißig ist und ihr Vorname nicht Lavinia, sondern Petra lautet, nach der früh verstorbenen Mutter des alten Stern.
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Autoren-Porträt von Ildikó von Kürthy
Ildikó von Kürthy ist Journalistin und eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre Bücher sind Nummer-1-Bestseller, wurden mehr als sieben Millionen Mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt.Ildikó von Kürthy ist Gastgeberin des Podcasts «Frauenstimmen», sie berichtet auf Facebook und Instagram über Wichtiges und Nichtiges und schreibt einen regelmässigen Newsletter. Neuigkeiten und aktuelle Tourdaten auf: www.ildikovonkuerthy.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Ildikó von Kürthy
- 2014, 2. Aufl., 352 Seiten, 17 farbige Abbildungen, Gebunden, Deutsch
- Illustration:Goppel, Gisela
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 380525055X
- ISBN-13: 9783805250559
- Erscheinungsdatum: 01.04.2014
Rezension zu „Sternschanze “
Ildikó von Kürthy ist die Seelen-Sanitäterin deutscher Frauen. Mit einem Buch von ihr lässt sich jede Problemzone besser ertragen. Stern
Pressezitat
Ildikó von Kürthy ist die Seelen-Sanitäterin deutscher Frauen. Mit einem Buch von ihr lässt sich jede Problemzone besser ertragen. Stern
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